G. Dalos: Geschichte der Russlanddeutschen

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Titel
Geschichte der Russlanddeutschen. Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart


Autor(en)
Dalos, György
Erschienen
München 2014: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
330 S., 25 Abb.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jannis Panagiotidis, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, Universität Osnabrück

Neuere deutschsprachige Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Russlanddeutschen sind Mangelware.1 Schon aus diesem Grund ist György Dalos‘ 2014 publizierte Monographie eine willkommene Neuerscheinung, nicht zuletzt aus der Sicht des Lehrenden, der seinen Studierenden gut zugängliche Informationen über diese Minderheit an die Hand geben will. Nun ist Dalos kein Historiker, sondern Schriftsteller, und sein Werk basiert nicht auf eigenen Archivrecherchen, sondern auf vorhandener deutsch- und russischsprachiger Sekundärliteratur sowie publizierten Quellen. Trotzdem ist das Buch als literarisch durchaus ansprechendes historisches Sachbuch ein ernstzunehmender Beitrag zur russlanddeutschen Geschichtsschreibung.

Ganz im Sinne der konventionellen Periodisierung russlanddeutscher Geschichte beginnt Dalos‘ Erzählung mit dem Anwerbemanifest Katharinas der Großen von 1762/63, mit dem Siedler aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa an die russische Frontier der Wolga gelockt wurden. In zehn chronologisch angeordneten Kapiteln und einem kurzen Epilog folgt der Autor der Geschichte der Kolonisten, die er im Spannungsfeld russischer bzw. sowjetischer Innenpolitik und deutsch-russischer bzw. sowjetischer Beziehungen verortet. Dieser in einem sehr anschaulichen Sinne „verflochtenen“ Geschichte wird Dalos durch verflochtene Erzählstränge gerecht, die immer wieder Ereignisse und Entwicklungen der russischen und deutschen Geschichte, die die Russlanddeutschen betrafen, miteinander in Beziehung setzen. So erfährt der Leser etwa im zweiten Kapitel von der schrittweisen Aufhebung der Kolonistenprivilegien im Zuge der Modernisierung des Russischen Reiches ab den 1870er-Jahren, welche mit einer Verschlechterung des Ansehens der Deutschen in Russland im Zuge des anwachsenden russischen Nationalismus und des sich verstärkenden alldeutschen Expansionismus zusammenfielen. Entsprechend befanden sich die Deutschen in Russland während des Ersten Weltkriegs „Zwischen den Fronten“ (so der Titel des dritten Kapitels).

Es folgten die Russischen Revolutionen des Jahres 1917, der Bürgerkrieg, die traumatische Hungersnot an der Wolga 1921/22 und die Schaffung der als „Musterkommune“ und „Schaufenster“ für den Westen gedachten Autonomen Republik der Wolgadeutschen im Jahr 1924. Dalos gelingt es in den Kapiteln 5 bis 7 sehr gut, die „Janusköpfigkeit“ der Wolgarepublik herauszuarbeiten, in der die Förderung neuer nationaler Institutionen einerseits und die Repression traditioneller Institutionen und Eliten – Religion, „Kulaken“, Intellektuelle – andererseits Hand in Hand gingen. Hier vermeidet er erfolgreich die Idealisierung der nationalen Autonomie wie auch die einseitige Reduzierung russlanddeutscher Geschichte in der frühen Sowjetunion auf Leid auf Verfolgung. Insbesondere in den Jahren nach Ende der Neuen Ökonomischen Politik 1928, die Dalos mit dem Schlagwort „Sowjetisierung“ überschreibt, gewinnen letztere jedoch zunehmend die Überhand. Entsprechend räumt der Autor den verheerenden Folgen der Kollektivierung der Landwirtschaft inklusive einer erneuten Hungersnot und der nationalen Dimension des Großen Terrors („deutsche Operation“) angemessen Platz ein.

Nicht zufällig ist das umfangreichste Kapitel des Buches aber das achte, das sich mit der Deportation der Russlanddeutschen im Jahr 1941 und der Zwangsarbeit in der „Trudarmee“ beschäftigt. Dabei interessiert sich Dalos für Ursachen, Verlauf, Erfahrung und Konsequenzen der Verschleppung der Deutschen von der Wolga und aus anderen Regionen. Er ordnet die Deportationen in den breiteren Kontext präventiver Zivilinternierungen im Zweiten Weltkrieg ein (wie etwa der Japaner in den USA) und liest sie vor dem Hintergrund der Erfahrungen anderer Länder wie der Tschechoslowakei mit illoyalen deutschen Minderheiten während der 1930er-Jahre. Zugleich macht er klar, dass der zugrundeliegende kollektive Kollaborationsvorwurf haltlos war und insbesondere die „zweite Deportation“ in die sogenannte „Trudarmee“ katastrophale Folgen für die Betroffenen hatte, auf individueller, familiärer und kollektiver Ebene. Wie Dalos schreibt, machte die Deportation und die auch nach Kriegsende fortdauernde Verbannung aus den sozial, kulturell und geographisch differenzierten Deutschen in der Sowjetunion „eine homogene graue Masse, deren Kitt ihre ethnische Zugehörigkeit war.[…] Es entstand ein merkwürdiges Deutschtum, ein Volk, aber keine Nationalität im Sinne der sowjetischen Gesetze – ein Volk, dessen Heimat statt der geographischen die imaginäre Bezeichnung ‚spezposelenije‘, Sondersiedlung, trug“ (S. 203).

In den letzten zwei Kapiteln geht es schließlich um den Kampf dieses „merkwürdigen“ Volkes um seine Rehabilitierung, die Wiederherstellung der 1941 abgeschafften nationalen Autonomie oder alternativ die Ausreise in die „historische Heimat“ Deutschland. Dalos zeigt auf, dass die Wiederherstellung der Wolgarepublik zum „Dreh- und Angelpunkt der sowjetdeutschen Identität“ wurde – obwohl die Mehrheit der Russlanddeutschen auch vor 1941 dort gar nicht gelebt hatte und die Jahre ihrer Existenz alles andere als idyllisch waren. Zugleich wird deutlich, dass dem Autonomieprojekt trotz gewisser ambivalenter Signale der Führung zur Zeit der Perestroika nie eine echte Chance gegeben wurde – Dalos spricht in diesem Zusammenhang von einer „falschen Morgendämmerung“ (S. 269). Die Alternative war der massenhafte Exodus ab Ende der 1980er-Jahre, der nur noch kursorisch gegen Ende behandelt wird. Wie der Autor schreibt, kann man für die Zeit nach der endgültigen Absage Boris Jelzins an die Wolgaautonomie im Januar 1992 – und, müsste man hinzufügen, nach dem Massenexodus in die Bundesrepublik – „nur noch von einer ‚Nachgeschichte der Russlanddeutschen‘ reden“ (S. 290).

Im Vorwort formuliert Dalos den Anspruch, mit seinem „fremden Blick“ des Mitteleuropäers neue Perspektiven auf die Geschichte der Russlanddeutschen zu eröffnen. Dieses Versprechen löst er mit seinem nuancierten Narrativ, welches die gröbsten Stereotype wie etwa den sprichwörtlichen „Kolonistenfleiß“ vermeidet, zum Teil ein. Gleichzeitig kann er sich nicht vollständig von gewissen etablierten Topoi des russlanddeutschen Geschichtsnarrativs lösen, zum Beispiel wenn er für die Zeit vor der Revolution von der „heilen Welt der Kolonisten“ und von einem „deutsch-russischen Idyll an Newa und Wolga“ (S. 33) schreibt – Formulierungen, die seiner eigentlichen Erzählung durchaus zuwiderlaufen.

Das größte Manko von Dalos‘ Geschichte ist aber sein faktischer Fokus auf die Wolgadeutschen, trotz des Anspruchs, über die Russlanddeutschen insgesamt zu schreiben und obwohl die Wolgakolonisten, wie Dalos mehrfach selber anmerkt, nicht die Mehrzahl der Deutschen in der Sowjetunion stellten. Diese Schieflage kann man wohl als Konsequenz der von Autor selber diagnostizierten symbolischen Überhöhung der autonomen Wolgarepublik im russlanddeutschen Bewusstsein nach der Deportation sehen. Die einseitige Schwerpunktsetzung hat aber zur Konsequenz, dass die Erfahrung der Schwarzmeerdeutschen als Objekt und Subjekt der NS-Politik in der besetzten Ukraine während des Zweiten Weltkriegs überhaupt nicht vorkommt. Ihre Umsiedlung durch das NS-Regime in den „Warthegau“ und die erzwungene „Repatriierung“ vieler von ihnen in die Sowjetunion wird nur kurz erwähnt (S. 215). Auch der Umstand, dass die durch den Krieg getrennten Familien die Keimzelle für die Aussiedlung einiger zehntausend Russlanddeutscher in die Bundesrepublik während der 1970er-Jahre bildeten, bleibt so unbeachtet. Dieses Versäumnis lässt sich wohl mit der letztlich recht engen Literaturbasis von Dalos‘ Buch erklären, die dazu führt, dass er an entscheidenden Stellen das dominierende „wolgazentrierte“ Geschichtsbild einfach reproduziert. Hier leistet etwa Viktor Kriegers 2015 von der Bundeszentrale für Politische Bildung publizierte Geschichte der Russlanddeutschen deutlich mehr.2 Somit lässt Dalos‘ ansonsten sehr lesbares und informatives Buch leider an einer entscheidenden Stelle einige Wünsche offen. Eine echte Gesamtgeschichte der Russlanddeutschen müsste jedenfalls mehr dafür tun, der Vielfalt russlanddeutscher Erfahrungen zwischen Russland und Deutschland gerecht zu werden.

Anmerkungen:
1 Die Monographie von Viktor Krieger, Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler. Eine Geschichte der Russlanddeutschen, Bonn 2015, erschien nach Dalos‘ Buch. Wichtige ältere Werke sind: Ingeborg Fleischhauer, Die Deutschen im Zarenreich. Zwei Jahrhunderte deutsch-russische Kulturgemeinschaft, 2. Aufl., Stuttgart 1991 (1. Aufl. 1986); dies. / Benjamin Pinkus, Die Deutschen in der Sowjetunion. Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert, Baden-Baden 1987. Auf Englisch liegt vor: Irina Mukhina, The Germans of the Soviet Union, London 2007.
2 Krieger, Kolonisten, S. 194f.

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