W. Behringer: Tambora und das Jahr ohne Sommer

Cover
Titel
Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte


Autor(en)
Behringer, Wolfgang
Erschienen
München 2015: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
398 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dominik Collet, Historisches Seminar, Universität Heidelberg

Die Verflechtungen von Natur und Geschichte erfahren aktuell große Aufmerksamkeit. Angesichts von Klimawandel und der Zunahme extremer Wetterereignisse stellt sich erneut die Frage, wie man in der Vergangenheit auf ökologische Herausforderungen reagiert hat. Bisher wird die Debatte weitgehend von Beiträgen der Naturwissenschaften bestimmt. Dass ahistorische und klimadeterministische Beiträge die öffentliche Wahrnehmung dominieren, ist auch eine Folge der Zurückhaltung der Geschichtswissenschaft. Erfreulicherweise hat Wolfang Behringer jetzt eine Studie vorgelegt, die mit dem „Jahr ohne Sommer“ 1816 ein zentrales Extremereignis in seiner ganzen sozio-naturalen Dimension untersucht.

Das Buch richtet sich angesichts des 200. Jahrestages dieses Ereignisses an ein breiteres Publikum. Der Ausbruch des Vulkans Tambora und die daraus resultierenden Klimaanomalien in den beiden Folgejahren verdichten die Mensch-Umwelt-Beziehungen in einem zugänglichen Ereignis. Die Arbeit ist aber auch für die Forschung einschlägig: Sie bietet die beste Synthese zu dem Thema und führt sowohl die unzähligen regionalen Studien als auch die Arbeiten aus den Nachbar- und Naturwissenschaften kompetent zusammen. In Kombination mit einem globalen Zugriff deckt der Band so zahlreiche neue Verknüpfungen zwischen dem Naturereignis und den historisch-gesellschaftlichen Entwicklungen verschiedener Weltregionen auf. Das Buch will aber noch mehr: Wolfgang Behringer zielt darauf, das 19. Jahrhundert neu zu denken und die „Tamborakrise“ (S. 11) als zentralen Katalysator großer historischer Entwicklungen zu etablieren. Die Konjunkturen von religiöser Erneuerung, Antisemitismus, Antiliberalismus, die Entstehung von Pauperismus und globalen ökonomischen Ungleichgewichten „ergeben in ihrem Ablauf erst vor dem Hintergrund der Tamborakrise Sinn“ (S. 323). Diese weitreichende These wird Widerspruch auslösen, da das populäre Format nur einen eng begrenzten Fußnoten- und Belegapparat erlaubt. Um zu überprüfen, ob es sich in jedem Fall um Kausalitäten statt um bloße Korrelationen handelt, werden weitere Detailstudien nötig sein. Das Panorama der von Behringer ausfindig gemachten Berührungspunkte von Natur und Geschichte ist in jedem Fall beeindruckend und lädt zum Nachdenken und -forschen ein. Es resultiert im wohl begründeten Schlussappell, Natur als historisch wirksame Kategorie wiederzuentdecken (S. 323).

Konzeptuell versteht Behringer die Klimaanomalie der Jahre 1815–1817 als „Experiment“ (S. 9). Es erlaube zu beobachten, wie sich verschiedene historische Gesellschaften unter vergleichbarem äußerem Stress verhalten haben. Den Untersuchungsraum wählt Behringer daher nicht anhand nationaler Grenzen, sondern entsprechend der globalen Umweltwirkung des Vulkanausbruchs. Neben dem Schwerpunkt Bayern nimmt er Europa, Indonesien, Indien und Amerika in den Blick. Die Naturereignisse werden aus der paläoklimatischen Literatur und seiner eigenen Klimageschichte rekonstruiert.1 Für die kulturellen Konsequenzen stützt Behringer sich vor allem auf Zeitungen und Sekundärliteratur. Die Auswertung von weiterem Quellen- und Archivmaterial erfolgt trotz der reichen Dokumentation nur punktuell. Der Band erzählt eine Geschichte. Dies geschieht in kurzen thematischen Kapiteln und weitgehend chronologisch. Dass dieses Vorgehen trotz der inhaltlichen Fülle und der weiten geographischen Räume überzeugt, spricht für das schriftstellerische Können des Autors.

Im Verlauf des Buches ergänzt oder revidiert Behringer einige historische Gemeinplätze. In Europa verdeckten die Napoleonischen Kriege lange die nachfolgende Klima- und Hungerkrise. Mithilfe der globalen Perspektive lässt sich diese Verengung überzeugend hinterfragen. So wird plausibel, wie Kriegsfolgen und Witterung einander verstärkten. Auch in anderen Feldern, die bisher nahezu ausschließlich politik-, ökonomie- oder ideengeschichtlich interpretiert worden sind, kann die Studie den Einfluss der Klimaanomalie gut belegen – etwa bei den Reformen der Armenfürsorge und des Agrarsystems oder der Etablierung von Meteorologie und Hydrologie. Hier schlägt Wolfgang Behringer schlüssige Korrekturen vor. Weniger klar zu belegen, aber durchaus überzeugend sind die Verweise auf den kulturellen Niederschlag der Krise. Sie reichen von Weltuntergangshysterien in Londoner Zeitungen, über Literatur, Feste und Lieder (Stille Nacht, heilige Nacht), bis zu Schwärmertum und neuer Religiosität. Dieser Teil des Buches ist eine wahre Fundgrube, der die Pluralität kultureller Aneignungen des Naturgeschehens belegt.

Es gibt aber auch Abschnitte, in denen der synchrone Zugriff an Grenzen stößt. Die Bemerkungen zu Pauperismus, Antisemitismus und Migration hätten sicher davon profitiert, wenn sie in einen längeren Zeitraum eingeordnet worden wären. Die der erzählenden Form geschuldete Beschränkung auf die „Krise“ und die Jahre 1815–20 suggeriert hier zuweilen Beziehungen, die bei einem längeren Blick weniger eindeutig ausfallen. Dies gilt zumal, da das Buch ganz auf Geschichtsnarration setzt und auf quantifizierende oder statistische Auswertungen fast vollständig verzichtet, die andere Arbeiten produktiv verwenden.2 Zuweilen irritiert, dass der knappe Verweisapparat kaum erlaubt, die facettenreichen Quellen der Kritik und Kontextualisierung zu unterziehen (zumal einige Texte in der Erstnennung nicht sauber aufgelöst sind, etwa Klein, S. 346 und Gestrich, S. 348). Die vielen zeitgenössischen Stimmen, die Behringer zu Wort kommen lässt, kann der Leser in Intention, Adressaten und Umfeld so nur vage einordnen.

Die klare Stärke des Buches liegt in der mit großem Überblick praktizierten Integration bisher weit verstreuter Quellen und Wissensbestände. Dies gilt sowohl für die globale Zusammenschau der Krisenfolgen, als auch für die Verknüpfung der unterschiedlichsten Wissenschaftsfelder und zumal für die Verflechtung von Natur und Kultur. Die Hungerkrise erweist sich als zentrale Schnittstelle, die hier alle gesellschaftlichen Bereiche verbindet. Der Mehrwert des globalen umweltgeschichtlichen Zugriffs wird bei der transkontinentalen Ausbreitung von Für- und Vorsorgetechniken, von Krankheiten, Protesten und Migranten in den Krisenjahren besonders deutlich. Hier werden überzeugend bisher unverbunden gebliebene Phänomene verknüpft und die für die Zeitgenossen kaum erfassbare Reichweite der „Tamborakrise“ greifbar gemacht. Damit geht Behringer deutlich über den bisherigen Stand der Forschung hinaus.3 Die mit dem globalen Zugriff notwendig verbundenen Unsicherheiten werden offen benannt (etwa bei den Entwicklungen in China, Afrika oder Asien, S. 162, 310–14). Trotz des Bemühens um eine „neue Meistererzählung“ (S. 323) klimakultureller Verknüpfungen, verweist Behringer ebenso deutlich auf die Pluralität menschlicher Reaktionen und die abgestufte Fernwirkung der Witterung, die etwa Landwirtschaft und Ökonomie weit direkter beeinflusste als Politik und Kultur.

Das Buch macht die sozio-naturalen Verflechtungen historischer Gesellschaften jenseits von deterministischen Wirkungspostulaten plausibel. Zugleich leidet es jedoch unter dem begrenzten Belegapparat, der die Überprüfung im Detail erschwert. Als inspirierender Studie über die gemeinsame Geschichte von Natur und Kultur wünscht man ihr dennoch viele interessierte Leser aus den historischen Wissenschaften.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur Erwärmung, München 2007.
2 Daniel Krämer, „Menschen grasten nun mit dem Vieh“. Die letzte grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/17 (Wirtschafts- Sozial- und Umweltgeschichte 1), Basel 2015.
3 Christian Pfister / Jürg Luterbacher, The year without a summer, in: Nature Geoscience 8 (2015), S. 246–248.

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