J. Brunner u.a. (Hrsg.): Recht auf Wahrheit

Cover
Titel
Recht auf Wahrheit. Zur Genese eines neuen Menschenrechts


Herausgeber
Brunner, José; Stahl, Daniel
Reihe
Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert 1
Erschienen
Göttingen 2016: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Werneke, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Am 28. Januar 2015 entschied der Bundesgerichtshof (BGH), dass „ein Kind, das durch eine künstliche heterologe Insemination gezeugt wurde, grundsätzlich von der Reproduktionsklinik Auskunft über die Identität des anonymen Samenspenders verlangen kann“.1 Der BGH urteilte, dass das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung ein höheres Gewicht habe als das Recht des biologischen Vaters auf informationelle Selbstbestimmung.2 Gut ein Jahr später, am 19. April 2016, traf das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einem anderen Fall die Entscheidung, dass das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zwar das Recht auf Identität einschließe, zu dem auch das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung gehöre, dass sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) jedoch nicht ableiten lasse, dass dafür auch eine „isolierte Abstammungsklärung bereitstehen müsste“.3 Geklagt hatte eine Frau, die von ihrem vermeintlich leiblichen Vater einen Vaterschaftstest erzwingen wollte. Beiden Fälle gemein ist der Verweis auf ein (individuelles) Grundrecht auf Wahrheit über die eigene Herkunft. Beide Fälle demonstrieren zudem die heutige semantische und juristische Reichweite eines Menschenrechts auf Wahrheit sowie die Schwierigkeit seiner Gewichtung im Menschenrechtskanon.

Im Kontext der Menschenrechtssprache erscheint ein „Recht auf Wahrheit“ relativ spät. Der unbestimmte Artikel ist hier bewusst gewählt, denn das Subjekt und das Objekt eines Rechts auf Wahrheit sind, wie eingangs gezeigt, vielseitig interpretierbar. Der vorliegende kleine Sammelband „Recht auf Wahrheit. Zur Genese eines neuen Menschenrechts“ erschließt Neuland in der Erforschung dieses Begriffs und will erste Grundlagen zu dessen Historisierung schaffen. Die Publikation ist aus dem Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert der Fritz Thyssen Stiftung hervorgegangen.4 Die Herausgeber José Brunner und Daniel Stahl haben den Band in drei Teile gegliedert: „Historische Wahrheit und Gerechtigkeit“, „Wahrheit als Menschenrecht“ sowie „Debatten und Praktiken“. Brunner und Stahl setzen den Beiträgern des Bandes und sich selbst das Ziel, die verschiedenen Aspekte der Genese eines neuen Menschenrechts zu erörtern und eine erste Annäherung zu wagen (S. 19). Dies ist keine leichte Aufgabe, denn der Forschungsgegenstand ist nur schwer fassbar. Viele Möglichkeiten, das Recht auf Wahrheit zu begreifen, werden von den Autoren zwar eröffnet, aber dann nur kurz angerissen. Darauf ist noch zurückzukommen.

Im einleitenden Text betonen die Herausgeber, dass das Recht auf Wahrheit erst seit den 1970er-Jahren ernsthaft im Zusammenhang der Menschenrechte diskutiert wurde. Dabei zeichneten sich zwei Hauptdeutungen ab: Zum einen ging es um die Pflicht post-autoritärer Staaten, Hilfe und Aufklärung bei der Suche nach Wahrheit über das Schicksal der von den südamerikanischen Militärdiktaturen verschleppten Menschen zu leisten. Die Idee dieses Rechtes erreichte die Vereinten Nationen dementsprechend aus dem globalen Süden. Die zweite Deutung des Menschenrechts auf Wahrheit bezog sich auf die Aufarbeitung von staatlichen Gewaltverbrechen und Menschenrechtsverstößen im Allgemeinen; dies hatte seinen Ursprung stärker in der östlichen Integrationszone des Kalten Krieges bzw. in der dortigen Opposition.

In den Beiträgen zum ersten Schwerpunkt des Bandes verlagert sich die historische Perspektive zunächst auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und auf die Wahrheitssuche „von oben“, ausgeführt von staatlichen Stellen. Annette Weinke blickt auf staatliche Untersuchungskommissionen in Großbritannien vor und während des Ersten Weltkrieges und vergleicht diese mit der Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in den 1970er-Jahren. Besonders ähnlich erscheint dabei die forensisch geprägte Wahrheitserforschung. Die Bryce Commission (1915) und das British Armenia Committee (ab 1913) prüften Plausibilitäten von Kriegsverbrechen ähnlich wie Amnesty International und Ärzte ohne Grenzen in den 1970er-Jahren, jedoch mit unterschiedlicher Motivation. Weinke fragt, inwieweit sich mit der Praxis der Transitional Justice „auch ein Recht auf historische Wahrheit herausgebildet“ habe (S. 24). Im Ergebnis sieht sie einen Trend, dieses als neues Völkergewohnheitsrecht anzuerkennen. Jost Dülffer akzentuiert dagegen die Unterschiede staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen bei der Suche nach Wahrheit. So hatten die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg vor allem die Wiederherstellung ihrer Ehre im Blick, als sie sich der Aufklärung der Vorwürfe über deutsche Kriegsverbrechen annahmen. Der 470 Seiten starke Bericht des Mitarbeiters der Zentralstelle für Völkerrechtsverletzungen, Major Max von Stülpnagel, verdeutliche dies (S. 45). Norbert Frei befasst sich in seinem Beitrag mit der Frage, ob die pädagogisierende Aufklärung der Deutschen und der Welt über Deutschlands Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkrieges durch das International Military Tribunal (IMT) bereits als Teil einer Entwicklung hin zu einem Menschenrecht auf Wahrheit verstanden werden könne. Interessant wird das Tribunal als Erfahrungsgegenstand, wenn es etwa als mögliches Vorbild für eine Aufarbeitung der Apartheid in Südafrika gesehen wird.

Im zweiten Abschnitt des Bandes werden Fallbeispiele aus den 1970er-Jahren vorgestellt, welche derartige Zusammenhänge aufweisen. José Brunner zeigt, wie mittels psychologischer Studien zur Qual der Angehörigen von Verschwundenen ein Bezug zu den Menschenrechten hergestellt wurde. Dabei wurde unter anderem auch auf die Bindungstheorien der Verhaltensforschung aus den 1950er- und 1960er-Jahren zurückgegriffen, um die andauernde psychische Folter zu dokumentieren. Jan Eckel beschreibt dagegen, wie sich die chilenische Zivilgesellschaft organisierte, um Aufklärung über den Verbleib entführter Angehöriger zu erhalten. Auch Amnesty International (AI) erkannte darin ein neues Feld für eigene Recherchen und Anstrengungen, wodurch schließlich in den 1980er-Jahren eine neue Kategorie von Menschenrechtsverletzungen durchgesetzt wurde – „disappearances“ (S. 88). Wahrheit bedeutete im Falle der AI-Aktivisten eine akribische Faktensammlung. Warum Eckel jedoch erst ganz am Ende seines Beitrages die Vielschichtigkeit des Wahrheitsbegriffes in Chile vorstellt, statt diese zum besseren Verständnis für den Leser gleich zu Beginn zu nennen5, erschließt sich dem Rezensenten nicht. Daniel Stahl blickt auf den Versuch einer völkerrechtlichen Normierung für den Aktenzugang, um derlei Verbrechen überhaupt erforschen und aufklären zu können. Dabei macht er zwei Hauptakteure seit den 1990er-Jahren aus: Vertreter von Wahrheitskommissionen sowie Befürworter von Liberalisierungen beim Zugang. Beide Gruppen vertraten dabei unterschiedliche Auffassungen des Wahrheitsbegriffs: Während erstere eher auf Versöhnung aus waren und sich für Amnestien zugunsten der Täter einsetzten, wollten letztere Gerechtigkeit durch Bestrafung der Täter (S. 109).

Im Anschluss liefert der Sammelband Ausschnitte eines Interviews mit Angelika Nussberger, Richterin am EGMR, zum Fall Katyn sowie einen Beitrag (ebenfalls aus juristischer Perspektive) von Ruth Effinowicz und Claus Kress zum diesbezüglichen EGMR-Urteil. Nussberger gibt einen interessanten Einblick in die Arbeit des EGMR. Der Gerichtshof orientiere sich eher an nationalen europäischen Gerichten und alten EGMR-Urteilen als an internationalen Gerichten. Sie berichtet auch von dem Problem, dass jedes nicht vollstreckte Urteil sehr die Autorität des Gerichts schwäche. Im Katyn-Urteil vom September 2013 legte das Gericht beispielsweise fest, dass im Falle eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK (Folterverbot) betroffene Staaten einer Aufklärungspflicht unterliegen. Doch wurde Russland lediglich wegen des Verstoßes gegen Art. 38 EMRK verurteilt, da es sich nicht weiter darum bemüht habe, eine Aufklärung im Katyn-Fall zu unterstützen. Letztlich habe das Gericht nur feststellen, nicht ahnden können (S. 135).

In der letzten Sektion des Bandes erfolgt ein Blick auf „Debatten und Praktiken“ über das Recht auf Wahrheit. In seinem Text zur Verquickung von Traumatheorie und Menschenrechtsdebatten kommt David Becker zu dem Schluss, dass Wahrheit über das Verschwinden von Angehörigen für die Betroffenen nicht das Ende von deren Forderungen nach Gerechtigkeit darstelle. Robert Brier liefert eine ganz andere Perspektive auf Diskurse über das Recht auf Wahrheit: Er zeigt, wie innerhalb der Dissidentenbewegungen in Polen und der Tschechoslowakei der Zusammenhang der Begriffe Wahrheit, Menschenrechte und Nation nur in Verbindung mit dem Begriff Totalitarismus zu verstehen sei (S. 151). Der Gegenbegriff zu „Wahrheit“ war in Anbetracht zögerlicher Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen nicht nur „Verschleierung“, sondern viel deutlicher „Lüge“. Dies legte wohl auch die semantische Grundlage für die politische Instrumentalisierung des Wahrheitsbegriffes in manchen ost(mittel)europäischen Ländern nach 1991.

Zur inhaltlichen und methodischen Ausrichtung des Bandes sind einige kritische Punkte festzuhalten. Erstens wird die Reichweite des Wahrheitsbegriffes im Zusammenhang mit Menschenrechten nicht hinreichend erörtert. Das Verständnis vom Recht auf Wahrheit ist vieldeutig und an viele wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse, aber auch an Prozesse der Politisierung anschlussfähig. Eine deutlichere Eingrenzung des Konzepts durch die Autoren und Herausgeber wäre unabdingbar gewesen. Die Aufklärung von Menschenrechtsverstößen, insbesondere die Aufklärung über die Praxis des „Verschwindenlassens“ von Menschen, bildete offensichtlich den Ausgangspunkt für den Sammelband. Eine Abgrenzung zu anderen Bedeutungen des Rechts auf Wahrheit hätte klarere Ergebnisse hervorgebracht. Zweitens ist es nicht immer nachvollziehbar, in welchem Zusammenhang die staatlichen Untersuchungskommissionen der Zeit vor 1950 mit den Menschenrechten stehen. Man erliegt hier leicht dem Verlangen nach teleologischer Deutung. Zuletzt wird eine entscheidende Frage nicht beantwortet: Wie lässt sich überhaupt erklären, dass es seit den 1970er-Jahren eine verstärkte Hinwendung „von unten“ zum Menschenrecht auf Wahrheit gibt? Ist dies womöglich ein Indiz für die Hilflosigkeit bzw. Ohnmacht anderer Menschenrechtsinstrumente oder auch eine Folge verstärkter medialer Verbreitung der Menschenrechtssprache? Trat an die Stelle des Verurteilens zumindest das Feststellen staatlicher Menschenrechtsverletzungen, in der Hoffnung auf deren öffentliche Anerkennung? Hierzu ist es geboten, weitere Forschungen anzustrengen.

Anmerkungen:
1 Pressemitteilung des BGH: <http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&nr=70043&linked=pm43&linked=pm> (20.05.2016).
2 Urteil des XII. Zivilsenats vom 28.01.2015, XII ZR 201/13, S. 21; vgl. <http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&nr=70419&linked=urt&Blank=1&file=dokument.pdf=1&file=dokument.pdf> (20.05.2016).
3 Pressemitteilung des BVerfG, 19.04.2016, <http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/bvg16-018.html> (20.05. 2016).
4 Vgl. <http://www.fritz-thyssen-stiftung.de/arbeitskreise/arbeitskreis-menschenrechte/> (20.05.2016).
5 Wahrheit als: persönliche Gewissheit; gerichtliche Aufklärung zur Verurteilung der Täter; historische Wahrheit zur Versöhnung (S. 97).