S. Fitzpatrick: On Stalin’s Team

Cover
Titel
On Stalin’s Team. The Years of Living Dangerously in Soviet Politics


Autor(en)
Fitzpatrick, Sheila
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 364 S.
Preis
$ 24.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Oberender, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Ein Vierteljahrhundert ist seit Öffnung der sowjetischen Archive vergangen. Die Stalin-Ära gehörte in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten zu den am intensivsten erforschten Themen der Zeitgeschichte. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Stalinismus hat eine mittlerweile kaum noch überschaubare Fülle an Quelleneditionen, Monographien und Sammelbänden hervorgebracht. Umso größer ist der Bedarf an Synthesen, die den aktuellen Kenntnisstand zu diesem oder jenem Thema kompetent zusammenfassen. Eine solche Syntheseleistung erbringt Sheila Fitzpatrick, die Doyenne der anglophonen Stalinismusforschung, mit ihrem Buch über die Gruppe von Spitzenfunktionären, die seit Ende der 1920er-Jahre unter Stalins Führung die Geschicke der Sowjetunion lenkte. Souverän verarbeitet Fitzpatrick alle biographischen und sonstigen Studien zum Stalinschen Führungszirkel und zur Funktionsweise des stalinistischen Herrschaftssystems, die seit Öffnung der Archive im Westen und in Russland entstanden sind.1 Das Buch verfolgt die Schicksale Stalins, seiner politischen Weggefährten und ihrer Angehörigen (Ehefrauen, Kinder) bis zur Chruschtschow-Zeit. Auch wenn Fitzpatrick die Lebenswege der Protagonisten nicht vollständig nachzeichnet, lässt sich ihr Buch als Kollektivbiographie einordnen.

Anstelle des Begriffes Politbüro verwendet Fitzpatrick den Terminus „Team“. Die im Politbüro versammelte offizielle Parteiführung war nie zu hundert Prozent identisch mit dem informellen Führungskreis, auf den sich Stalin im politischen Alltagsgeschäft stützte. Nicht die Mitgliedschaft im Politbüro, nicht offizielle Ämter und Posten waren für die Teilhabe an der Macht entscheidend, sondern die persönliche Nähe zum Generalsekretär und späteren Diktator. Vielen Lesern wird der von Fitzpatrick gewählte kollektivbiographische Ansatz bekannt vorkommen: Vor mehr als zehn Jahren sorgte der Brite Simon Sebag Montefiore mit seinem Buch über Stalins „Hof“ für Aufsehen.2 Als erster Autor nahm Montefiore den Personenkreis im Umfeld des Sowjetdiktators und das Alltagsleben der Stalinschen „Magnaten“ hinter den Kremlmauern in den Blick. Auf der rein faktischen Ebene geht Fitzpatrick nicht über das hinaus, was man bei Montefiore lesen kann. Ihr Buch hebt sich aber durch einen sachlichen Tonfall, analytisches Interesse und die kenntnisreiche Ausleuchtung des historischen Hintergrundes positiv von Montefiores Werk ab, das wissenschaftlich anspruchslos ist und ganz auf reißerische Unterhaltung und grelle Schockeffekte setzt.

Fitzpatrick, bekannt geworden als Sozialhistorikerin, hat sich in jüngerer Zeit verstärkt der politischen Geschichte unter Stalin zugewandt. Sie möchte ihr neues Werk als „Alltagsgeschichte der hohen Politik“ verstanden wissen, als Pendant zu ihrem Buch „Everday Stalinism“ aus dem Jahr 1999.3 Ging es in ihren früheren Arbeiten darum, die Formen und Wirkungen stalinistischer Herrschaft aus der Sicht der Bevölkerung zu untersuchen, so nimmt Fitzpatrick diesmal die Perspektive der politischen Elite und der Entscheidungsträger ein. Fitzpatricks Interesse richtet sich auf Praktiken, Spielregeln und die Dynamik personaler Beziehungen an der Spitze der Machtpyramide, weniger auf Institutionen und die bolschewistische Ideologie.4 Die enge Verquickung politischer Zusammenarbeit und privaten Umganges in Stalins Gefolge steht als dominantes Leitmotiv im Mittelpunkt der Erzählung, die einen relativ großen Zeitraum umspannt und den Stalinschen Führungszirkel durch mehrere Entwicklungsstadien und historische Etappen begleitet.

Fitzpatrick arbeitet heraus, wie Stalins Team in den 1920er-Jahren allmählich Gestalt annahm und welche personellen Veränderungen es bis zum Tod des Diktators erlebte. Sie macht deutlich, wie sich die Beziehungen innerhalb der Führungsgruppe wandelten, als Stalin vom Ersten unter Gleichen zum Diktator aufstieg. Wer waren die Männer, die der Generalsekretär um sich scharte? Welche Handlungsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten besaßen sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten, in den 1920er-und 1930er-Jahren, während des Zweiten Weltkrieges, in der Nachkriegszeit? Welche Ähnlichkeiten wiesen ihr Werdegang, ihr Habitus, ihr Bildungshintergrund, ihr intellektueller Horizont auf? Nach welchen Kriterien rekrutierte Stalin seine Mitstreiter, und worauf beruhte seine schon früh unumstrittene Autorität innerhalb des Führungszirkels? Wie wirkte sich das Leben in Stalins Nähe auf die Angehörigen der Parteiführer aus? Diese Fragen strukturieren die Darstellung, die narrative und analytische Aspekte miteinander kombiniert. Fitzpatrick stützt sich auf die westliche und russische Sekundärliteratur, Memoiren sowie Quelleneditionen, die seit 1991 erschienen sind (z.B. Briefwechsel, Stenogramme). Unveröffentlichtes Archivmaterial ist nur punktuell eingeflossen.

Das Buch weist Stärken und Schwächen auf. Positiv hervorzuheben ist, dass Fitzpatrick auf vergleichsweise knappem Raum eine kompakte akteurszentrierte politische Geschichte der Sowjetunion zwischen Lenins Tod und der Entstalinisierung unter Chruschtschow bietet. Trotz gelegentlicher Neuzugänge und Abgänge zeichnete sich der Führungskreis durch eine bemerkenswerte personelle Kontinuität aus. In der Geschichte des Teams spiegeln sich mehrere Jahrzehnte der sowjetischen Geschichte, von der Neuen Ökonomischen Politik bis hin zu den düster-bizarren Tagen des Spätstalinismus und darüber hinaus. Das Team setzte sich gegen innerparteiliche Konkurrenten durch, unterjochte die Bauern und katapultierte die Sowjetunion in die Industriemoderne. Stalin war ab Mitte der 1930er-Jahre mächtig genug, hohe Funktionäre nach Belieben fallen und liquidieren zu lassen, aber dennoch blieb er stets auf einen Kreis von engen Mitarbeitern und Vertrauten angewiesen. Ein vollständiger Verzicht auf kollektive Beratung und Entscheidungsfindung war nicht möglich. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Kapitel über die Zeit nach Stalins Tod. Mit Nachdruck würdigt Fitzpatrick, dass das Team 1953 konsequent mit Stalins gewalttätigen Herrschaftsmethoden brach und den geordneten Übergang in politische Verhältnisse vollzog, in denen Terror und Repression keinen Platz mehr hatten. Wer hätte damals ausgerechnet Stalins langjährigen Mitstreitern die Fähigkeit zu einem solchen Neuanfang zugetraut?

Zumindest für diejenigen Leser, die mit der politischen Geschichte der Sowjetunion bereits gut vertraut sind, ist es ein Manko des Buches, dass sich Fitzpatrick ausschließlich auf bekanntem Terrain bewegt und nirgendwo Neuland erschließt. Es fehlt dem Buch an Spannungs- und Überraschungsmomenten; Verlauf und Ende der Erzählung sind von Anfang an absehbar. Die Geschichte der Diadochenkämpfe nach Lenins Tod wird nicht interessanter, wenn sie zum hundertsten Mal erzählt wird. Das Gleiche gilt auch für die anderen Ereignisse, Entwicklungen und Zäsuren der Sowjetgeschichte unter Stalin und Chruschtschow, die Fitzpatrick behandeln muss, weil Thema und chronologischer Aufbau des Buches es erfordern. Ein substantieller Zugewinn an Erkenntnis stellt sich im Laufe der Lektüre nicht ein. Fitzpatrick sagt nichts Originelles über Stalin und die Mitglieder seines Teams. Stattdessen greift sie auf Attribute zurück, die seit vielen Jahren fester Bestandteil der Literatur über Stalin und das Politbüro sind und mittlerweile abgedroschen klingen: Molotow war „uncharismatisch“, Woroschilow „schneidig“, Kaganowitsch „grobschlächtig“, Ordschonikidse „temperamentvoll“. Fitzpatricks Kollektivbiographie mit ihren eher holzschnittartigen Porträts macht weitere biographische Einzelstudien nicht überflüssig, im Gegenteil, sie verdeutlicht, wie viel biographische Forschung zum sowjetischen Führungspersonal noch geleistet werden muss. Sheila Fitzpatricks Buch ist vor allem für jene Leser von Interesse, die eine seriöse Alternative zu Montefiores Werk suchen und sich über die Geschichte der Stalinschen Führungsgruppe informieren wollen, ohne sich durch alle biographischen und monographischen Einzelstudien arbeiten zu müssen.

Anmerkungen:
1 Nur die wichtigsten Titel seien hier genannt: E.A. Rees (Hrsg.), Decision-making in the Stalinist Command Economy, 1932–1937, Basingstoke 1997; Oleg Chlewnjuk, Das Politbüro. Mechanismen der Macht in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, Hamburg 1998; Paul R. Gregory (Hrsg.), Behind the Façade of Stalin’s Command Economy. Evidence from the Soviet State and Party Archives, Stanford 2001; William Taubman, Khrushchev. The Man and His Era, New York 2003; Kees Boterbloem, The Life and Times of Andrei Zhdanov, 1896–1948, Montreal 2004; E.A. Rees (Hrsg.), The Nature of Stalin’s Dictatorship. The Politburo, 1924–1953, Basingstoke 2004; Robert Service, Stalin. A Biography, London 2004; Yoram Gorlizki / Oleg Khlevniuk, Cold Peace. Stalin and the Soviet Ruling Circle, 1945–1953, Oxford 2004; Derek Watson, Molotov. A Biography, Basingstoke 2005; Kevin McDermott, Stalin. Revolutionary in an Era of War, Basingstoke 2006; Paul Gregory / Norman Naimark (Hrsg.), The Lost Politburo Transcripts. From Collective Rule to Stalin’s Dictatorship, New Haven 2008; Stephen Kotkin, Stalin. Bd. 1: Paradoxes of Power, 1878–1928, New York 2014.
2 Simon Sebag Montefiore, Stalin. The Court of the Red Tsar, London 2003.
3 Sheila Fitzpatrick, Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times, New York 1999.
4 Sheila Fitzpatrick, Politics as Practice. Thoughts on a New Soviet Political History, in: Kritika 5 (2004), S. 27–54.

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