M. Stolleis (Hrsg.): Konflikt und Koexistenz

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Titel
Konflikt und Koexistenz. Die Rechtsordnungen Südosteuropas im 19. und 20. Jahrhundert. Band 1: Rumänien, Bulgarien, Griechenland


Herausgeber
Stolleis, Michael
Reihe
Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 292
Erschienen
Frankfurt am Main 2015: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
X, 936 S.
Preis
€ 179,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Herbert Küpper, Institut für Ostrecht, Wissenschaftszentrum Ost- und Südosteuropa Regensburg

Der Transfer von Recht ist ein hochaktuelles Thema: Immer wieder wird versucht, durch Export des eigenen oder durch Import eines fremden Rechts Änderungen in Rechtsordnungen herbeizuführen. Die Erfolge eines solchen Unterfangens sind alles andere als garantiert, und in Theorie und Praxis herrscht oft große Unsicherheit.
Es bietet sich daher an, den Aufbau eigener Rechtsordnungen durch die soeben unabhängig gewordenen Staaten Südosteuropas im 19. und 20. Jahrhundert einer näheren Analyse zu unterziehen. Mangels eines eigenen zukunftsfähigen Erbes, aber auch mangels lokaler Interessen, die sich durch einen Import fremden Rechts hätten bedroht fühlen können, haben praktisch alle Staaten Südosteuropas ihre Rechtsordnungen unter Rückgriff auf Regelungsmodelle, Regelungen und Rechtsinstitutionen der Staaten West- und Mitteleuropas, bisweilen auch Südeuropas und Russlands aufgebaut. Diesem historischen Großprojekt eines umfangreichen Rechtstransfers ist das vorliegende Werk gewidmet.

Es unterfällt in vier Teile: eine Bestandsaufnahme des osmanischen Rechts am Ende des 19. Jahrhunderts und drei Länderkapitel zu Griechenland, Rumänien und Bulgarien. Da das Recht jedenfalls in der Moderne – und dazu zählen die südosteuropäischen Rechtskulturen spätestens seit ihrem Modernisierungsprogramm seit der Unabhängigkeit – an den Staat gekoppelt ist, ist die Darstellung in Länderberichten sinnvoll. Vorangestellt ist ein Forschungsbericht aus der Feder von Michael Stolleis, der unter anderem auf die Methodologie eingeht.

Zu Recht ist der erste Block der kürzeste: Er beschreibt im Wesentlichen den Ausgangspunkt, die Rechtsordnung und Rechtskultur, aus der heraus die unabhängig werdenden bzw. soeben unabhängig gewordenen Staaten Südosteuropas ihren Aufbruch in die west- und mitteleuropäische Moderne – das war ihre Zielvorstellung und Zielvorgabe – starteten. Da weder vom offiziellen osmanischen Recht noch von den seitens der Osmanen kaum angetasteten lokalen bäuerlich-christlichen Rechtsvorstellungen wesentliche Impulse für die Schaffung der neuen Rechtsordnungen ausgingen, führen von dem Recht vor der Unabhängigkeit nur schwache Traditionslinien in das spätere oder gar heutige Recht. Daher ist eine recht kurze Abhandlung gerechtfertigt.

Der Länderbericht zu Griechenland besteht aus sechs Einzelstudien. Die ersten beiden von Ivi Mavromoustakou und Dimitrios Parashu behandeln den Aufbau einer Verfassungsordnung nach der Unabhängigkeit, wobei auch die britische Verfassungsgebung auf den Ionischen Inseln berücksichtigt wird. Dadurch wird deutlich, dass der Transfer von Verfassungsrecht nicht nur ein von Griechenland gesteuerter Import war, sondern in Teilbereichen auch Züge eines – heute würde man sagen: „geopolitisch“ motivierten – Exports eigener Vorstellung seitens einzelner europäischer Großmächte trug. Die folgenden Studien von Dimitra Papadopoulou-Klamaris und Dimitrios Tsikrikas behandeln den Aufbau eines Zivil- und Zivilprozessrechts im 19. Jahrhundert, wobei gerade im Zivilrecht die Wechselwirkungen zwischen dem überkommenen, im Osmanischen Reich formal in Teilen fortgeltenden byzantinischen Recht und den als Referenzrahmen für die Rezeption gewählten Rechtsordnungen Westeuropas, vor allem Frankreichs und Deutschlands, deutlich werden. Es schließt sich ein Beitrag zum Aufbau von Rechtskultur, Verfassungstheorie und Institutionen von Theodora Antoniou an, und der abschließende Bericht von Styliani-Eirini Vetsika fasst die Modernisierungsbestrebungen im 20. Jahrhundert exemplarisch anhand der Gesetzgebung unter Eleftherios Venizelos zusammen.

Rumänien sind sieben Studien gewidmet, wovon sich drei von Dan Berindei, Bogdan Iancu und Cătălin Turliuc mit dem Verfassungsrecht beschäftigen. Hier werden auch die Irritationen behandelt, die die Rezeption seinerzeit hervorrief, und mit den Irritationen einer postsozialistischen Rechtsmodernisierung mit Hilfe von Rechtsrezeption in Beziehung setzt. Andrea Iancu liefert eine Bestandsaufnahme des zivilrechtlichen Rechtserbes der Phanariotenfürstentümer Walachei und Moldau, das heißt sie zeigt auf, auf welcher Grundlage das vereinigte Königreich sein Latinisierungsprogramm im Recht starten konnte. Manuel Guţan geht auf den Rechtstransfer als Mittel der Sozialgestaltung im Rumänien des 19. Jahrhunderts ein, und die Beiträge von Andrei Florin Sora und Paul Vasilescu sind der Entwicklung des Strafrechts und des Sachenrechts gewidmet. Letzterer bricht die Grundidee der „Französisierung“ der zu schaffenden rumänischen Rechtsordnung auf ein überschaubares Rechtsgebiet herab und zeigt exemplarisch die zu bewältigenden Probleme auf. In allen diesen Beiträgen wird das Besondere am Fall Rumäniens deutlich, das sich einerseits im Wesentlichen nur an einem europäischen Vorbild orientierte, nämlich Frankreich (vor allem im Verfassungsrecht wurde auch belgisches Recht rezipiert), und das andererseits relativ frei von äußeren Einflussnahmen sein eigenes Rezeptionsprogramm formulieren konnte.

Stärkeren äußeren Einflussnahmen jedenfalls im Bereich der Verfassungsordnung war Bulgarien ausgesetzt, das in sieben Studien analysiert wird. Den Ausgangspunkt der Entwicklung im 18. und 19. Jahrhundert beschreibt Nadia Danova, während Diana Mishkova Theorie und Funktionen des Rechtstransfers für den Fall Bulgarien diskutiert, aber die Perspektive auch auf Südosteuropa als Ganzes öffnet. Es folgen Darstellungen zu den einzelnen Rechtsgebieten: zum Strafrecht (Ralitsa Kostadinova), zum Familien- und Erbrecht (Svetla Baloutzova), zum Justizwesen (Teodora Parveva) und schließlich zum Verfassungsrecht in Gestalt der Tărnovo-Verfassung (Martin Belov). Ein Aspekt, der auch schon in den früheren Länderberichten zum Tragen kam, ist das Auseinanderklaffen zwischen seinerzeit modernen Regelungen und den Realitäten in den südosteuropäischen Ländern. Abschließend untersucht Ivo Hristov die Modernisierungsfunktion des Rechts in Bulgarien, die versuchte, den genannten Abgrund zwischen Regelung und regelunterworfener Gesellschaft zu überbrücken.

Insgesamt bietet der Sammelband eine intensive Auseinandersetzung mit der Schaffung südosteuropäischer Verfassungs- und Rechtsordnungen und -kulturen im Wege des Rechtstransfers nach der Unabhängigkeit. Der Band bietet keine umfassende südosteuropäische Rechtsgeschichte des 19. Jahrhundert und will dies auch nicht. Er erhellt vielmehr anhand etlicher Einzelstudien die Prozesse des Rechtstransfers, ihre Ergebnisse, ihr Funktionieren als Instrument der Sozialgestaltung und ihr Wirken als Kanäle der Einflussnahme der Länder, deren Recht rezipiert wurde. Insofern werden wesentliche – wenngleich bei weitem nicht alle wichtigen – Aspekte dieses Großexperiments Rezeption, das nicht nur in einem Staat, sondern parallel zueinander in einer ganzen Region stattfand, analysiert. Dies ermöglicht über das historische Interesse hinaus auch einen Erkenntnisgewinn für heutige Transferprozesse.

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