A. Behr: Diplomatie als Familiengeschäft

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Titel
Diplomatie als Familiengeschäft. Die Casati als spanisch-mailändische Gesandte in Luzern und Chur (1660–1700)


Autor(en)
Andreas, Behr
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
André Holenstein, Universität Bern

1982 erschien Rudolf Bolzerns Basler Dissertation zu den Beziehungen zwischen Spanien-Mailand und der katholischen Eidgenossenschaft zur Zeit des Gesandten Alfonso Casati (1594–1621).1 Sie etablierte sich rasch als Referenzwerk zu den Außenbeziehungen der (katholischen) Eidgenossenschaft. Die Fribourger Dissertation von Andreas Behr aus dem Jahre 2013 tritt thematisch und konzeptionell in Bolzerns Fußstapfen. Sie erweitert bzw. verlängert inhaltlich und zeitlich die Reichweite von Bolzerns Studie und legt eine substantielle, von den Ansätzen einer erneuerten Diplomatiegeschichte inspirierte Analyse der politischen und diplomatischen Verflechtungszusammenhänge zwischen dem Corpus Helveticum – das heißt der 13-örtigen Eidgenossenschaft und der Drei Bünde – auf der einen und dem spanischen Herzogtum Mailand sowie der zusammengesetzten spanischen Monarchie auf der anderen Seite vor.

Zeitlich liegt der Schwerpunkt auf den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts, als die Herrschaftskrise der spanischen Habsburger immer offensichtlicher wurde und die Annexion der spanischen Freigrafschaft Burgund durch Ludwig XIV. von Frankreich (1668/74) die katholischen Orte der Eidgenossenschaft, die sowohl mit Spanien-Mailand als auch mit der französischen Krone verbündet waren, in einen heiklen Loyalitätskonflikt manövrierte und sie letztlich 1674 erstmals zur formellen Erklärung der Neutralität Zuflucht nehmen ließ. Quellengrundlage der Arbeit ist die sehr dichte amtliche Korrespondenz der Gesandten mit dem spanischen Gouverneur in Mailand und in geringerem Ausmaß mit dem Hof in Madrid. Bedauerlicherweise steht die persönliche Korrespondenz der beiden Gesandten aus der Familie Casati, die in jener Zeit im Corpus Helveticum tätig waren, nicht mehr zur Verfügung, da das Familienarchiv der Casati im Mailänder Stadtarchiv im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde.

In seinem ersten empirischen Hauptkapitel holt Behr weiter aus und greift ins frühe 17. Jahrhundert zurück (II. Gesandtschaft als Familiengeschäft: Die Casati, S. 47–204). Dieser Teil ist gerade für den Historiker, der an der Geschichte der frühneuzeitlichen Diplomatie und an der Regierungs- und Verwaltungsstruktur des spanischen Reichs als zusammengesetzter Monarchie interessiert ist, einschlägig. Behr legt dar, wie es der Mailänder Adelsfamilie Casati gelang, die Gesandtschaft bei den eidgenössischen Orten sowie bei den Drei Bünden zu einem erblichen Geschäft zu machen und über mehrere Generationen hinweg eine eigentliche Gesandtendynastie zu bilden, was der Familie die Heiratsfähigkeit und einen entsprechenden Rang in der obersten Schicht des Mailänder Patriziats sicherte. Mit diesem außergewöhnlichen Werdegang außerhalb der klassischen Ämterlaufbahn schufen die Casati nicht nur einen eigentlichen Ausnahmefall innerhalb der spanischen Diplomatie, sondern nutzten auch die Diplomatie als Mittel des sozialen Aufstiegs und „Obenbleibens“ innerhalb der Mailänder Elite. „Die handfesten Vorteile, die Gerolamo, Carlo Emanuele und Francesco Casati im Nominierungsprozess hatten, bestanden in den exzellenten Kenntnissen der komplexen Verhältnisse in der Eidgenossenschaft und den Drei Bünden sowie in der Bereitschaft, die Gesandtschaft als Familiengeschäft zu führen und dadurch die kurzzeitigen finanziellen Bürden zu tragen und die sozialen Entbehrungen auf sich zu nehmen.“ (S. 321)

Die Casati profitierten vom Umstand, dass die spanisch-mailändischen Gesandten bei den XIII Orten und den Drei Bünden zwar vom spanischen Gouverneur in Mailand ernannt, entschädigt und instruiert wurden, dieser aber aufgrund seiner meist kurzen Amtszeit in Mailand auf das Wissen und Beziehungsnetz der Gesandten angewiesen blieb. In diesem Zusammenhang kann Behr wichtige Korrekturen am Bild der „finanziell chronisch unterbezahlten Botschafter“ (S. 105) vornehmen, indem er nachweist, dass nicht so sehr die Grundlöhne der Gesandten in Betracht zu ziehen sind. Die wirtschaftlich-finanzielle Nachhaltigkeit ihrer Tätigkeit hing vielmehr von der Möglichkeit ab, Spesen beim Gouverneur in Mailand und der dortigen Finanzkammer in Rechnung stellen zu können.

Für eine transnational informierte Schweizer Nationalgeschichte wird Behrs Studie künftig besonders wegen ihrer detaillierten Analyse der Netzwerke und Beziehungsgeflechte zwischen den spanisch-mailändischen Gesandten in Luzern und Chur einerseits und deren Klientel in den Machteliten der eidgenössischen Orte und der Drei Bünde ein unverzichtbares Referenzwerk darstellen. Dank der Verteilung von Pensionen, der Übernahme von Patenschaften und der Ausrichtung zahlreicher Bankette betrieben die Casati „eine polypolare Verflechtung“ (S. 200) in den maßgeblichen Kreisen eidgenössischer und bündnerischer Spitzenpolitik. „Mit Geld, mit militärischen Offiziersposten sowie – in geringerem Maß – mit Korn- und Salzlieferungen und mit kirchlichen Pfründen wurden neue Klienten rekrutiert, die in geheimer Mission Informationen beschafften und Vertreter der gegnerischen Partei politisch kaltstellten, Abstimmungen und Wahlen ‚manegierten‘ und die Stimmung für Rekrutierungen positiv beeinflussten. Die Handlungsmöglichkeiten schienen beinahe nur durch die Höhe der einsetzbaren Geldsummen begrenzt.“ (S. 322) Geradezu spektakulär nimmt sich in diesem Zusammenhang der Fall des St. Galler Landhofsmeisters Fidel von Thurn (1629–1719) aus, den Alfonso Casati im Verlauf der 1670er-Jahre erfolgreich aus der französischen Partei herauslöste und zum Doppelagenten im Dienste der spanisch-mailändischen Partei machte. Behrs Beobachtungen zum diplomatischen Agieren der Casati in Luzern und Chur bestätigen zudem die bekannte Tatsache, dass das Corpus Helveticum aufgrund seiner inneren Heterogenität sowie politisch-verfassungsrechtlichen Komplexität bei den Gesandten der auswärtigen Mächte als besonders schwieriges und undankbares Pflaster galt.

Behrs Arbeit überzeugt auch durch die differenzierte Analyse der Grenzen, die der politischen Einflussnahme der spanisch-mailändischen Gesandten im Corpus Helveticum gesetzt waren. Während der konfessionspolitische Charakter der Allianz zwischen Spanien und den katholischen Orten der Eidgenossenschaft erklärt, weshalb die spanisch-mailändischen Gesandten im Kontakt mit der protestantischen Eidgenossenschaft nicht über Annäherungsversuche hinausgelangten und höchstens einzelne Klienten wie den Berner Niklaus von Graffenried zu gewinnen vermochten, eröffneten sich ihnen in den ebenfalls bikonfessionellen Drei Bünden ganz andere Handlungsmöglichkeiten: Spanien-Mailand hatte 1639 mit allen Drei Bünden Frieden geschlossen und verfolgte seitdem das Ziel, in diesem Raum für Ruhe und Frieden zu sorgen und sich den ungehinderten Durchmarsch für seine Truppen zu sichern. Im Unterschied zur Eidgenossenschaft im engeren Sinne trat Spanien-Mailand in den Drei Bünden als ausgleichende Instanz und Mediator in Erscheinung.

Die dieser Besprechung zugrundeliegende Buchfassung gibt die Qualifikationsarbeit nicht vollständig wieder. Wer an der historiographischen Einordnung der Studie in die Forschung und an der theoretisch-konzeptionellen Erörterung der erkenntnisleitenden Begriffe interessiert ist, wird statt des Buches die ursprüngliche Fassung der Arbeit einsehen müssen, die im Repositorium der Kantons- und Universitätsbibliothek Freiburg (Schweiz) hinterlegt ist.2 In der hier besprochenen Buchausgabe findet sich die gewöhnlich der Einleitung von Qualifikationsarbeiten vorbehaltene Diskussion der Quellenlage, der Forschung und der erkenntnisleitenden Konzepte in stark gekürzter Form erst am Schluss (S. 335–348). Deshalb sollte der besonders am konzeptionellen Ansatz der Arbeit interessierte Leser Behrs Hinweis im Vorwort beherzigen und mit der Lektüre beim Schlusskapitel einsetzen. Diese wohl vom Verlag gewünschte Gliederung verleiht dem Schluss des Buches allerdings einen ambivalenten Charakter. Einerseits nimmt der Leser in diesem Postscriptum Ausführungen zur Kontextualisierung der Arbeit zur Kenntnis, die als Teil der ursprünglichen Einleitung konzeptionell auf die analytischen Kapitel einstimmen sollten, nun aber aufgrund ihrer Platzierung am Schluss der Arbeit dem Leser nach der Lektüre der Studie nichts wirklich Neues mehr mitzuteilen haben. Andererseits hat das Schlusskapitel doch noch so viel vom Ankündigungsduktus einer Einleitung bewahrt, dass es sich nicht wirklich zu einer kritischen Verortung der eigenen Ergebnisse in der Forschungsdiskussion durchringt, was umso mehr zu bedauern ist, als Andreas Behr die Auseinandersetzung mit laufenden Forschungskontroversen im Buch an anderer Stelle (S. 250–260: „Korruption, Klientelismus oder Patronage?“) durchaus sucht und leistet.

Diese Bemerkungen tun der Qualität von Behrs Studie jedoch keinen Abbruch. Diese wird fortan für jede Beschäftigung mit der Schweizer Geschichte der Frühen Neuzeit unverzichtbar sein. Sie balanciert das bislang überwiegende Forschungsinteresse an der französischen Diplomatie aus und rückt mit Habsburg-Spanien die andere Großmacht wieder angemessen in den Blick, die die Verhältnisse im Corpus Helveticum maßgeblich bestimmte.

Anmerkungen:
1 Rudolf Bolzern, Spanien, Mailand und die katholische Eidgenossenschaft. Militärische, wirtschaftliche und politische Beziehungen zur Zeit des Gesandten Alfonso Casati (1594–1621), Diss. phil., Luzern 1982.
2 Siehe <http://doc.rero.ch/record/257493?ln=de> (01.06.2016).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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