J. Guldi u.a.: The History Manifesto

Cover
Titel
The History Manifesto.


Autor(en)
Guldi, Jo; Armitage, David
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 165 S.
Preis
€ 20,36
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Jordan, Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München

Parallel zur Volltextveröffentlichung im Internet1 erscheint Jo Guldis und David Armitages „The History Manifesto“ auch in Buchform. Der Titel verwundert zunächst, gehören doch Manifeste nicht zu den für Historiographen üblichen literarischen Genres, sondern sind in erster Linie ideologische oder politische Absichtserklärungen. Gleichwohl ist er gut gewählt, denn der Band versteht sich als politische Kampfschrift für Historiker. Sein, wohl als halb-ironische Anspielung zu verstehender, Schlusssatz lautet: „Historians of the world, unite! There is a world to win – before it’s too late.“ (S. 125) Der Appell, den die beiden US-amerikanischen Autoren an ihre Zunftkollegen aus der Geschichtswissenschaft richten, hat ein klar umrissenes Ziel: „It may be little wonder, then, that we have a crisis of global governance, that we are all at the mercy of unregulated financial markets, and that anthropocenic climate change threatens our political stability and the survival of species. To put these challenges in perspective, and to combat the short-termism of our time, we urgently need the wide-angle, long-range views only historians can provide.“ (S. 125) Die Welt ist in Gefahr, und nur Historiker können sie retten, dies ist die Kernaussage des Bands.

Guldi und Armitage diagnostizieren unserer Gegenwart eine schwere Krise in den drei Bereichen „Global Governance“ – verstanden als ein weltweit funktionierendes politisches Lenkungssystem –, in den Auswirkungen des von Menschen beeinflussten Klimawandels und in globaler sozialer Ungleichheit infolge aus der Kontrolle geratener Finanzmärkte. Zudem steckten auch die Geschichtswissenschaft und die Humanities in einer Krise, von der die Einleitung des Bands ihren Ausgang nimmt. Anstatt auf Fakten zu bauen, würde zu sehr auf Theorien und Modelle Wert gelegt. Besonders gravierend sei der „short-termism“ der Wissenschaft, also die Begrenzung auf Datenbestände einzelner Archive und auf Zeithorizonte von unter 50 Jahren, die sich nach den Bedürfnissen und Zyklen der Wirtschaft orientierten. Die disziplinenübergreifende Erforschung langer Zeiträume, die für die „alte Universität“ kennzeichnend gewesen sei, sei ebenso vom Kurzzeitdenken abgelöst worden, wie in der Geschichtswissenschaft seit den 1970er-Jahren die Untersuchung der „longue durée“ durch mikrohistorische Ansätze. „For two generations, between 1975 and 2005, they [the historians, SJ] conducted most of their studies on biological time-spans of between five and fifty years, approximating the length of a mature human life.“ (S. 7) Aus diesem Grund hätten die Historiker ihre Funktion als Entwickler politischer Zukunftsperspektiven an Laien („unaccredited writers“, S. 8) und Vertreter der Sozialwissenschaften, vor allem Ökonomen, sowie Evolutionsbiologen und andere Naturwissenschaftler abgetreten.

Um diesen Verlust der Deutungskompetenz deutlich zu machen, widmen sich die Autoren in ihrem ersten Kapitel den Leistungen des „long-term thinking“, insbesondere des Braudelschen Ansatzes und Arbeiten von Historikern wie R. H. Tawney, Sidney und Beatrice Webb sowie Eric Hobsbawm, das eng an „policy-making“ und öffentliche Debatten über die Zukunft angebunden gewesen sei (S. 20–25). „The institutions of international development looked to history to supply a roadmap to freedom, independence, economic growth, and reciprocal peacemaking between the nations of the world.“ (S. 27) Die „long-term thinker“ seien damit der „klassischen Mission der Geschichte“ als magistra vitae gefolgt.

Das zweite Kapitel behandelt das Aufkommen des „short-termism“ seit Ende der 1960er-Jahre. Die Generation der „68er“ habe bedingt durch Änderungen auf dem Arbeitsmarkt und zunehmende Materialfülle verstärkt auf kurze Untersuchungszeiträume gesetzt, das neue Ideal wissenschaftlicher Arbeit sei die Fokussierung auf begrenzte Orte und Räume geworden. „By the 1980s, modernisation theory, Marxism, ‚theories of long-term economic development and cultural lag, the inexorabilities of the business cycle and the historians’ longue durée’, had all been replaced by a foreshortened sense of time focused on one brief moment: the here and now of the immediate present.“ (S. 53) Unterstützt worden sei diese Entwicklung durch die verschiedenen „turns“ und den Postmodernismus, so dass die ‚wirklich wichtigen Ziele’ – Erderwärmung, Klassengegensätze und Kapitalismuskritik – aus dem Blick geraten seien. In den Zeiten der Neuen Kulturgeschichte hätten „neo-liberal economists“ die ehemalige Deutungshoheit der Historiker übernommen (S. 60).

Das dritte Kapitel unterstreicht noch einmal die Notwendigkeit des „long-term thinking“ für Klimawandel, „International Governance“ und globale soziale Ungleichheit, ohne dabei grundsätzlich neue Argumente zu liefern. Dabei werden Politologen und Politikberater wie Samuel Huntington und Francis Fukuyama scharf attackiert, und es wird ein sehr einseitiges Bild von Ökonomen als neo-liberalen, die Dominanz des Westens fordernden, fundamentalistischen und zu reduktionistischen Theorien neigenden apokalyptischen Predigern ohne langfristige Perspektive entworfen. Die Konsequenz: „a moral crisis“ (S. 83f.).

Der Weg aus dieser moralischen und politischen Krise könne nur von Historikern gefunden werden, allerdings nicht in einer einfachen Rückbesinnung auf die ‚gute alte Tradition’ der longue durée, sondern durch den Einbezug der Digital Humanities, wovon das letzte Kapitel „Big questions, big data“ handelt. Die Materialfülle, über die Historiker heute verfügten, biete die Chance, die großen Fragen anzugehen, wenn das Material seriell und unter Zuhilfenahme von „new tools“ und Systemen wie „Paper Machines“ ausgewertet werde. „Historians should be at the forefront of devising new methodologies for surveying social change on the aggregate level. […] The era of fundamentalism about the past and its meaning is over – whether that fundamentalism preaches climate apocalypse, hunter-gatherer genes, or predestined capitalism for the few.“ (S. 111f.) Dabei skizzieren die Autoren ein erstaunlich naives Bild der Digital Humanities. Denn diese erscheinen nicht als Oberbegriff für Recherche- und Darstellungshilfsmittel, die für konkrete Einzelfragen benutzt werden können, sondern als ein Art Black Box, in die Daten hineingeschüttet werden, um dann, nach Drücken des roten Auswertungsknopfs, zu wissenschaftlichen Ergebnissen zu gerinnen. Das Bild des Historikers im Zeichen der so beschriebenen Digital Humanities mutiert vom Intellektuellen zum Anwender. „Historians may become tool-builders and tool-reviewers as well as tool-consumers and tool-teachers.“ (S. 114)

„The History Manifesto“ ist ein gleich in mehrfacher Hinsicht ärgerliches Buch. Zunächst einmal enerviert es den Leser durch seine unglaublich argumentationsarme Mantra-artige Wiederholung der wenigen apriorischen Sätze über die Aufgaben des Historikers und die zeitgeistige Krise des „short-termism“. Was die Autoren in rund 130 Seiten entfalten, wäre auch auf 30 Seiten zu sagen gewesen. Dann stören die krassen Klischees: Ökonomen sind neo-liberale Fundamentalisten, Evolutionsbiologen und andere Naturwissenschaftler sind Darwinisten, Historiker dagegen sind kritische, universal geeignete Alleskönner. Warum überhaupt ist es die Aufgabe des Historikers, sich um Klimawandel, „Global Governance“ und globale soziale Ungleichheit zu kümmern? Für Guldi und Armitage sind diese Ziele einfach gesetzt, ihre Begründung unterbleibt ebenso wie nicht thematisiert wird, warum etwa ein Historiker eher geeignet sein soll, die Erderwärmung zu untersuchen, als ein Klimaforscher oder warum Historiker die Entwicklung der Finanzmärkte besser darstellen können sollen als Wirtschaftswissenschaftler. Schließlich enttäuscht der Band völlig durch sein Bild der Digital Humanities, die als Allheilmittel gegen alle Krisen beschrieben werden. Sie fungieren in Guldis und Armitages Pamphlet als Mittel, mit denen das Heilsversprechen des „History Manifesto“ – ‚Historiker vereint euch, denn mit eurer Hilfe ist die Welt zu retten’ – eingelöst werden soll. Das „Manifesto“ überrascht den Leser nur an einer Stelle: Vor Beginn des Texts sowohl bei der Internet- als auch bei der Printversion sind kurze Lobeshymnen auf diesen Band von führenden amerikanischen und englischen Historikern, unter anderem Thomas Piketty, Daniel Woolf und Craig Calhoun, zu finden. Entweder haben diese Rezensenten das Buch nicht gelesen, oder sie haben ein für Leser des europäischen Kulturraums unfassbares, ähnlich naives und von Klischees geprägtes Politikverständnis wie die Verfasser.

Anmerkung:
1 <http://historymanifesto.cambridge.org/> (20.04.2016).

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