Cover
Titel
Organismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten 1780–1860


Autor(en)
Cheung, Tobias
Anzahl Seiten
348 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Toepfer, Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin

Wie Tobias Cheung im Vorwort seines Buches bemerkt, setzt seine Monografie eine Studie aus dem Jahr 2008 fort, in der es ihm um „Agentenmodelle organischer Ordnung“ in der Zeit von 1600 bis 1800 ging.1 Im Unterschied zur älteren Studie steht jetzt die „Innenwelt-Außenwelt-Problematik“ (S. 9) individueller Organismen im Fokus. Diese untersucht er in der Phase von der Entstehung der Biologie als eigenständiger, sich begrifflich, theoretisch und in ihren experimentellen Praktiken um das Konzept des Organismus herum konstituierender Wissenschaft (um 1800) bis zur Begründung von neuen Ansätzen, in denen mit der Entstehung von Genetik, Evolutionstheorie und Ökologie in der zweiten Jahrhunderthälfte eine individuelle Organismen überschreitende Perspektive dominant wird. In diesem Zeitraum werden nach Cheung im Rahmen einer „Prozesslogik“ die „Wechselwirkungen“ zwischen Organismus und Umwelt zu einem zentralen organisierenden Schema. Diese Wechselwirkungen würden die Grenzen des Organismus (und damit seine Einheit und funktionale Geschlossenheit) sowohl etablieren als auch in Frage stellen. Cheung bezeichnet die Figur des „gegenseitigen In-sich-Hineinragens von Innen- und Außenwelt“ als ein „diskursives Feld“ (S. 13), das verspreche, einen „explanativen Apparat“ zu gewinnen, der für vielfältige Fragen von Bedeutung sei: von der Entstehung von Organismen über die Verhältnisse von Gesundheit und Krankheit, assimilative und perzeptive Operationen, bis hin zu Modellen der Kommunikation und Vergesellschaftung von Organismen.

Cheung gliedert seine Untersuchung nach acht „Schlüsselthemen“: (1) Erregungszustände, (2) Selbsttätige Organismen, (3) Gleichgewichtszustände, (4) Grenzflächen, (5) Prozessschemen organismischer Selbstproduktion, (6) Normalzustände, (7) Existenzbedingungen und äußere Umstände und (8) Milieu und Organismus. Im nach der Einleitung zweiten Kapitel über Erregungszustände setzt sich Cheung mit den medizinischen Lehren William Cullens und dessen Assistenten John Brown aus den 1780er- und 90er-Jahren auseinander. Beide würden Krankheiten ausgehend von einem Prinzip der Erregbarkeit erklären. Während Cullen dabei aber von inneren Regulationsprozessen des Gehirns ausgegangen sei; sei für Brown die Reaktivität lebender Systeme auf äußere Reize entscheidend gewesen. Übereinstimmend führten die Autoren nicht nur Krankheiten, sondern überhaupt alle Aktivitäten von Lebewesen als Reaktionen auf vorhergehende Reize zurück. Etabliert worden sei mit dieser Reduktion des „Lebensprinzips“ auf ein Reiz-Reaktions-Schema ein Denken in Relationen zwischen dem lebendigen Körper und den Dingen seiner Umwelt. Der Mediziner Christoph Hufeland, dessen Lehre sich Cheung im dritten Kapitel über selbsttätige Organismen widmet, habe gegenüber dieser Konzeption die Autonomie lebendiger Systeme betont. Mit seinem Begriff des Organismus als „etwas selbstthätiges, sich selbst bestimmendes“ (S. 43) habe Hufeland die regulierende Instanz der Lebewesen wieder in ihr Körperinneres zurückverlagert. Die Einflüsse der Außenwelt, die auch Hufeland anerkannte, würden keine Veränderungen des Organismus erzwingen, sondern durch dessen Selbsttätigkeit vielmehr reguliert.

An diese Regulationslehre schloss Gottfried Reinhold Treviranus an, um dessen Philosophie der Biologie es im vierten Kapitel geht. Nach Cheung stand im Zentrum von Treviranus’ sechsbändiger Biologie (1802–22) ein „Agentenmodell“, das auf die innere Gleichförmigkeit eines Organismus ausgerichtet gewesen sei. Im Unterschied zu Hufelands Autonomie-Konzeption sei Treviranus’ Gleichförmigkeitsbegriff primär nach Außen gerichtet, im Sinne einer Stabilisierung der inneren Ordnung im Austausch mit der Außenwelt. Eine explizite Thematisierung der Grenzen des Organismus zur Außenwelt findet sich bei Joachim Dietrich Brandis, dessen Überlegungen zur Verzahnung von Innen- und Außenwelt in den Grenzflächen des Organismus Cheung im fünften Kapitel vorstellt. Weniger um die Grenze zur Außenwelt als um die inneren Konstitutionsverhältnisse eines Organismus geht es dagegen in Schellings Prozesslogik organismischer Innen- und Außenwelten, wie das sechste Kapitel überschrieben ist. In seiner „Prozesslogik“, die einen Organismus als sich selbst produzierendes und reproduzierendes Wesen beschreibe, würde Schelling die Aneignung der Außenwelt durch den Organismus und die umgekehrte Wirkung der Außenwelt auf den Organismus in einer einzigen Ordnung der „Prozessualität“ zusammenführen, in der die Differenz von Innen und Außen überhaupt erst etabliert werde.

Diese Prozesslogik lieferte nach Cheungs Auffassung ein konzeptuelles Dach für nachfolgende organische Regulationsmodelle wie die von Friedrich Burdach und Claude Bernard. Burdachs Lehre von „Normen“ und dem Normalzustand des Lebens widmet sich Cheung im siebten Kapitel. Er arbeitet dabei heraus, dass Burdach diese Normen, die von der charakteristischen „Selbstbestimmung“ von Lebewesen ausgehen, sowohl für Typen und Arten von Lebewesen als auch für einzelne Individuen bezogen auf Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand definierte. Im langen achten Kapitel widmet sich Cheung unter dem Titel Der Gebrauch des Lebens den Theorien von Georges Cabanis und Jean-Beaptiste Lamarck zur Veränderung von Organismen unter dem Einfluss des Gebrauchs ihrer Organe. Dem adaptationistischen Denken der beiden Autoren zufolge spielten die Umstände (circonstances) des Lebens eine entscheidende Rolle in ihrer Umformung und Diversifizierung. Die Umwelt (milieu) sei dabei nicht mehr nur als neutraler Raum des Aufenthalts konzipiert, sondern als aktiver Faktor in Transformationsprozessen. Als Mechanismus der Umformung sei dabei eine Wechselwirkung zwischen Innen- und Außenwelt angenommen worden, wobei die Ordnung der Organismen es bedinge, dass sie sich im gewissen Grad den allgemeinen Gesetzen der Natur entziehen könnten.

Im ebenso langen neunten Kapitel geht es Cheung schließlich um das Verhältnis von Milieu und Organismus bei vier Autoren aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Er macht dabei ein für die frühe Biologie grundlegendes „Dispositiv“ aus, in dessen Zentrum der individuelle Organismus als Agent zwischen Innen- und Außenwelten steht. Dieses Dispositiv charakterisiert er durch „vier konvergierende Bewegungen“ (S. 217), nämlich (1) das Verständnis der Ordnungen des Lebens und der Krankheit als prozessual bestimmte und allein gradweise unterschiedene Zustände, (2) die Betonung spezifischer Gleichgewichte für die Innen-Außenwelt-Verhältnisse, (3) das zunehmende Interesse an einer allgemeinen Milieu-Theorie und (4) die Anbindung dieser drei Bewegungen an ein positivistisches Wissensgebäude. Das kurze zehnte und letzte Kapitel der Schlussbetrachtungen fasst die von Cheung beschriebenen Entwicklungen zusammen: Die Agentenmodelle individueller Organismen beruhen nach Cheung auf einer „Prozess-Logik“, in der sich zwei Wechselwirkungsebenen durchdringen würden: „das innere System der Teile und die Innen-Außenweltverhältnisse des ganzen Körpers“ (S. 297). Nach 1860 sei diese Logik der Verschränkung von Innen und Außen auf überindividuelle Einheiten übertragen worden, sei es in der entstehenden Genetik, der Ökologie der Lebensgemeinschaften oder der Evolutionstheorie.

Tobias Cheungs detaillierte Studie schließt eine Lücke in der Forschungsliteratur zur Biologiegeschichte. Denn es sind in letzter Zeit zwar zahlreiche Arbeiten erschienen, die die Vorgeschichte der Biologie im 18. Jahrhundert und ihre Transformation unter dem Einfluss der Evolutionstheorie behandeln, aber nur wenige zu dem von Cheung betrachteten Zeitraum. Auch der gewählte Fokus auf Organismen als zwischen „Innen- und Außenwelten“ vermittelnden „Agenten“ erscheint nach dem Ende der genzentrierten Paradigmen und dem daraus folgenden wachsenden Interesse am Organismusbegriff vielversprechend. Allerdings bezieht Cheung aktuelle Problemhorizonte der Philosophie der Biologie, etwa in Bezug auf Agenten-Theorien oder Debatten zur biologischen Autonomie (nach Erscheinen von Cheungs Buch zusammengefasst von Alvaro Moreno und Matteo Mossio2), kaum in seine Analyse ein. Vielmehr bleibt er Perspektiven und Fragestellungen der von ihm behandelten Autoren verbunden. Aufgrund des nur schwach ausgeprägten theoretischen Zugriffs bleiben Cheungs zentrale Kategorien, wie die des „Agenten“, unscharf. So erscheint es zumindest erläuterungsbedürftig, wenn er die Agenten in einer „Passagenlogik“ aufgehen lassen will, indem „Prozesse selbst zu Wesen, zu Agenten werden“ (S. 16). Interessant wäre es auch, mehr über die allgemeinen Entwicklungstrends zu erfahren, auf die Cheung in der Einleitung verweist, wie etwa auf den Übergang „von einer Substanz-orientierten Expressions- und Qualitätenlogik in Prozess-orientierte Erklärungsstrategien der Wechselwirkungen zwischen Körpern und ihren Kräften“ (S. 15). Wünschenswert wäre dabei auch eine Inbezugsetzung der theoretischen Entwicklungen zur Veränderung der wissenschaftlichen Praktiken, Apparate, sozialen Netzwerke, Institutionalisierungsprozesse etc.

All dies liefert Cheung nicht. Er bleibt in seiner Darstellung sehr nah an der Quellensprache mit vielen Zitaten im Text oder Verweisen auf den genauen Wortlaut des Originals in Fußnoten. Dieses Verfahren vermittelt einen authentischen Eindruck von den begrifflichen Konstellationen und Argumenten der untersuchten Positionen. Es ist aber möglich, Cheungs Vorgehen dafür zu kritisieren, dass es zu seinem Material keine Distanz gewinnt, sondern sich diesem vielmehr mimetisch anschmiegt (Janina Wellmanns Rezension verweist in diese Richtung3). Cheungs Verfahren kann aber im Gegensatz dazu auch gerühmt werden für seinen „enzyklopädischen Wert“, „die Reichhaltigkeit des Quellenmaterials“ und „die Sorgfalt bei der Bearbeitung der Befunde“, wie dies Astrid Schwarz in ihrer Besprechung der eingangs erwähnten älteren Studie Cheungs für h-soz-kult getan hat.4

1 Tobias Cheung, Res vivens. Agentenmodelle organischer Ordnung 1600–1800, Freiburg im Breisgau 2008.
2 Alvaro Moreno / Matteo Mossio, Biological Autonomy. A Philosophical and Theoretical Enquiry, Dordrecht 2015.
3 Janina Wellmann, Rezension zu Tobias Cheung, Organismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten 1780–1860, Bielefeld 2014, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 38 (2015), S. 190–192.
4 Astrid E. Schwarz, Rezension zu: Tobias Cheung: Res vivens. Agentenmodelle organischer Ordnung 1600–1800. Freiburg im Breisgau 2008 , in: H-Soz-Kult, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-12251> (9.5.2016).

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