S. Kriese (Hrsg.): Archivarbeit im und für den Nationalsozialismus

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Titel
Archivarbeit im und für den Nationalsozialismus. Die preußischen Staatsarchive vor und nach dem Machtwechsel von 1933


Herausgeber
Kriese, Sven
Reihe
Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz. Forschungen 12
Erschienen
Anzahl Seiten
623 S.
Preis
€ 99,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter M. Quadflieg, Marburg

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Archivwesens im Nationalsozialismus setzte im Vergleich zu anderen Berufsgruppen relativ spät ein. Mitte der 1990er-Jahre wurde eine erste Gesamtdarstellung veröffentlicht.1 Gleichzeitig wurde die Debatte durch Beiträge von Archivaren bestimmt. Der Verband deutscher Archivare (VdA) widmete sich beispielsweise auf dem Deutschen Archivtag 2005 umfänglich dem Thema.2 Die historische Forschung hat es hingegen weitgehend vernachlässigt.3 Allerdings wurden in jüngster Zeit Studien zur Geschichte einzelner Archivverwaltungen im „Dritten Reich“ veröffentlicht.4

Der nun von Sven Kriese herausgegebene Sammelband lässt sich zu dieser Gruppe zählen, erhebt jedoch nicht den Anspruch, die Forschungslücke schließen zu können, die auch in Hinblick auf die mit Abstand größte deutsche Archivverwaltung der NS-Zeit, die preußische, besteht. Vielmehr soll die Aufsatzsammlung „zur weiteren Beschäftigung mit der Archivgeschichte an[regen].“ (S. 7) Das tut sie durch die Wiedergabe der Referate einer 2013 am Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) veranstalteten gleichnamigen Tagung.

Auf einen methodischen Überbau oder eine thematische Einleitung wird dabei verzichtet. In seinem Vorwort deutet Kriese jedoch an, Beiträge zur Frage nach den Wechselwirkungen zwischen der fachlichen Tätigkeit der Archivare einerseits, und deren Verstrickung in das politische System des „Dritten Reichs“ andererseits, versammelt zu haben. In der archivhistorischen Forschung stehen sich diesbezüglich zwei Meinungen gegenüber: Während die eine Seite unterstellt, dass das Archivwesen sich zu einem genuin nationalsozialistisch geprägten Forschungs- und Bürokratiezweig entwickelte, und diese Veränderung erst durch den „Notbetrieb“ während des Krieges gestoppt wurde, bewertet die andere Seite den nationalsozialistischen Einfluss auf das Archivwesen als geringer. Er habe sich, so die These, in einem Nutzungsanstieg durch die Rassegesetzgebung (Stichwort: „Ariernachweise“) und die „Ostforschung“, sowie in Neuordnungstendenzen bei der inneren Organisation sowie der Personal- und der Ausbildungspolitik erschöpft. Die politischen Rahmenbedingungen hätten sich hingegen auf die Auswahl, Übernahme, Erschließung, Erhaltung und Bereitstellung von Archivgut nicht nachhaltig ausgewirkt.

Vor diesem Hintergrund nimmt Kriese im ersten Aufsatz einen Vergleich zwischen den beiden Generaldirektoren des Preußischen Archivwesens zwischen 1929 und 1945 – Albert Brackmann und Ernst Zipfel – vor. In dem mit annähernd 80 Seiten längsten Beitrag des Bandes zeichnet Kriese nicht nur die biographischen Stationen der beiden Protagonisten nach, sondern untersucht insbesondere Gestaltungsansprüche, Arbeitsschwerpunkte und den Führungsstil der beiden Archivare. Dabei relativiert er die lange vertretene scharfe Trennung zwischen dem konservativ-revanchistisch eingestellten DNVP-Mitglied und Historikerarchivar Brackmann (1871–1952) und dessen Nachfolger ab 1936, dem frühen NSDAP-Mitglied Zipfel (1891–1966). Dies ist umso nötiger, da sich auf den, wegen seines Quereinstiegs in das Archivwesen ohne historische Ausbildung stets umstrittenen Zipfel, nach 1945 die Exkulpationsstrategien des Berufstandes richteten. Der ausgebootete Nationalsozialist, der als einziger bekannter Fall keine Nachkriegsanstellung fand, musste als Sündenbock für die Verfehlungen aller deutschen Archivare während der NS-Zeit herhalten.

Die weiteren 14 Beiträge des Bandes sind deutlich kürzer und fünf Themenfeldern zugeordnet. Im ersten Themenblock „Professionalität, Anpassung und Teilhabe“ ergänzen zwei weitere biographische Fallbeispiele Krieses Aufsatz. Wolfgang Neugebauer stellt Carl Hinrichs (1900–1962) vor, der seit 1933 Archivar am GStA und ab 1951 erster Ordinarius für die Geschichte der Frühen Neuzeit in Berlin war. 1938 wurde das NSDAP-Mitglied Hinrichs aus politischen Gründen an das Staatsarchiv Königsberg „strafversetzt“, so stellte es Hinrichs nach dem Krieg jedenfalls dar. Neugebauer macht hingegen deutlich, dass die Versetzung vielmehr die Folge der wissenschaftlichen Karriereplanung Hinrichs war. Angelika Menne-Haritz nimmt den Karriereweg des ebenfalls am GStA tätigen Ernst Posner (1892–1980) in den Blick. Posner war einer der wenigen deutschen Archivare, die auf Grund ihrer „jüdischen Abstammung“ ihre Stellung verloren. 1939 emigrierte Posner in die USA, wo er das Archivwesen mitprägte und gleichzeitig bemüht blieb, den Austausch zwischen den amerikanischen und seinen ehemaligen deutschen Kollegen zu fördern.

Die drei folgenden Beiträge sind unter dem Titel „Archive zwischen Preußen und Reich“ zusammengefasst und beschäftigen sich mit der Diskussion um eine reichsweite „Gleichschaltung“ des auf Länderebene organisierten Archivwesens unter preußischer Führung. Tatsächlich blieben entsprechende Überlegungen wegen des Kriegsausbruchs Theorie. Der Beitrag von Ingeborg Schnelling-Reinicke stellt den preußischen Führungsanspruch in einer zukünftigen „Reichsarchivverwaltung“, auch als Abwehr gegen den Einfluss anderer Akteure, vor. Klaus Neitmann untersucht als Praxisbeispiel die bis 1945 nicht realisierten Planungen für eine Abtrennung des Staatsarchivs für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin vom GStA. Susanne Brockfeld wechselt in die Gegenwartsperspektive und stellt die heute beim GStA PK aufbewahrten Unterlagen zu den ehemaligen Staatsarchiven in West- und Ostpreußen als Quellen für Studien zur NSDAP-Herrschaft „in der Provinz“ vor.

Der dritte Abschnitt gruppiert vier Aufsätze zur „Benutzung und Auswertung“ von Archivalien in der NS-Zeit. Christoph Nonn diskutiert die Beiträge der „Landesstelle Ostpreußen“ als nachgeordnete Einrichtung des GStA unter der Leitung Theodor Schieders (1908–1984) für die „menschenverachtende Abwertung der polnischen Bevölkerung“ (S. 218) in den annektierten „Ostgebieten“. Er unterscheidet dabei nachvollziehbar zwischen dem politischen Sendungsanspruch der Landesstellenfunktionäre und der tatsächlichen Wirkung ihrer „volkstumspolitischen“ Forschungsarbeit.
Stefan Lehr thematisiert als weiteren Aspekt der Archivnutzung die Diskriminierung polnischer Forscher in preußischen Staatsarchiven, die bereits 1928 begann, sowie die Reaktionen der polnischen Archivverwaltung. Martin Munke beschließt das Themenfeld mit der Vorstellung der „Publikationsstelle Berlin-Dahlem“ (PuSte), jener Denkfabrik der archivarischen „Ostforschung“ unter Führung von Johannes Papritz (1898–1992), dem Nestor der Archivwissenschaft nach dem Krieg. Besonders interessant sind Munkes Ausführungen zur Nachkriegszeit, die die Kontinuität der Ostforschung im Bereich des Archivwesens deutlich machen. Annette Hennigs steuert einen Blick auf den dienstlichen Alltag im Staatsarchiv Münster im NS bei und zeigt Beiträge der Archive zur Rassenpolitik durch die Bereitstellung von Quellen für die „Sippenforschung“ und die Erstellung von „Arier-Nachweisen“ auf.

Der vierte Abschnitt beschäftigt sich mit drei Bereichen der Archivtheorie, die in den 1930er-Jahren intensiv fachöffentlich diskutiert wurden: Die Überlieferungsbildung, der „Archivgutschutz“ und die Ausbildung von Archivaren. Ulrich Kober stellt die These auf, dass es im Fall des GStA „keine spezifisch NS-konforme Bewertungspraxis […] gab“ (S. 322). Deutlich macht er dies anhand der Untersuchung von Übernahmedokumentationen des Archivs. Damit stehen seine Erkenntnisse im Widerspruch zu Untersuchungen der theoretischen Diskussion um die Schriftgutbewertung im Nationalsozialismus.5

Pauline Puppel geht auf die Entwicklungen in der Ausbildung ab 1930 ein, die durch die Einrichtung des Instituts für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung (IfA), dem Vorläufer der heutigen Archivschule Marburg, auf eine neue Grundlage gestellt wurde. Dabei macht sie auch das Erstarken nationalsozialistischer Auswahlkriterien, Lerninhalte und Prüfungsbestandteile ab 1936 deutlich. Anschließend skizziert Mathis Leibetseder die Entwicklung im Bereich der „Archivpflege“, also der staatlichen Betreuung nichtstaatlicher Archive, vor dem Hintergrund der Konkurrenz zwischen der preußischen Archivverwaltung und dem „Reichssippenamt“. Johannes Kistenich-Zerfaß behandelt in seinem Beitrag die Auslagerung von Archivgut als Schutzkonzept im Bombenkrieg. Er macht dabei neben unterschiedlichen theoretisch-planerischen Ansätzen für den Schutz von Archivalien auch die praktische Umsetzung verschiedener Schutzmaßnahmen deutlich. Dass der Auslagerungsumfang in den einzelnen Staatsarchiven heterogen war, wird durch umfangreiche Tabellen sowie eine dem Band beigefügte farbige Karte visualisiert.

Jürgen Kloosterhuis beschließt den Sammelband mit seinem Beitrag, der den fünften und letzten Themenbereich „Das preußische Zentralarchiv nach dem Krieg“ bildet. Chronologisch weitet er den Blick über das Ende des Nationalsozialismus hinaus, indem er die Entwicklung des GStA als „Staatsarchiv ohne Staat“ in den ersten beiden Nachkriegsjahren in den Blick nimmt und dem Leser die Alltagsprobleme der Berliner Archivare – von der Auslagerungsrückführung bis zum Wiederaufbau der Dienstbibliothek – in Zeiten einer völlig ungewissen Zukunft des Hauses vor Augen führt.

Insgesamt ist jeder einzelne Beitrag des Sammelbandes lesenswert. Seine Themenbreite macht ihn gleichzeitig zu einem wichtigen Beitrag für die vergleichsweise unterentwickelte Forschung zum deutschen Archivwesen in der NS-Zeit. Vermisst werden freilich neue und innovative Fragestellungen oder methodische Überlegungen. Die meisten Beiträge docken an bereits auf dem Archivtag 2005 gestellte Fragen an. Zudem bleiben einige Aufsätze stark auf die quellengesättigte Darstellung spannender Sachverhalte fokussiert, scheuen allerdings Schlussfolgerungen auf einer abstrakten Ebene. Diese wären jedoch für die Beantwortung der Fragen nach der nationalsozialistischen Durchdringung des Archivwesens, auch in ihrer Auswirkung auf den Berufstand in der Nachkriegszeit, essentiell. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass in den meisten deutschen Archiven keine dienstlichen Ressourcen für archivhistorische Forschungstätigkeiten zur Verfügung stehen, was den Befund einer stark dokumentarischen und weniger analytischen Ausrichtung der meisten Beiträge aus der Feder von Archivaren relativiert. Hier ist umso mehr die Geschichtswissenschaft gefordert, die in Krieses Vorwort angebotene weitere Beschäftigung mit dem Thema aufzunehmen und kollektivbiographische Untersuchungsansätze zu anderen Pressure-Groups des „Dritten Reich“ auch auf die überschaubare und erstaunlich gut fassbare Funktionsgruppe der Archivare zu übertragen. Fragen auf unterschiedlichsten Forschungsebenen ergeben sich zuhauf. Dies deutlich gemacht zu haben ist ein wesentliches Verdienst des hier vorgestellten Bandes.

Anmerkungen:
1 Vgl. Torsten Musial, Staatsarchive im Dritten Reich. Zur Geschichte des staatlichen Archivwesens in Deutschland, 1933–1945, Potsdam 1996. Eine zweite Dissertation blieb nur im Manuskript veröffentlicht. Vgl. Matthias Herrmann, Das Reichsarchiv 1919–1945, 2. Bde., Diss.: Humboldt Universität Berlin, Berlin 1994.
2 Vgl. Robert Kretzschmar (Redakt.), Das deutsche Archivwesen im Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart, Essen 2007.
3 Eine richtungweisende Ausnahme ist Astrid Eckert, Kampf um die Akten. Die Westalliierten und die Rückgabe von deutschem Archivgut nach dem Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 2004. Den Forschungsstand fasst das Vorwort des hier zu besprechenden Sammelbandes zusammen.
4 Vgl. beispielsweise Sarah Schmidt, Das Staatsarchiv Hamburg im Nationalsozialismus, Hamburg 2016.
5 Vgl. Robert Kretzschmar, Überlieferungsbildung im Nationalsozialismus und in der unmittelbaren Nachkriegszeit, in: Ders., Archivwesen im Nationalsozialismus, S. 34–44.

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