Cover
Titel
Kampf dem Verbrechen. Kriminalpolitik und Strafrechtsreform in der Schweiz 1870–1950


Autor(en)
Germann, Urs
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
291 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sabine Freitag, Universität Bamberg

Auch wenn gegenwärtig die „Geschichte der Gewalt“ die Kriminalitätsgeschichte zu verdrängen scheint, so zeigen jüngere Arbeiten zur historischen Kriminalitätsforschung doch, wie viel Potential in ihnen steckt. Die Studie von Urs Germann, seit langem ausgewiesener Kenner der schweizerischen Justiz-, Gefängnis- und Kriminalitätsgeschichte, ist dafür ein gutes Beispiel. Kenntnisreich und detailliert rekonstruiert er die komplexe und äußerst langwierige Entstehungsgeschichte des erst 1937 fertig gestellten, 1938 per Volksentscheid angenommenen und 1942 in Kraft getretenen schweizerischen Strafgesetzbuches. Dabei lassen sich die Ursprünge der in diesem Strafgesetzbuch zum Ausdruck kommenden strafrechtlichen Leitvorstellungen und kriminalpolitischen Konzepte auf das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts zurückführen. Bereits zu diesem Zeitpunkt ließ sich in allen westeuropäischen Ländern wie England, Frankreich, Italien, Deutschland, Schweden oder auch der Schweiz eine politische Verunsicherung beobachten, die sich in einer wachsenden Kritik an den nationalen Polizei-, Justiz- und Strafvollzugsbehörden äußerte. Ihnen wurde die Unfähigkeit vorgeworfen, der (angeblich) steigenden Kriminalität wirksam zu begegnen. Was folgte, war ein kollektiver Reformaufbruch zur Verbrechensbekämpfung mit drei Zielrichtungen: Schutz der Gesellschaft, Unschädlichmachung des Gemeingefährlichen und soziale (Re-)Integration des Besserungsfähigen.

An der Rekonstruktion des Entstehungsprozesses des schweizerischen Strafgesetzbuches lässt sich nun exemplarisch zeigen, mit welcher Ambivalenz die Entwicklung zum Wohlfahrtstaat und die neuen Formen der Verbrechensbekämpfung verbunden waren, und wie die Legitimierung und Verfestigung kombinierter (dualer) Strafkonzepte aus schuldadäquater Strafe und präventiven sichernden Maßnahmen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein große Wirkungsmacht entfalteten. In drei Hauptkapiteln wird diese Entwicklung unter jeweils anderer Perspektive ausgeleuchtet. So fragt das dritte Kapitel zunächst nach der Rolle und Funktion der internationalen Strafrechts- und Gefängnisreformbewegung (vor allem die Internationalen Gefängniskongresse ab 1871, die Kriminalanthropologischen Kongresse ab 1885 und die Treffen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung ab 1889) für das nationale schweizerische Strafrechtskodifikationsprojekt. Wie hat man sich die grenzüberschreitenden Verflechtungs- und Transferprozesse durch den Austausch zwischen Schweizer Juristen und Strafvollzugsbeamten und ihren europäischen und amerikanischen Kollegen vorzustellen? Urs Gemann kann überzeugend aufzeigen, dass die schweizerische Strafrechtskodifikation zwar Teil eines transnationalen Reformdiskurses war, diesem Austausch für die eigene Entwicklung allerdings eher eine Anregungs- und Impulsfunktion zukam. Was den Prozess des Austauschs selbst betraf, so befand sich die Schweiz keineswegs in der Rolle einer passiven Rezipientin, sondern brachte mit dem von Carl Stoos entwickelten Konzept der Sicherungsverwahrung (erster Vorentwurf 1893) einen „Exportschlager“ ins Spiel, den andere Länder aufgriffen, weiterentwickelten oder sogar im Alleingang realisierten (z.B. Großbritanniens „preventive detention“ von 1908). Umgekehrt orientierten sich die schweizerischen Kantone ab 1912 am amerikanischen Jugendgerichtsmodell, indem sie eigene Jugendgerichte und jugendadäquate Sanktionsformen schufen.

Das vierte Kapitel widmet sich den konkreten inhaltlichen „Übersetzungsvorgängen“ im Ringen um die Bundeskodifikation, in denen die programmatischen Entwürfe der „kriminalistischen Internationale“ (S. 247) mit den institutionellen Modellen bereits bestehender (sozial-)disziplinarischer Institutionen wie Heime, Zwangserziehungs-, Verwahr-, Heil-, Korrektur-, Pflege- oder Arbeitsanstalten in der Schweiz verknüpft wurden. Deutlich wird hier, wie stark situative Ausprägungen eine Rolle spielten (auch die Herausbildung kantonspezifischer Pfadabhängigkeiten wird sichtbar), die nur bedingt politisch gesteuert oder beeinflusst werden konnten. Es kam hier deutlich – in Anlehnung an eine Formulierung von Thomas Biebricher – zu einer „Überlagerung von Disziplinarpraktiken und Formen des Rechts“ mit allen Problemen, die sich daraus ergaben, zum Beispiel für die Richter, die nicht nur über ein angemessenes Strafmaß, sondern jetzt auch über fürsorgerische oder medizinische Leistungen entscheiden mussten, die sich an der Einschätzung über die künftige Lebensführung des Delinquenten (mögliche Erziehung, Behandlung oder Besserung) ausrichten sollten. So wurde beispielsweise die bedingte Strafaussetzung (Bewährung) an eine Schutzaufsicht gekoppelt, die aus der privaten Entlassenenfürsorge der karitativen Verbände bereits bekannt war. Modelle der administrativen Versorgung wurden zu Modellen strafrechtlicher Verwahrung, Sicherung oder Kontrolle.

Das fünfte Kapitel nimmt schließlich den politischen Rahmen unter die Lupe, innerhalb dessen das nationale Kodifikationsprojekt durch die radikaldemokratische Mehrheit in der Bundesverfassung – in der Regel gegen den Widerstand der katholischen Kantone – verfolgt wurde. Es fragt nach den Realisierungschancen und Formen der Implementierung des (neuen) kriminalpolitischen Präventivstrafrechts, aber auch nach den möglichen Einschränkungen und Grenzen der Reformen, die das System der direkten Demokratie und des schweizerischen Föderalismus bedingte. Die Ergebnisse sind aufschlussreich: Zunächst lässt sich feststellen, dass der nationale Kampf um die Rechtseinheit ab den 1890er-Jahren die kantonalen Reformbestrebungen auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung keineswegs paralysierte. Einzelne Kantone fungierten insofern als „Experimentierfelder“ (S. 20, S. 242 und S. 252), als sie über Einzelerlasse vorwegnahmen und auf Tauglichkeit testeten, was erst viel später auf Bundesebene mehrheitsfähig wurde. Zugleich lag in den strukturellen Gegebenheiten der Schweiz aber auch ein Grund dafür, dass die Kodifikation so viel Zeit in Anspruch nahm. Die Sachzwänge des direktdemokratischen und föderalistischen Systems verzögerten nicht nur die Reformumsetzung, sie beschränkten auch die Neugestaltung des materiellen Rechts dahingehend, dass eine Realisierungschance nur hatte, was im bestehenden strafrechtlichen Regelwerk zwar modifiziert und ergänzt, aber eben nicht vollkommen ersetzt wurde. Mit anderen Worten: Die neuen kriminalpolitischen Konzepte konnten nur unter Zugeständnissen und durch Kompromisse ein- und angepasst werden, damit sie mit den vorhandenen nationalen – oder besser kantonalen – Strukturen wenigstens ansatzweise kompatibel erschienen. Auf der Suche nach funktionalen Formen sozialer Kontrolle musste aus Mangel an Alternativen ohnehin auf das kantonale Verwaltungs- und Polizeirecht zurückgegriffen werden.

Urs Germann hat keine vergleichende Strafrechtsgeschichte angestrebt. Die Ähnlichkeiten zu Ländern wie Deutschland, Großbritannien oder Schweden, in denen zeitgleich eine Strafrechts- und Gefängnisreform eingeleitet wurde, sind offenkundig. Auch in diesen Ländern fiel die Bestimmung der überaus prominent verhandelten Figur des Gewohnheitsverbrechers ambivalent und wenig konzise aus, und das Konzept zur Sicherungsverwahrung mit der als ‚therapeutisch‘ besonders wertvoll eingeschätzten Unbestimmtheit rief überall Widerstand hervor, weil es zeitgenössische Rechtsauffassungen verletzte. Überhaupt ließ sich weder in der Schweiz noch anderswo befriedigend klären, worin der eigentliche Unterschied zwischen einer Gefängnisstrafe und einer sichernden Maßnahme bestehen und woran sich Besserung ablesen lassen sollte. Zu Recht beschreibt Urs German diese juristischen Bestimmungsverfahren als bricolage (S. 251), weil sie eher an eine eklektizistische Bastelarbeit mit unterschiedlichen Materialien erinnerten.

Auch in der Schweiz wurden Delinquenz und Devianz um die vorletzte Jahrhundertwende vor allem als soziopathologische Anpassungsdefizite an die Erfordernisse moderner Industriegesellschaften aufgefasst. Rechtswidrigkeit galt als Problem sozialer Konformität. Begriffe wie Liederlichkeit, Verwahrlosung oder Arbeitsscheu bestimmten Kriminelle als wahre Feinde der bürgerlichen Ordnung und Effizienz. Diese Bezeichnungen waren den Zuschreibungspraktiken von Strafvollzug, Armenpolizei und privater Jugendhilfe des 19. Jahrhunderts entnommen und offenbarten noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein erstaunliches Beharrungsvermögen. Nicht die für die strafrechtliche Behandlung relevante Straftat, sondern die Lebensführung des Täters geriet in den Fokus und damit die Frage, ob der Straftäter erfolgreich zu einem gesellschaftskonformen Lebensstil gebracht werden könnte und wenn ja, mit welchen Mitteln. Die meisten der Erfolg versprechenden Mittel wurden dann als rechtens betrachtet. Genau in dieser Verschiebung liegt vermutlich eine Erklärung dafür, warum die Einbindung und Mitarbeit privater Akteure disziplinarischer Institutionen als Teil der sichernden Maßnahmen des präventiven Strafrechts in der Schweiz so gut funktionierte. Ihre Arbeit wurde aufgewertet, zugleich zementierte sich das dieser Tätigkeit zugrunde liegende Menschenbild. Jedenfalls erfuhr diese Bestimmung des devianten Menschen in den entsprechenden Schweizer Institutionen über Jahrzehnte keine grundlegende Revision. Um dieses Beharrungsvermögen erklären zu können, muss künftige Forschung verstärkt den Fokus auf die Agenten und Agenturen der sichernden Maßnahmen jenseits der dominanten (juristischen) Expertenzirkel richten. Sie muss in die Heime und Verwahranstalten schauen, nicht nur um die Folgen dieser erstarrten Zuschreibungen in Form von Missständen und Übergriffen ans Licht zu bringen, sondern auch um Aufschluss darüber zu erlangen, warum im zivilgesellschaftlichen Diskurs der Schweiz so lange ein „sehr enges bürgerliches Weltbild“1 verteidigt wurde. Es steht zu vermuten – und dies ist eine Erkenntnis, die sich auch aus der vorliegenden Studie ziehen lässt –, dass nicht das politische System per se darüber entscheidet, welche Lern- und Wandlungsprozesse diesbezüglich zugelassen werden, sondern der Zustand und das Selbstverständnis der Zivilgesellschaft selbst. Um 1900 galten die Schweiz, Schweden und Großbritannien als demokratisch verfasste Staaten. Trotzdem hat nur Großbritannien eine eugenisch motivierte Strafpolitik und Sozialkontrolle frühzeitig abgelehnt. Der Grund dafür lag nicht in neuen wissenschaftsimmanenten Erkenntnissen, die auch in der Schweiz und Schweden zugänglich gewesen wären. Er lag in der Struktur der Gesellschaft selbst.

Anmerkung:
1 Günter Stratenwerth, Zur Rechtsstaatlichkeit der freiheitsentziehenden Massnahmen im Strafrecht. Eine Kritik des geltenden Rechts und des Entwurfs 1965 für eine Teilrevision, in: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht, 82 (1966), S. 337–384 (zitiert nach Germann, S. 243).

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension