M. Hedrich: Medizinische Gewalt

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Titel
Medizinische Gewalt. Elektrotherapie, elektrischer Stuhl und psychiatrische "Elektroschocktherapie" in den USA, 1890–1950


Autor(en)
Hedrich, Markus
Reihe
Histoire
Anzahl Seiten
343 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Max Gawlich, Historisches Seminar, Universität Heidelberg

Markus Hedrich beginnt seine unter dem Titel „Medizinische Gewalt“ 2014 veröffentlichte Dissertation mit einem anekdotischen Einstieg, der die in der Serie „OZ“ vorgenommene Gleichsetzung der Elektrokrampftherapie mit der Tötung durch den Elektrischen Stuhl aufnimmt. Hedrich will in eigenen Worten dem „engen Konnex“ (S. 11) nachgehen, den die Serie zwischen den beiden Verwendungsweisen der Elektrizität künstlerisch „erahnt“ (ebd.) habe. Die „diskursiv verfugten Phänomene, [...] die sich wechselseitig durchdringen“ (ebd.), sollen dazu geschichtswissenschaftlich untersucht werden. Er analysiert die Verwendung von Elektrizität in den psychiatrischen Kliniken und den Gefängnissen des Staates New York zwischen 1880 und 1950. Die Untersuchung erfolgt anhand eines heterogenen Quellenbestandes, der aus Zeitungsberichten, Patienten- und Insassenakten, administrativen Unterlagen und den Thomas Edison Papers besteht.

Auf der Grundlage eines in Anlehnung an Michel Foucault konzeptualisierten Begriffs von Dispositiv und einem vierstufigen Medikalisierungsmodell von Peter Conrad, geht Hedrich dem Konnex auf drei Ebenen nach. Er erklärt, dass sich seit 1885 zunächst ein „Elektrisches Dispositiv 1“ (S. 13) bildete, welches die psychiatrische Elektrotherapie war. Daraufhin entwickelte sich ab 1888 ein „Elektrisches Dispositiv 2“ (ebd.), das die Elektroexekution war. Seit den 1890er-Jahren verknüpften sich die elektrischen Dispositive zur „dispositiven ElektroMacht [!]“ (ebd.), welche ab 1940 die Elektrokonvulsionstherapie miteinschloss.

Der Autor untergliedert die Arbeit in vier Untersuchungsabschnitte. Zunächst betrachtet Hedrich die elektrotherapeutischen Bemühungen und Entwürfe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er stellt dabei besonders die Arbeit von George M. Beard und Alphonse Rockwell heraus. Beard wurde als Begründer der Neurasthenie berühmt, womit er die moderne Nervosität als elektrophysiologische Pathologie des Nervengeflechts begriff. Gemeinsam mit Rockwell hatte er Verfahren entwickelt, um die Batterien seiner Patienten elektrotherapeutisch wieder so aufzuladen, dass sie sich dem überreizten Alltag der Moderne entgegen zu stellen vermochten. Hedrich betrachtet die technologische und physiologische Vielfalt dieser Verfahren nur knapp, da sie seiner Interpretation entsprechend als „pönale Elektrizität“ (S. 69) zu begreifen seien.

Die Resultate der Elektrotherapie werden mit Skinners Behaviorismus interpretiert. Hedrich versucht durch Indizien, wie der Anzahl von Batterien in den Inventaren einzelner Kliniken, die Anwendung von Elektrotherapie nachzuweisen und erklärt, dass die räumlich-funktional differenzierten Klinikstrukturen, in denen es bestimmte Behandlungszimmer für die Elektrotherapie gab, die „späteren E[elektro]S[chock]T[herapie]-Units präfigurierten“ (S. 87). Dieses Präfigurieren wird nicht in Beziehung zur fortschreitenden Differenzierung des Krankenhausraums im Zuge der therapeutischen und disziplinären Diversifikation betrachtet.1

Neben diesem ersten elektrotherapeutischen Dispositiv „generierte sich“ (S. 87) „ein zweites elektrisches Dispositiv“ (ebd.) – der elektrische Stuhl – das um die New Yorker Gefängnisse „flottierte“ (ebd.). Der Entwicklung des elektrischen Tötens geht er im vierten Kapitel nach, wobei im Gegensatz zur bisherigen Forschung der Schwerpunkt auf die Mitarbeit von Ärzten gelegt wird. Den medikalisierten Charakter der Todesstrafe stellt der Autor dar, indem er die Anwesenheit von Ärzten in Kommissionen und Gremien auflistet, welche im Rahmen der Todesstrafenreform in den 1880er-Jahren eingesetzt wurden. Eine ausführlichere Darstellung des Anspruchs des ‚Humanen Tötens‘ wäre hilfreich gewesen, um dem Autoren in seiner Argumentation folgen zu können. Neben den elektrischen Praktiken stellt er die strukturelle Ähnlichkeit rassistischer Ausgrenzungsmaßnahmen einerseits und auf eugenischem, erbpathologischem Wissen bestehenden Ausschluss andererseits heraus. Die „Ausgruppierung“ (S. 36) von Wahn und Kriminalität war dementsprechend die grundlegende Praxis von Gefängnis und Anstalt.

Das vorletzte Kapitel widmet sich der Elektrokrampftherapie. Die augenscheinliche Gleichartigkeit psychiatrisch therapeutischer Verwendung von Elektrizität und Tötung im Gefängnis mittels Strom hat dem Autoren zu Folge in der „pönalen Performanz“ (S. 301) der Elektrokrampftherapie ihre volle Ausformung. Der Autor rekapituliert zunächst die Entwicklung der somatischen Therapien, von der Malaria- bis zu Insulinkoma- und Cardiazolkrampftherapie, stellt dagegen allerdings fest, dass die genealogische Herkunft der EKT in der Elektrotherapie liege. Die Therapie in der Psychiatrie diente der Herstellung von Arbeitsfähigkeit und wird in Beziehung gesetzt zur Politik des New Deal und den amerikanischen Kriegsanstrengungen seit 1941.

Im Fazit wird die These der Arbeit, dass der elektrische Stuhl aus der psychiatrischen Elektrotherapie entstanden sei, dieser auf die Elektrotherapie katalysierend zurück gewirkt habe und die EKT als behavioristische Anstaltsstrafe den Zenit der „ElektroMacht [!]“ in den USA markiert habe, wiederholt. Daran anschließend erklärt der Autor, dass die „ElektroMacht als Gegenbeweis der Geschichtsphilosophie Michel Foucaults“ (S. 302) dienen könne, da im Zentrum der pönalen Verwendung von Elektrizität in Psychiatrie und Gefängnis der Schmerz gestanden habe.2 Daran anschließend legt Hedrich im Fazit seine Haltung zur gegenwärtigen Verwendung der Elektrokrampftherapie in der Bundesrepublik und den USA dar und stellt Bezüge zu anderen Behandlungsverfahren wie „Transkranielle Magnetstromstimulation“ her.

Die Verwirrung des Rezensenten angesichts der Ausführungen von Markus Hedrich ist zu einem großen Teil seiner inkonsistenten Verwendung der Konzepte „Diskurs“, „Epistem“ und „Dispositiv“ anzulasten (S. 37–46). Diese Konzepte und Begriffe erscheinen als aktive und passive, kontextuelle und strukturelle Objekte des historischen Handelns und der Untersuchung; hinzu kommt, dass die Studie offenbar das proklamierte „Dispositiv“ im positivistischen Sinne belegen soll. Er versucht durch Indizien eine direkte Beziehung des Psychiaters Frederick Peterson und der Entwicklung des elektrischen Stuhls herzustellen. Den immer wieder aufscheinenden Transfers von Wissen, Technik und Praxis geht er nicht nach. Es gelingt ihm daher nicht, den „dichten Konnex“ (S. 11) darzustellen und historisch zu erklären. Dieselbe Vorgehensweise verfolgt er bei den Beziehungen zwischen Tötung durch Elektrizität, Elektrotherapie und Elektrokrampftherapie, welche offenbar über den von Patienten und hingerichteten Insassen empfundenen Schmerz verbunden seien, was nicht expliziert wird.

Hinzu treten methodische Mängel und ein nur sehr begrenzt rezipierter Forschungsstand.3 Die Patientenakten werden nicht kritisch eingeordnet und die in der Geschichtsschreibung wiederholt vorgenommene Diskussion der Patientenakte als ambivalente Quelle nicht thematisiert.4 Hedrich behauptet hingegen anhand der „Seven Day Notes“ (S. 248) der Ärzte und den „Ward Notes“ (S. 249) des Pflegepersonals das Patientenleben in der psychiatrischen Anstalt „exakt rekonstruieren“ (S. 250) zu können. Die Lektüre der Behandlungsnotizen und Beschreibungen von Patienten durch Ärzte oder Pflegepersonal in den Akten erfolgt aus einer behavioristischen Perspektive, welche den eigentlichen Ablauf der Therapie nach dem Schema „Widerstand > Verzweiflung > Unterwerfung“ (S. 261) interpretiert. Die notierten Äußerungen von Patienten werden rigide in das psychologische Deutungsschema gefügt. Die historische Interpretation der Therapieformen wurde hingegen nicht untersucht, der Autor ordnet stattdessen auch die abwesenden Stellungnahmen von Patienten und Patientinnen als „zur Schau gestellte Gleichgültigkeit“ (S. 274) in sein Erklärungsschema ein. Diese Deutung wird auf der Quellengrundlage von sieben Patientenakten vorgenommen und erfolgt unter Verzicht auf eine kritische Einordnung des Skinner’schen Behaviorismus. Die häufig zur Polemik neigende Sprache der Studie betont leider die mangelnde empirische und analytische Grundlage.

Anmerkungen:
1 Volker Hess, Der wohltemperierte Mensch. Wissenschaft und Alltag des Fiebermessens (1850–1900), Frankfurt am Main 2000, S. 169ff.
2 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1992, S. 14f.
3 Es fehlen beispielsweise die grundlegenden Arbeiten von Joel Braslow, Mental Ills and Bodily Cures. Psychiatric Treatment in the First Half of the Twentieth Century, Medicine and Society 8, Berkeley 1997, der u.a. die von Hedrich als Desiderat markierte Untersuchung der EKT in Kalifornien vornimmt (S. 12); Jack Pressman, Last Resort. Psychosurgery and the Limits of Medicine, New York 1998; Viola Balz, Zwischen Wirkung und Erfahrung – Eine Geschichte der Psychopharmaka. Neuroleptika in der Bundesrepublik Deutschland, 1950–1980, Bielefeld 2010.
4 Guenter B. Risse / John H. Warner, Reconstructing Clinical Activities. Patient Records in Medical History, in: Social Histoy of Medicine 5(2) (1992), S. 183–205, hier S. 203f.