J. Gramlich: Die Thyssens als Kunstsammler

Cover
Titel
Die Thyssens als Kunstsammler. Investition und symbolisches Kapital (1900–1970)


Autor(en)
Gramlich, Johannes
Reihe
Familie – Unternehmen – Öffentlichkeit: Thyssen im 20. Jahrhundert 3
Erschienen
Paderborn 2015: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
428 S., 1 Grafik, 12 SW-Abb.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anja Heuß, Provenienzforschung, Staatsgalerie Stuttgart

Johannes Gramlich beschreibt in seiner Münchener Dissertation die Entstehung und Veränderung der Kunstsammlung Thyssen im Zeitraum 1900–1970 und damit über drei Generationen hinweg. Die geschichtswissenschaftliche Arbeit ist Teil einer sechsbändigen Reihe, herausgegeben von Hans Günter Hockerts, Günther Schulz und Margit Szöllösi-Janze, die die Ergebnisse eines Forschungsverbunds zu „Thyssen im 20. Jahrhundert“ dokumentiert.1 Nach einer Einführung in die Entwicklung des Kunstmarktes bis zur Mitte der 1920er-Jahre analysiert der Autor die Sammlungsstrategien der Familienmitglieder August Thyssen, seiner Söhne Fritz Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza, seines Enkels Hans Heinrich Thyssen und in einem knappen Ausblick den Kunstbesitz der Erben der Sammlung Schloß Rohoncz. Im Kern endet die Analyse 1970, weil auf wichtigen Quellen nach diesem Jahr noch Sperrfristen liegen. Die Arbeit fußt auf umfangreichen Archivrecherchen in deutschen und internationalen Archiven. Ausgewertet wurden insbesondere die Unterlagen des Thyssen-Krupp-Konzernarchivs, der Stiftung zur Industriegeschichte Thyssen und verschiedene Nachlässe von Kunsthändlern, mit denen die Thyssens in Verbindung standen.

August Thyssen (1842–1926), der Gründer der Dynastie Thyssen, erwarb vor allem Werke des zeitgenössischen Bildhauers Auguste Rodin, von dem er zwischen 1905 und 1911 sieben Marmorskulpturen kaufte. Darüber hinaus besaß er eine Reihe von Porträts und Selbstporträts, die zur Ausstattung seines Schlosses Landsberg (bei Essen) mit einer „Ahnenreihe“ dienen sollten. Aufgrund seiner Tätigkeit als Unternehmer fehlte ihm jedoch die Zeit, sich intensiv mit dem Kunstmarkt oder der Kunstgeschichte zu befassen. Bei seiner Beerdigung wurde eine seiner Rodin-Skulpturen, „Le Christ et la Madeleine“, hinter dem aufgebahrten Sarg aufgestellt. Diese Inszenierung von Kunst und Sammlung wurde auch bei den Beerdigungen seines Sohnes Fritz und dessen Frau Amélie fortgeführt.

August Thyssens Söhne Fritz und Heinrich bauten die Sammlung erheblich aus. In ihren Publikationen und Erinnerungen erhöhten sie rückblickend die Rolle und Bedeutung der Sammlung ihres Vaters beträchtlich und schufen so bewusst eine familiale Tradition. Beide Söhne waren finanziell gut ausgestattet und investierten in ihre Kunstsammlung nicht nur Geld, sondern auch viel Zeit. So beobachteten beide den Kunstmarkt sehr aufmerksam und studierten vor jedem Ankauf die kunsthistorische Literatur. Im Gegensatz zu ihrem Vater ließen sie sich auch von Kunsthändlern und Kunsthistorikern beraten. Der Reichtum des Unternehmers August Thyssen wurde somit von der zweiten Generation teilweise in kulturelles Kapital umgewandelt.

Sein ältester Sohn Fritz (1873–1951) baute in den Jahren 1900–1939 eine beträchtliche Sammlung auf. Im Herbst 1939 musste Fritz Thyssen mit seiner Frau vor den Nationalsozialisten in die Schweiz fliehen, nachdem er sich kritisch über die NS-Wirtschaftspolitik geäußert hatte. Das gesamte Vermögen, darunter die Kunstsammlung, wurde daraufhin am 11. Dezember 1939 beschlagnahmt. Die Beschlagnahmelisten haben sich erhalten, sind in dieser Publikation aber leider nicht abgedruckt. Bei dem Versuch, über Frankreich nach Argentinien zu fliehen, wurde das Ehepaar von der französischen Geheimpolizei verhaftet und an die deutsche Gestapo ausgeliefert. Bis Kriegsende blieben beide inhaftiert. In diesem Zeitraum war Fritz Thyssen auf dem Kunstmarkt gezwungenermaßen nicht mehr aktiv.

Auch sein Bruder Heinrich (1875–1947), der seit seiner Heirat und Adoption durch seinen ungarischen Schwiegervater nun Baron Heinrich Thyssen-Bornemisza hieß, stellte eine bedeutende Kunstsammlung zusammen, die bei öffentlichen Ausstellungen und Leihgaben als „Sammlung Schloß Rohoncz, Ungarn“ firmierte. Das Schloss Rohoncz (dt.: Rechnitz) hatte Heinrich Thyssen bereits 1906 als Erstwohnsitz für sich und seine Frau gekauft; im selben Jahr nahm er auch die ungarische Staatsbürgerschaft an. Der Name „Schloß Rohoncz“ war insofern irreführend, als er suggerierte, es handle sich womöglich um alten Adelsbesitz. Tatsächlich erwarb Heinrich Thyssen den Großteil seiner Sammlung erst später, als er in den Niederlanden lebte; Schloss Rohoncz war zu keinem Zeitpunkt der Hauptsitz dieser Kunstsammlung.

Zwischen 1926 und 1936 kaufte Heinrich Thyssen-Bornemisza für rund 50 Millionen Reichsmark über 500 Gemälde und kunstgewerbliche Gegenstände. 1930 versuchte er sogar, mit seiner Sammlung an die Öffentlichkeit zu gehen und sich selbst als Kunstmäzen zu profilieren, indem er seine Sammlung für eine Präsentation in der Münchner Pinakothek zur Verfügung stellte. Diese Ausstellung geriet zum Desaster, da sie den Aufhänger für eine erregte publizistische Diskussion über das „Expertisentum“ lieferte. Die Münchner Kunstwissenschaftliche Gesellschaft unter dem Vorsitz des Kunsthistorikers Wilhelm Pinder warf den Ausstellern vor, die Sammlung enthalte über 100 Fälschungen bzw. unhaltbare Zuschreibungen. Fritz Thyssen und seine Kunsthändler, allen voran der Münchner Kunsthändler Rudolf Heinemann, mussten sich den (unberechtigten) Vorwurf gefallen lassen, diese Ausstellung nur zu Verkaufszwecken organisiert zu haben. Dies musste einen übervorsichtigen Sammler, der ein Werk nur dann kaufte, wenn er zu dem entsprechenden Werk mindestens eine Expertise von einem renommierten Kunsthistoriker erhielt, hart angehen. Tatsächlich blieb es bei diesem einen Versuch von Heinrich Thyssen, seine Sammlung öffentlich zugänglich zu machen. Er brachte die Sammlung 1934 in seinem neuen Schweizer Wohnsitz in Lugano unter. Dort widmete er sich verstärkt seinen Kunstwerken, die jedoch nur ausgewählten Gästen des Hauses zugänglich waren.

Nach Heinrich Thyssens Tod 1947 baute insbesondere sein Sohn Hans Heinrich Thyssen-Bornemisza (1921–2002), laut Testament der Haupterbe, die Sammlung weiter aus. Der Vater hatte zudem festgelegt, dass die Familienstiftung samt Villa und Kunstsammlung als Ganzes erhalten bleiben solle. Dies konnte aufgrund der anstehenden Erbteilung jedoch nicht gewährleistet werden. Die Sammlung wurde aufgeteilt unter den vier Kindern; den Hauptteil erhielt Hans Heinrich, der die Kunstsammlung kurz darauf einsetzte, um eine relativ günstige steuerliche Bewertung des Vermögens in der Schweiz und nicht zuletzt die Einbürgerung zu erhalten. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde die Sammlung in Lugano ab 1948 öffentlich zugänglich gemacht; außerdem musste sich der Sammler verpflichten, die Werke nicht in ein anderes Land zu verlagern. (Die Vereinbarung hielt bis 1993, als der Sammler wegen der Auseinandersetzungen um einen Erweiterungsbau seine Sammlung an Spanien verkaufte. Seitdem wird sie in Madrid ausgestellt. Diese Vorgänge liegen jedoch außerhalb des Untersuchungszeitraumes.) In den 1970er- und 1980er-Jahren erweiterte Hans Heinrich seine Sammlung erheblich; so gab er allein zwischen 1970 und 1979 rund 170 Millionen Franken für den Ankauf von Kunstwerken aus. 1961 erwarb er erstmals Werke zeitgenössischer Künstler wie schon sein Großvater August Thyssen (der Geschmack seines Vaters und seines Onkels war dagegen eher konservativ gewesen). Bis zum Ende der 1980er-Jahre umfasste seine Sammlung mehr als 1.500 Gemälde. Dabei diente sie auch unternehmenspolitischen Imagezwecken: Hans Heinrich Thyssen-Bornemisza ließ Bildbände seiner Sammlung erstellen, die er als repräsentative Werbegeschenke seinen Geschäftspartnern überreichte.

Gramlich beleuchtet die unterschiedlichen Funktionen, die die Kunstsammlung für die verschiedenen Familienmitglieder hatte – von der ökonomischen Investition oder sogar Spekulation über Kunstbesitz zur Bildung von kulturellem Kapital und als politisch-patriotische Pflicht bis hin zur Bildung einer familialen bzw. dynastischen Tradition oder zur Repräsentation in der Gesellschaft. Gerade die Ereignisse um die Einbürgerung von Hans Heinrich Thyssen-Bornemisza in der Schweiz zeigen deutlich, welche vielfältigen, sich überlagernden Funktionen das Sammeln von Kunst erfüllen kann.

Leider hat der Autor, der seine Dissertation im Oktober 2013 vorlegte, nicht mehr die Datenbank „German Sales“ ausgewertet, die eine einzigartige Quelle für das Thema Kunsthandel im deutschsprachigen Raum bietet. Diese Datenbank, die im Februar 2013 freigeschaltet wurde und seither weiter ausgebaut wird, bietet Zugang zu inzwischen rund 7.000 Auktionskatalogen der Jahre 1901–1945.2 Außerdem gelingt es Gramlich nicht immer, dem Leser eine Vorstellung vom Profil der jeweiligen Sammlung und ihrer kunsthistorischen Bedeutung plastisch zu vermitteln. Dies liegt zweifellos daran, dass er als Highlights der Sammlung einen „Rembrandt“ oder einen „Vermeer“ namentlich erwähnt, ohne Titel, Aufenthaltsort oder Werkverzeichnisnummer anzugeben. Dies hätte sicherlich nur im Einzelfall geleistet werden können, wäre aber der Studie – vor allem im Zusammenspiel mit mehr Bildmaterial – sehr zugute gekommen. Hier merkt man, dass der Autor Historiker ist und sich im Unterschied zu Kunsthistoriker/innen für andere Aspekte mehr interessiert als für die Werke selbst.

So bietet Johannes Gramlich einen interessanten Überblick zu den Einflüssen der Oktoberrevolution, der Weltwirtschaftskrise, der Vermögenssteuer und des Nationalsozialismus auf den deutschen und internationalen Kunstmarkt. In der Auswahl der Sekundärliteratur geht er allerdings eher selektiv vor. Umso gründlicher analysiert er die Motive und Vorgehensweisen der einzelnen Familienmitglieder. Kunst konnte ein Mittel zur Repräsentation sein und besaß im Gesellschaftsleben auch eine kommunikative Rolle. Anfang des 20. Jahrhunderts war das Sammeln von Kunst zunehmend eine patriotische und wirtschaftsbürgerliche Pflicht. Im Einzelfall konnte eine Kunstsammlung sogar dazu dienen, die Schweizer Staatsbürgerschaft zu bekommen. Gramlich hat mit dieser Studie eine gründliche Analyse des Agierens einer Industriellendynastie auf dem Kunstmarkt vorgelegt. Vergleiche mit anderen bedeutenden Sammlern ihrer Zeit, die über mehrere Generationen gesammelt haben, fehlen jedoch. Damit wurde auch ein Aspekt vernachlässigt, der häufig ein weiteres Motiv für das Agieren auf dem Kunstmarkt darstellte: die Konkurrenz der Sammler untereinander.

Anmerkungen:
1 Siehe <https://www.schoeningh.de/katalog/reihe/familie_unternehmen_oeffen.html> (29.02.2016) und den Bericht von Jürgen Finger zur Abschlusstagung des Forschungsverbunds, in: H-Soz-Kult, 02.10.2014, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5583> (29.02.2016).
2 <http://www.arthistoricum.net/themen/themenportale/german-sales/auktionskataloge/cache.off> (29.02.2016).