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Titel
Missratene Söhne. Anarchismus und Sprachkritik im Fin de Siècle


Autor(en)
Kosuch, Carolin
Reihe
Schriften des Simon-Dubnow-Instituts 23
Erschienen
Göttingen 2015: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
390 S., 3 Abb.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Prätor, Berlin

Mit Anarchismus und Sprachkritik im Fin de Siècle wendet sich Carolin Kosuch einem interessanten und wenig bearbeiteten Thema zu. Sie tut dies, wie der Haupttitel „Missratene Söhne“ signalisiert, unter der besonderen Zielsetzung, dies auf dem Hintergrund eines für die Zeit nicht untypischen Generationskonflikts zu verstehen. Sie wählt mit Fritz Mauthner, Gustav Landauer und Erich Mühsam drei Protagonisten, die für diesen Konflikt und für den Zusammenhang von Anarchismus und Sprachkritik als prototypisch gelten können, allerdings mit charakteristischen Unterschieden in Akzentsetzung und politischer Haltung. Überdies sind alle drei durch ihre Biografien miteinander verbunden. Um die personalen und thematischen Verschränkungen zur Darstellung zu bringen, bedient sich Kosuch einer Komposition in drei Sätzen.

Im ersten, „Generationskonflikte als biografische Schlüssel zur Rebellion“, wird die Entwicklung der drei Protagonisten und die Herausbildung ihrer widerständigen Haltung vor dem jeweiligen familiären Hintergrund jede für sich seriell zur Darstellung gebracht. Dies geschieht vorwiegend auf der Basis von Primärquellen: Briefen, autobiografischen Texten und Zeugnissen von Nahestehenden. Gemeinsam ist bei aller Verschiedenheit der Hintergrund eines jüdischen Familienlebens mit einem dominierenden, wirtschaftlich erfolgreichen Vater. So bildet dieser Teil auch einen Beitrag zur Geschichte der Emanzipation und Assimilation jüdischer Bürgerlichkeit.

In ähnlicher Weise kann der zweite Teil „Begegnungsengramme“ im Mikrokosmos der Gegenkultur auch als ein Baustein zur Stadtgeschichte Berlins und zur Entstehung einer Gegenkultur betrachtet werden. Beide bilden den Hintergrund des Kennenlernens der drei Autoren und der Herausbildung ihrer geistigen und politischen Positionen. Freies Theater, alternative Zeitschriften, Künstlerkolonien, Kaffeehäuser und Bohème stehen für die Ankunft einer erhofften neuen Zeit, als deren Vorkämpfer sie sich in unterschiedlicher Akzentuierung sahen. Die Verschiedenheit der Protagonisten innerhalb der gemeinsamen Thematik wird von Kosuch mit großer Sorgfalt herausgearbeitet. Mauthner blieb stets in erster Linie Theoretiker und Kritiker, während für Mühsam politische Praxis und bohemehafter Lebensstil zentral waren und auch sein literarisches Schaffen bestimmten. Landauer nahm hier eine Mittelstellung ein und kann auch als Vermittler zwischen dem Sprachkritiker und dem Anarchisten gesehen werden.

Als eine Art Durchführung, um in musikalischer Metaphorik zu bleiben, entwickelt der dritte Teil „Auf der Suche nach der ‚Neuen Welt‘“ den weiteren biografischen und thematischen Zusammenhang der drei Autoren und auch den der zwei großen Themen Sprachkritik und Anarchismus. Als eine Gemeinsamkeit blieb zunächst das Abrücken von der Großstadtkultur, auf die die drei in einer früheren Phase so große Hoffnungen gesetzt hatten. Ihre Utopien übernahmen damit auch einen gewissen Anteil an Kritik an der Moderne und damit an der Welt, die ihre Väter mit aufgebaut haben. Der theoretische Dialog fand nach Kosuch einen Kristallisationspunkt in den Schriften, die Mauthner und Landauer in der von Martin Buber herausgegebenen Reihe „Die Gesellschaft“ veröffentlichten: „Die Sprache“ von Mauthner, und „Die Revolution“, sowie vorher schon „Sprache und Mystik“, von Landauer.

Die Arbeit betont, dass „der Terminus Anarchismus politik-, theorie- und organisatonsgeschichtlich lediglich als eine Sammelbezeichnung zahlreicher Vorstellungen, Vereinigungen oder einzelner sich selbst dieser Kategorie zugehörig fühlender Individuen zu verstehen“ sei (S. 11). Die theoretische Auseinandersetzung mit ihm war bei Landauer am ausgeprägtesten, der sich einem sozialen Anarchismus zuordnete, wie er etwa von Kropotkin vertreten wurde. Gewaltakte waren für ihn mit anarchistischem Geist unvereinbar. Für Mühsam bestand Anarchismus in politischer Praxis und persönlicher Lebensführung, für Mauthner bedeutete er theoretische Infragestellung von unkritischem Glauben und ungerechtfertigter Herrschaft im Kontext von Metaphysik- und Sprachkritik. Auch Landauer zog sich zeitweise von der praktischen anarchistischen Politik zurück und sah seine Aufgabe im Entwurf von Utopien für die er wichtige theoretische Anstöße formulierte.

Die Entwicklung der Zusammenarbeit und Freundschaft zwischen Mauthner und Landauer ist für Kosuch ein wichtiges Thema. In der politischen Praxis entzweite sie der Erste Weltkrieg. Landauer und Mühsam waren überzeugte Pazifisten, Mauthner nahm aufgrund früher kultureller Prägung in Prag eine deutschnationale Position ein, was insbesondere zwischen Landauer und Mauthner zum Streit führte. Trotzdem kamen Freundschaft und Gespräch zwischen den beiden nicht ganz zum Erliegen. Nach Landauers Ermordung im Zusammenhang mit seiner Beteiligung an der Münchner Räterepublik trug Mauthner sich mit dem unrealisierten Plan, ein Buch über den Freund zu verfassen.

Allein aus einer auf die Person konzentrierten biografischen Betrachtung lässt sich kein Urteil über Bedeutung und Wirksamkeit des Werkes dieser Person fällen. Hierfür müsste ebenfalls die Rezeption der veröffentlichten Gedanken untersucht werden. Dementsprechend hält sich Kosuch mit solchen Bewertungen zurück, da sie sich auf keine umfassende Auseinandersetzung mit der Sprachphilosophie Mauthners und ihre philosophiegeschichtliche Bedeutung eingelassen hat. Ihr geht es vor allem um den Zusammenhang von Sprachkritik und Anarchismus. Vermutlich war es eine glückliche Entscheidung, die durch die biografische Intention auch vollauf gerechtfertigt ist. Trotzdem sei darauf hingewiesen, dass hier nach wie vor ein wichtiges Forschungsdesiderat besteht. Trotz gewisser Eigenheiten der Mauthnerschen Sprachkritik muss sie meines Erachtens als wichtiger Schritt hin zum linguistic turn der Philosophie im 20. Jahrhundert betrachtet werden. Es gibt (mindestens) drei gemeinsame bestimmende Merkmale: die Metaphysikkritik, die Unhintergehbarkeit der Sprache für die Erkenntnis und der Übergang von einer mentalistischen zu einer logisch-sprachlichen Grundbegrifflichkeit der Philosophie. Dass dies bis heute kaum gesehen wird, liegt zum einen daran, dass dieser linguistic turn sich in der deutschen Philosophie nicht durchsetzen konnte, sondern nur über die angelsächsische analytische Philosophie wirksam wurde, zum anderen aber daran, dass diese analytische Philosophie wenig Interesse an Geschichte einschließlich ihrer eigenen Vorgeschichte hat. Mauthner hat im Gegensatz dazu, seine eigenen wenig bekannten Vorläufer im 19. Jahrhundert behandelt und sogar herausgegeben („Otto Friedrich Gruppe“).

Kosuch untersucht aus individualbiografischer Perspektive einen wichtigen Knotenpunkt der Widerständigkeit und Utopie zu Beginn des letzten Jahrhunderts, angeknüpft an Anarchismus und Sprachkritik. Sie liefert zugleich einen interessanten Beitrag zur Geschichte jüdischer Bürgerlichkeit und zur Entwicklung der Kritik an der großstädtischen Moderne.

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