T. Ahbe u.a. (Hrsg.): Redefreiheit im Herbst 1989

Cover
Titel
Redefreiheit. Öffentliche Debatten der Bevölkerung im Herbst 1989 – Problemwahrnehmung und Lösungsvorstellungen aus der Mitte der Gesellschaft


Herausgeber
Ahbe, Thomas; Hofmann, Michael; Stiehler, Volker
Erschienen
Anzahl Seiten
751 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Malycha, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

Das Buch gibt einen eindrucksvollen Einblick in die öffentlichen Auseinandersetzungen im Herbst 1989, die als Folge der offen ausgebrochenen Herrschaftskrise der SED in der Stadt Leipzig geführt wurden. Eine Dokumentation über die Ereignisse in der Stadt Leipzig bot sich geradezu an. Hier wurden die öffentlichen Debatten über die Ursachen der Gesellschaftskrise und über Wege zu ihrer Überwindung nach der Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 besonders intensiv geführt. Zudem gilt Leipzig in der historischen Rückschau als Wiege der friedlichen Revolution. Allerdings gab es bislang kaum zeitgenössische Quellen zu jenen öffentlichen Diskussionsforen, die außerhalb des Medieninteresses standen. Dieses Manko wird mit diesem Band behoben, der Tonbandaufnahmen dieser Debatten verschriftlicht.

Der Band dokumentiert elf Veranstaltungen aus dem Oktober und November 1989. Bei diesen handelt es sich nicht vordergründig um die Massendemonstrationen in der Leipziger Innenstadt selbst, sondern um öffentliche Diskussionen im Leipziger Gewandhaus („Gewandhaus-Dialoge), im Kabarett-Keller der „academixer“ (academixer-Keller) und im Leipziger Studentenclub „Moritzbastei“. Auslöser für diese Diskussionsforen war die Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989, die nicht, wie befürchtet, mit massiver Gewalt der Staatsmacht aufgelöst worden war. Zweck der hier dokumentierten öffentlichen Debatten war es, dass auch die folgenden Demonstrationen gewaltfrei bleiben würden. Ergänzt werden diese Dokumente um bislang unbekannte Mitschnitte von „Straßendiskussionen“ zwischen Leipziger Bürgern und Polizisten am 2. Oktober 1989.

Eingeführt wird die Dokumentation von Thomas Ahbe, der die Ereignisse um die Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 akribisch nachzeichnet und in die gesellschaftliche Situation einordnet, in der sich die DDR während der Herrschaftskrise der SED befand. Die Parteispitze hatte das Ringen um die Macht zu diesem Zeitpunkt noch nicht verloren gegeben. Es war noch offen, ob die SED-Führung nicht doch noch versuchen würde, sowohl die sich formierende politische Opposition als auch die Demonstrationen gegen das Machtmonopol der SED gewaltsam aufzulösen. Ahbe verweist daher zu Recht auf das Risiko, das darin bestand, die öffentlichen Diskussionsveranstaltungen in einer machtpolitisch offenen Situation zu organisieren.

Vergleichbare Einführungen gibt es zu den edierten Dokumenten. Diese heben das Anliegen der Organisatoren dieser Diskussionsforen hervor, nämlich die begonnenen Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht in friedlichen Bahnen ablaufen zu lassen. Bei den Diskussionsforen handelte es sich eben nicht um die von teilnehmenden SED-Funktionären gewünschten Dialoge alten Stils. Es handelte sich um öffentlich und kontrovers geführte Auseinandersetzungen über die Verantwortung der bisherigen Machthaber und die Neugestaltung der Machtverhältnisse in der DDR.

Die verschriftlichten, zum Teil unterbrochenen und somit unvollständigen Tonaufzeichnungen zu den öffentlichen Diskussionsveranstaltungen im Studentenklub der Leipziger Karl-Marx-Universität „Moritzbastei“ dokumentieren die Erwartungshaltungen unter Studenten und jungen Intellektuellen in jenen Wochen. Diese Erwartungen waren mehrheitlich auf eine Reform der Gesellschaft unter sozialistischem Vorzeichen gerichtet. Darüber hinaus gab es auf den zwei dokumentierten Veranstaltungen in der „Moritzbastei“ eine breite Palette tagespolitischer Themen und Forderungen: von der Reisefreiheit, der Legalisierung der politischen Opposition bis hin zu Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Dreh- und Angelpunkt war allerdings immer wieder der Protest gegen den selbst angemaßten Führungsanspruch der SED.

Auch bei den vollständig aufgezeichneten öffentlichen Diskussionen in der 250 Sitzplätze umfassenden Keller-Spielstätte des Kabaretts „academixer“, die vom gesamten Ensemble organisiert worden sind, erhielten Forderungen nach politischem Pluralismus und einer entsprechenden Neugestaltung des Wahlsystems lautstarken Beifall. In einer ersten öffentlichen Veranstaltung am 14. Oktober stand die nicht nur in Leipzig stark kritisierte Medienpolitik der DDR auf der Tagesordnung. Es wurde ausgiebig darüber diskutiert, wie politischer Pluralismus unter sozialistischen Gesellschaftsbedingungen gestaltet werden könnte. Neben vielen konträren Auffassungen über das Wesen der Demokratie und deren Gestaltung kann die Wortmeldung einer Rednerin als repräsentativ für die vorherrschende Stimmung während dieser Debatten gelten: „Und man kann das Demokratie nennen oder auch nicht, aber solange eine Partei sich einen Führungsanspruch anmaßt, kann es keine Demokratie geben.“ (S. 117)

Aufschlussreich ist der Umstand, dass während der Debatten bestimmte Themen nur vereinzelt bzw. überhaupt nicht angesprochen wurden. Das betrifft beispielsweise die prekäre Wirtschaftslage und das gescheiterte Experiment der Planwirtschaft. Der Abbruch des „planwirtschaftlichen Experimentes“ wurde nur einmal im „academixer-Keller“ gefordert (S. 138). Ebenso wurden die sozialen Verhältnisse und hier insbesondere der Lebensstandard eher am Rande diskutiert. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass viele Redner dieser Veranstaltungen dem intellektuellen Milieu entstammten. Das wird insbesondere am Beispiel der dokumentierten Stalinismus-Diskussion am 19. November im „academixer-Keller“ deutlich. Während dieser Veranstaltung ging es nicht nur um die wissenschaftliche Aufarbeitung und politische Bewältigung des Stalinismus als Gesellschaftssystem. Es ging auch um den inneren Zustand der Wissenschaft selbst sowie deren politische und ideologische Durchdringung. So diskutierten überwiegend Wissenschaftler über ihr Selbstverständnis und das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik.

Vier Mitschnitte der Veranstaltungsreihe „Dialog am Karl-Marx-Platz“ im Leipziger Gewandhaus füllen einen großen Teil des Bandes. Die öffentlichen Diskussionen, an denen mitunter bis zu 1.500 Menschen teilnahmen, wurden von Gewandhauskapellmeister Kurt Masur geleitet und verhandelten eine Fülle von gesellschaftlichen Problemen und tagespolitischen Themen, die zur Gesellschaftskrise geführt hatten. An der Spitze der Themen standen die katastrophale Situation im Gesundheitswesen, die ideologischen Indoktrinationen in der Schul-, Bildungs- und Kulturpolitik sowie der beklagenswerte Zustand der Infrastruktur der Stadt Leipzig. Im Gewandhaus wurde wiederholt über Perspektiven eines pluralistischen politischen Systems und deren Ausgestaltung in der DDR diskutiert.

Im Unterschied zu den Diskussionsforen in der „Moritzbastei“ und im „academixer-Keller“ kamen im Gewandhaus auch Facharbeiter zu Wort, die ihre Unzufriedenheit über die sich ausbreitende Misswirtschaft in den staatlichen Betrieben zum Ausdruck brachten. Gleichwohl zeigen auch die dokumentierten Debatten im Gewandhaus, dass zumeist Vertreter aus dem bildungsbürgerlichen Milieu das Wort ergriffen und nicht nur Missstände benannten, sondern auch detaillierte Lösungsvorschläge unterbreiteten. Darüber hinaus nutzten Mitglieder des „Neuen Forums“ die Chance, im Gewandhaus öffentlich gesellschaftspolitische Alternativen vorzustellen.

Über die soziale und politische Zugehörigkeit der Diskussionsteilnehmer wären einige weiterführende Informationen hilfreich gewesen. Ebenso hätte eine sozialwissenschaftliche Analyse der dokumentierten Debatten am Ende des Buches eine Einordnung von Vorstellungen jener Bürger erleichtert, die überwiegend nicht dem Milieu der politischen Opposition der 1980er-Jahre entstammten. Stattdessen verweisen Thomas Ahbe und Michael Hofmann in ihrem Essay auf drei Gruppen von Rednerinnen und Rednern, die nur knapp beschrieben werden. Bedauerlicherweise haben die Herausgeber auf wissenschaftliche Kommentare bzw. Anmerkungen verzichtet. Viele Personen, aber auch Sachzusammenhänge lassen sich daher in den insgesamt 1.278 dokumentierten Wortbeiträgen mitunter nur schwer zuordnen.

Für Historiker hat diese Dokumentation nicht nur ihren Wert als eine authentische zeitgenössische Quelle. Mit diesem Band kann einem zeitgeschichtlich interessierten Leser auch gezeigt werden, unter welchen politischen Bedingungen kritisches Denken und bürgerschaftliches Engagement in der DDR entstehen und sich artikulieren konnte. Die verschriftlichen Mitschnitte von Tonbandaufzeichnungen verschiedener im Oktober und November 1989 in Leipzig geführter Debatten führen noch einmal einprägsam vor Augen, wie spannend das Geschehen der Wochen nach dem 9. Oktober 1989 nicht nur in Leipzig, sondern auch an anderen Brennpunkten der friedlichen Revolution gewesen war. In der historischen Rückschau wird aber zugleich deutlich, dass die hier dokumentierten öffentlichen Debatten kaum Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung nehmen konnten. Diese lief eben nicht auf eine mühsame und langwierige Reform des bestehenden, sondern auf eine schnelle Übernahme eines vermeintlich erfolgreichen Gesellschaftssystems westlicher Prägung hinaus. Die Debatten waren jedoch für das Selbstverständnis der damaligen Akteure unheimlich wichtig und prägen deren politisches Grundverständnis bis heute.

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