M. Windisch: Behinderung – Geschlecht – Soziale Ungleichheit

Cover
Titel
Behinderung – Geschlecht – Soziale Ungleichheit. Intersektionelle Perspektiven


Autor(en)
Windisch, Monika
Reihe
Gesellschaft der Unterschiede
Anzahl Seiten
229 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Martina Klausner, Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin

Wie kann eine intersektionelle Perspektive zu einem besseren Verständnis des Zusammenspiels von sozialer Ungleichheit, Behinderung und Geschlecht beitragen und welche, vor allem auch politisch relevanten Anknüpfungspunkte erzeugt ein Querlesen der entsprechenden politischen, rechtlichen wie sozialwissenschaftlichen Debatten hierzu? Mit ihrer Monographie „Behinderung, Geschlecht, soziale Ungleichheit. Intersektionelle Perspektiven“ geht Monika Windisch diesen Fragen nach und bietet en passant eine umfassende Zusammenschau zentraler sozialwissenschaftlicher Diskurse sowie rechtlicher wie gesellschaftspolitischer Entwicklungen in den entsprechenden Feldern – wobei der Topos Behinderung die zentrale Referenzgröße der drei Themen darstellt. Auch wenn die Forderung nach einer intersektionellen Perspektive nun schon seit einigen Jahren gestellt wird, finden die Diskussionen, so zeigt Windisch auf, in den Disability Studies wie der Geschlechterforschung sowie in sozialwissenschaftlicher Forschung zu sozialer Ungleichheit noch erstaunlich getrennt voneinander statt. An dieser forschungsprogrammatischen Lücke setzt die Autorin an, und es gelingt ihr überzeugend und mit einer angemessenen Tiefe auf die unterschiedlichen Diskussions- und Theoriestränge einzugehen, aber auch aufscheinende Homogenisierungs-Tendenzen in den entsprechenden Debatten zu problematisieren.

Ihre Monografie gliedert Windisch in sechs Kapitel, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven der Trias soziale Ungleichheit, Geschlecht und Behinderung nähern und eine zunehmend komplexere Lesart dieser Phänomene und ihrer Verschränkungen anbieten. Dieses Mäandern im durchaus positiven Sinne zeichnet das Buch aus. Vorweg gesagt: Sicherlich lassen sich die einzelnen Kapitel auch als gute Überblickslektüre in die verschiedenen Themen lesen; aber gerade in der Zusammenschau ergeben sich für den Leser / die Leserin entscheidende Verknüpfungen, die den besonderen Mehrwert des Buches ausmachen. Allerdings kommt ausgerechnet die Explikation der versprochenen intersektionellen Perspektiven sehr spät; hilfreicher wäre es gewesen diese zu Beginn der Monographie einzuführen, wodurch sich eine stärkere Referenzialität zwischen den Kapiteln ergeben hätte. So bleibt dies oftmals implizit und dem Leser / der Leserin überlassen.

Das erste Kapitel beginnt Windisch mit einer ausführlichen Diskussion körpersoziologischer Ansätze, die auf die Ko-Konstruktion von gesellschaftlichen Wertzuschreibungen und Normalitätsvorstellungen, institutionalisierten Normalisierungs- und Normierungspraktiken und dem körperlichen Erleben verweisen. Damit öffnet Windisch an dieser Stelle geschickt einen Zugang zu Problematisierungen einer scheinbar naturgegebenen Körperlichkeit sowohl in Bezug auf Geschlecht in den Gender Studies als auch auf Nicht/Behinderung in den Disability Studies, den sie mit Ansätzen aus den Queer Disability Studies ergänzt.

In der Diskussion verschiedener Erklärungsmodelle von Behinderung gelingt es ihr zudem, gängige Abgrenzungslinien zwischen den Modellen aufzubrechen und Tendenzen einer Homogenisierung in den jeweiligen Argumentationslinien kritisch aufzuzeigen. Bei Behinderung ginge es, so Windisch, eben nicht um ausschließlich individuelle oder kulturelle oder gesellschaftliche Faktoren; vielmehr handle es sich bei Behinderung um einen „Prozess der Wechselwirkung von körperlichen, psychologischen, kulturellen, sozialen und politischen Aspekten – und um einen Prozess, der wesentlich von Menschen mit Behinderungen (mit)gestaltet werden sollte“ (S. 39).

Dem dritten Leitthema des Buches – soziale Ungleichheit – widmet sich Windisch im zweiten Kapitel, in dem sie zuerst soziologische Erklärungsansätze von sozialer Ungleichheit Revue passieren lässt und schließlich auf die „doppelte Vergesellschaftung von Frauen“ und „Behinderung als besonderes Risiko“ – insbesondere für Frauen – eingeht. Hervorzuheben ist hier ihre Diskussion der durchaus ambivalenten Entwicklung einer Orientierung an den individuellen Bedürfnissen einerseits und einer zunehmend auf individuelle Leistungsfähigkeit ausgerichteten Sozial- und Arbeitsmarktpolitik andererseits, welche die Gefahr mit sich bringt, die strukturellen wie auch normativen, auf das Leistungsprinzip fokussierten, gesellschaftlichen Bedingungen auszublenden und soziale Ungleichheit wie auch mangelnde gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe wiederum zum Problem des Individuums zu machen.

Mit dieser Beobachtung leitet sie schließlich in das dritte Kapitel über, worin sie kurz die Entwicklung der UN-Behindertenrechtskonvention als Perspektivwechsel beschreibt: von einem Fokus auf Behinderung „im Kontext medizinischer Versorgung, Prävention und Rehabilitation“ zu Behinderung „als spezifische Rechtsposition“ (S. 102f.). Die besondere Rolle, die Menschen mit Behinderung als Experten und Expertinnen ihrer eigenen Lebenssituation nicht zuletzt aufgrund der politischen Aktivitäten von Betroffenenverbänden, diskutiert sie dabei durchaus kritisch und stellt die Frage, wie damit der Interessensvertretung wiederum ein Mindestmaß an Autonomiefähigkeit zugrundgelegt wird, dem schwerst- und mehrfachbehinderte Menschen in der Regel nicht gerecht werden können. Im Querlesen von behinderten- und frauenpolitischen Entwicklungen der letzten Jahre zeigt die Autorin, dass in den jeweiligen politischen Debatten der Fokus entweder auf Behinderung oder auf dem Geschlecht lag und somit die doppelte Diskriminierung von Frauen mit Behinderung in politischen Debatten weitestgehend unsichtbar blieb.

Mit dem vierten Kapitel führt sie verschiedene Diskussionsstränge zusammen und fragt, inwiefern Behinderung sowohl als soziale Kategorie (im Sinne sozialer Wahrnehmungs- und Bedeutungsmuster) als auch in ihrer gesellschaftsstrukturierenden Bedeutung (insbesondere als Grundlage arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Regulierung) aufgefasst werden kann und muss. Dieser Verschränkung gerecht zu werden war auch das Ziel verschiedener Kampagnen und Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft, die allerdings, wie die Autorin deutlich macht, sehr unterschiedlich umgesetzt wurden und „soziale Differenzierungen zwischen Menschen mit Behinderungen, Mehrfachdiskriminierungen und Ungleichheitsverhältnisse (...) zwar als politisch hoch relevant bewertet, (...) aber nur bedingt berücksichtigt“ (S. 142). Gerade da sich Windisch hier explizit kritisch mit Antidiskriminierungsrecht auseinandersetzt und problematisiert, dass damit zugleich Kategorien wie Behinderung und Geschlecht reifiziert würden, wäre es spannend gewesen ihre Einsichten mit aktuellen Debatten zu den Möglichkeiten und Grenzen eines postkategorialen Antidiskriminierungsrechts zu ergänzen.1

Das Versprechen des Untertitels einer intersektionellen Perspektive löst Windisch schließlich im fünften Kapitel ein und stellt verschiedene Ansätze aus der Intersektionalitätsforschung vor. Wie bereits erwähnt, wäre dies an früherer Stelle möglicherweise sinnvoller gewesen, gerade um diese Perspektive explizit in die verschiedenen Debatten, die sie in den vorangegangenen Kapitel skizziert, hineinzutragen und den Mehrwert dieser Perspektive explizit zu machen. So bleibt ausgerechnet dieses Kapitel zu wenig kontextualisiert, auch wenn Windisch am Ende des Kapitel einige wichtige Anmerkungen zur politischen Relevanz dieser Sichtweise macht. Mit dem sechsten und letzten Kapitel vor dem Fazit knüpft Windisch ein weiteres Mal an ihre Diskussion der Ausgangslagen und Effekte der UN-Behindertenrechtskonvention an.

Die in den sechs Kapitel deutlich herausgearbeiteten Ambivalenzen in den unterschiedlichen Auseinandersetzungen um gerechte Teilhabemöglichkeiten bei gleichzeitiger Anerkennung von Differenz bringt sie in ihrem Fazit noch einmal auf den Punkt und fordert Analysen, welche die Wechselwirkungen zwischen Ökonomie, Recht, Politik, Kultur, Identität und Körper ernstnehmen und damit auch Möglichkeiten für Veränderungen aufzeigen könnten. Behinderung sei, so hebt Windisch noch einmal hervor, als relativ flexible soziale Kategorie auch „untrennbar mit gesellschaftlichen Leistungserwartungen verknüpft“ und damit besonders sensibel für gesellschaftlich-strukturelle wie normative Veränderungen und damit einhergehende Verschiebungen von Verantwortlichkeit.

Fazit: ein durchaus lesenswertes Buch und insbesondere als solide Einführung und Zusammenschau verschiedener Debatten um Intersektionalität, soziale Ungleichheitsforschung, Disability und Gender Studies empfehlenswert. Die besondere Stärke der Monographie liegt im Hin und Her verschiedener Perspektiven, wenngleich – wie erwähnt – die zu Grunde liegende intersektionelle Problemstellung expliziter als roter Faden hätte genutzt werden können.

Anmerkung:
1 Beispielsweise Doris Liebscher / Tarek Naguib / Tino Plümecke / Juana Remus, Wege aus der Essentialismusfalle: Überlegungen zu einem postkategorialen Antidiskriminierungsrecht, in: Kritische Justiz 45/2 (2012), S. 204–218.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/