V. Vitti: (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989

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Titel
(Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989. Eine Ethnografie in zwei slowakischen Städten


Autor(en)
Vitti, Vanda
Reihe
Ethnografische Perspektiven auf das östliche Europa 1
Anzahl Seiten
427 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Silke Meyer, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck

Mit ihrer Dissertation, mit der sie am Münchner Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie promoviert wurde, legt Vanda Vitti eine Studie zu jüdischen Lebenswelten in den post-sozialistischen slowakischen Städten Košice und Lučenec vor. Die Struktur der Arbeit orientiert sich am Feldforschungszugang und beginnt mit dem Erkenntnisinteresse und einem eher knapp gehaltenen Forschungsstand zu jüdischem Leben, Postsozialismus und Erinnerungskultur, gefolgt von theoretischen Zugängen zu Erinnerung, Gedächtnis und Identität, Methodik der Feldforschung, dann die quellenkritische Kontextualisierung des jüdischen Lebens zwischen Erinnern und Vergessen, schließlich die individuelle Perspektive von zehn Interviewten. Ethnografisch untersucht Vitti also, „ob und wie persönliche und familiäre Schicksale nach Holocaust und Staatssozialismus in die Gegenwart ‚transformiert‘ und ‚lebbar‘ gemacht werden“ (S. 18). Die biografische Perspektive verschränkt sie mit einer Analyse öffentlicher Ausdrucksformen jüdischen Lebens und deren Transformationen.

Einleitend beschreibt Vitti ihre schwierige Rolle als junge deutsche, nicht-jüdische Forscherin in den Begegnungen mit ihrem Feld in der Slowakei. Sie geht mit der erlebten Ablehnung, den lauten und den stummen Vorwürfen, Schuldgefühlen und Tränen offen um und erreicht so einen höchst reflektierten Umgang mit dem forschenden Selbst. Diese Überlegungen finden mehr Raum im Methodenkapitel, in dem Vitti ihre Feldaufenthalte, Begegnungen mit Experten und Expertinnen aus Archiven und Behörden sowie die Interviews genauer beschreibt. Dabei muss sie sich mit Abgrenzungsmechanismen gegenüber Minderheiten, zum Beispiel Roma, auseinandersetzen und entscheiden, wer „wirklich jüdisch“ (S. 84) ist. Die Autorin löst das Feldforschungsdilemma kenntnisreich durch intensive Reflexion ihrer Rolle, Anleihen bei der Ethnopsychoanalyse und durch Supervision.

Es wirkt fast wie ein distanzierend-selbsttherapeutischer Zug in der Choreografie des Buches, dass auf die Darstellung der schwierigen Gefühlslagen im Feld zwei umfangreiche Kapitel über Geschichte und Gegenwart des jüdischen Lebens und Kulturerbes in den erforschten Städten folgen. Beide Kapitel bieten viel Kontext zum Gemeindeleben, zu Vereinen, städtischen Gedächtnislandschaften und jüdischem Kulturerbe nach 1989. Es ist ein bewegendes Leseerlebnis, quasi an Vittis Seite durch die Städte zu streifen, marode Fassaden und prächtige Synagogen zu besichtigen und an der Wand einer Synagoge die mit Bleistift verfasste herzzerreißende Nachrichten einer Mutter und ihres Sohnes zu entziffern: „Ich bin hier, ich weiß nicht, wohin sie mich bringen. 21.IV.1944. Lily.“ (S. 205) Beide starben in Auschwitz. Im Unterschied zur Zeit des Sozialismus wächst gegenwärtig das Interesse an jüdischem Erbe in der Stadtlandschaft, dies zeigt sich im Tourismus beispielsweise an der Nachfrage nach jüdischen Stadtführungen, zugleich sucht die Gemeinde Lučenec dringend nach Investoren, die den Verfall ihrer neologischen Synagoge aufhalten können.1

Diese Ambivalenz im Umgang mit jüdischem Bewusstsein zeigt sich auch in den über 70 geführten Interviews. Vitti verweist programmatisch auf einen Tagungsband zu neuen jüdischen Identitäten, in dem die Herausgeber konstatieren, dass das Jüdisch-Sein nach dem Sozialismus weniger eine kollektive als vielmehr eine individuelle Frage geworden wäre.2 Aus jüdischen Traditionen würden generationenspezifisch einzelne Aspekte ausgewählt und praktiziert, entsprechend geringer wäre auch das gemeindliche Engagement. Auch Vittis Fallbeispiele sind in drei Generationen aufgeteilt: Die Generation der Holocaust-Überlebenden war von der Emigration sowie vom Antisemitismus der Nachkriegszeit und des sozialistischen Regimes geprägt und führte kein jüdisches Leben (mehr). Ihre Kinder lernten entsprechend kaum jüdisches Gemeindeleben kennen und assoziierten die jüdische Herkunft überwiegend negativ mit dem Trauma des Holocaust. Erst nach 1989 gingen die jüdisch-stämmigen Bewohner/innen von Košice und Lučenec offen mit ihrem familiären Hintergrund um. Gerade weil jüdische Vereine aufgelöst worden waren und Gemeinden kaum noch Mitglieder hatten, gestaltete diese Generation den Umgang mit ihrer jüdischen Identität individuell und eigeninitiativ, zum Beispiel durch kulturelle Veranstaltungen und in sozialen Netzwerken. Insofern wäre der These der neuen und individuellen jüdischen Identität durchaus zuzustimmen. Vitti ist jedoch weit davon entfernt, eine gerade Linie der Transformation zu ziehen oder mit dem Datum 1989 einen plötzlichen Umschwung aufzuzeigen. Vielmehr argumentiert sie eng am Material, dass die Befragten eine Vielzahl von Identitätsstrategien nutzen. Kulturelle Muster stellen dabei Holocaust-Geschichten dar, ob persönlich erlebt oder in der familiären Erinnerung tradiert, aber auch Subversion im Umgang mit dem repressiven sozialistischen Regime.

Vitti interpretiert die Selbst-Erzählungen aus den Interviews als narrative Identitätskonstruktion, in einer dezidiert erzähltheoretisch ausgerichteten Auswertung hätte jedoch noch mehr Potential gelegen. Zwar zieht die Verfasserin in ihrer theoretischen Rahmung narrativer Identitätskonstruktion einschlägige Autor/innen wie Heiner Keupp, Jürgen Straub und Gabriele Rosenthal heran, auch Arbeiten zur kulturwissenschaftlichen Bewusstseinsanalyse, etwa von Albrecht Lehmann, fehlen nicht. Mit einer stringenteren narratologischen Feinanalyse hätten die Musterhaftigkeit der Selbsterzählung und ihre Funktion klarer herausgearbeitet werden können. Wenn Interviewpartner Henry, Vertreter der ersten Generation, sich geistesgegenwärtig weigert, einem ukrainischen Soldaten seine Uhr zu verkaufen und sich so selbst das Leben rettet, dann ist das eine Erfolgsgeschichte, wie Vitti richtig feststellt. Der Grund des Erfolges liegt im Mut des Erzählers, sich Handlungsmacht angesichts des übermächtigen Traumas zu bewahren und sich dem „Sport“ der russischen Soldaten mit den Juden – so Henry (S. 249) – zu widersetzen: mit seiner Weigerung, die Uhr herzugeben, negiert er seine jüdische Identität und bleibt als handelndes Individuum wirkmächtig. Über diesen Erzählinhalt hinaus könnte man mit einer formalen Analyse des Erzählten auch Muster narrativer Agentivierungsstrategien feststellen, zum Beispiel in der Situierung des Wirkzentrums der Handlung oder in der Wahl der Prädikatsformen. Auch die epistemische Modalisierung hätte sich eingängiger untersuchen lassen: die Rückkehr seiner Frau aus dem Konzentrationslager Ravensbrück bezeichnet Henry nämlich als „Glück“ und als „Wunder“ (im Konzentrationslager sind ihr alle Möglichkeiten zur Selbstwirksamkeit genommen worden, S. 250). Weiterhin wären formalsprachliche Mittel der Sinnstiftung, zum Beispiel der Wechsel zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, Strategien der Kohärenzbildung und des Emplotments durchaus näher zu beleuchten gewesen. Damit wäre das Sprechen als soziale Praxis in den Vordergrund gerückt und hätte als solches Selbstpositionierungen und Aushandlungsprozesse jüdischer Identität auch in einem funktional-pragmatischen Verständnis plastischer gemacht.

Die Nachkriegsgeneration wird in ihrem Jüdisch-Sein zum einen durch Schweigen der Eltern über die Familienbiografien und zum anderen durch die repressive Politik des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei verhindert. Folgerichtig bestimmen Erinnerungslücken, Leerstellen und Schweigemuster die Erzählungen, die Interviewpartner/innen erinnern sich nur vereinzelt an jüdische Feiertage oder an religiöse Traditionen. Aufgewachsen im Schatten der Shoah fühlen sich die Interviewpartner/innen ihrer Identität beraubt, empfinden sich als „zwischen den Stühlen“ (S. 293), gar als „schizophren“ (S. 328).

Für die junge Generation der Befragten war die politische Wende von der kommunistischen Diktatur hin zu einer Demokratie auch ein Türöffner dafür, jüdisch sein zu können. Die neuen Möglichkeiten der politischen Teilhabe, Meinungs- und Bewegungsfreiheit bewirken kollektiv eine neue Erinnerungskultur und individuell die Auseinandersetzung mit jüdischen Familienwurzeln (diese Naturmetaphorik verwenden die Interviewpartner/innen selbst). Diese (Wieder-)Annäherung erfolgte behutsam, schrittweise und leise, wie bei Leon, oder offen, selbstverständlich und als soziale Aktivität, wie bei Ella und Lisa. Mit den nach 1989 etablierten kommunikativen Räumen der Erinnerungskultur bietet sich neuer Spielraum für Identitätsarbeit. Vor allem die Jüngeren nutzen uneingeschränkt das, was ihren Eltern und Großeltern gefehlt hat: virtuelle und reale Netzwerke jüdischer Gemeinden. Identitätsarbeit ist Patchwork, bei der Familienbiografien, städtische Kulturerbe-Institutionen und individuelle Präferenzen zusammenkommen. Dominic sucht über den jüdischen Glauben einen Weg zu seinem Vater und isst koscher, aber nicht aus religiösen Gründen, sondern weil es ihm gesundheitlich besser erscheint. Er übt Kritik an den Lebensbedingungen in der post-sozialistischen Slowakei und plant, nach England auszuwandern, weil er dort mehr Geld verdienen kann. In England will er aktiver am jüdischen Gemeindeleben teilnehmen. Wie seine befragten Altersgenossinnen nutzt er sein Jüdisch-Sein als Ressource und Sinnstiftungsperspektive in die Vergangenheit und in die Zukunft.

Die Lebenswelten und Identitätsstrategien der Menschen mit jüdischer Abstammung in den untersuchten Städten sind von zahlreichen Brüchen gekennzeichnet. Die städtischen Gedächtnislandschaften erweisen sich in ihrem Umgang mit immateriellem und materiellem jüdischem Erbe ebenfalls als fragmentiert und konfliktbeladen. Vor diesem Hintergrund ist die generationenspezifische, allmähliche und vorsichtige Annäherung an das Jüdisch-Sein wenig überraschend. Die Lektüre von Vittis vielschichtiger Dissertation ist dennoch erhellend, bereichernd, überraschend und berührend, vor allem, weil sich die Autorin als einfühlsame Ethnografin erweist, die die Tonarten in den Interviews, paraverbale Äußerungen, Stottern und Schweigen zu interpretieren weiß. Sie arbeitet die Heterogenität der Argumentationen heraus und führt die Antworten ihrer Gesprächspartner/innen zu analytischen Mustern zusammen. So gelingt ihr ein gut strukturiertes und facettenreiches Bild jüdischer Lebenswelten und Identitätspolitik in der Gegenwart.

Anmerkungen:
1 Auf den Internetseiten des Jewish Heritage Europe wurde am 08.07.2015 eine Restauration durch EU-Gelder in Höhe von 2,3 Millionen angekündigt. Vgl. Restoration under way at Lučenec, Slovakia synagogue, <http://www.jewish-heritage-europe.eu/2015/07/08/restoration-under-way-at-lucenec-slovakia-synagogue/%E2%80%9D> (14.05.2016).
2 Zvi Gitelman / Barry Kosmin / András Kovács (Hrsg.), New Jewish Identities: Contemporary Europe and Beyond, Budapest 2003.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/