P. Hoeres u.a. (Hrsg.): Herrschaftsverlust und Machtverfall

Titel
Herrschaftsverlust und Machtverfall.


Herausgeber
Hoeres, Peter; Owzar, Armin; Schröer, Christina
Erschienen
München 2013: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 312 S.
Preis
€ 69,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philip Hahn, Seminar für Neuere Geschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen

Der Sammelband geht zurück auf die Vorträge eines Festkolloquiums, das im Oktober 2008 anlässlich des 65. Geburtstags von Hans-Ulrich Thamer in Münster stattfand.1 Insgesamt 22 überwiegend kürzere Aufsätze von zumeist namhaften Vertreterinnen und Vertretern der Geschichtswissenschaft, Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaft finden sich darin in vier Sektionen gebündelt. Deren Titel – „Narrative und Erklärungsmodelle“, „Kommunikation und Repräsentation“, „Akteure und Wahrnehmungen“, „Strukturen und Transformationen“ – vermitteln zwar eine erste Orientierung hinsichtlich der im Band vertretenen Bandbreite an Fragestellungen und Erklärungsansätzen. Es handelt sich aber nicht um stringent durchkonstruierte Sektionen, was von einer solchen Festschrift auch nicht zu erwarten ist. Dennoch stellt sie keine lose Aufsatzsammlung dar; vielmehr bieten sich über die Sektionen hinweg vielfältige Bezugsmöglichkeiten, was den Band zu einer überaus anregenden Lektüre macht.

Erwartungsgemäß verorten die Herausgeber in ihrer Einleitung die Auseinandersetzung mit historischen Prozessen des Machtverfalls in einer bis zu Edward Gibbon zurückreichenden neuzeitlichen Tradition. Seitdem habe die Faszination für den Untergang inner- und außereuropäischer Reiche und Staatsgebilde nicht abgenommen und erlebe derzeit vor allem vor dem Hintergrund der internationalen Bedrohung durch sog. „failing states“ und der Verunsicherung in den USA hinsichtlich der eigenen Weltmachtstellung Konjunktur. Die Herausgeber identifizieren als Antrieb einer Beschäftigung mit dem Thema 1. die quasi triumphierende Selbstbestätigung derjenigen, die nicht vom Machtverfall bedroht sind, 2. das Bedürfnis, aus den Fehlern der Anderen zu lernen, und 3. die Bemühung, Makrotheorien des Machtverfalls mit historischen Fallbeispielen zu untermauern. Zumindest der dritte Zugang lässt sich auch im vorliegenden Band identifizieren, denn trotz aller Fokussierung auf konkrete historische Fallbeispiele, die Rolle von Akteuren und spezifische innere wie äußere Einflussfaktoren wird explizit danach gefragt, welche grundlegenden Gesetzmäßigkeiten von Machtverfall und Herrschaftsverlust sich identifizieren lassen.

Zwischen diesen beiden expliziten Gegenwartsbezügen bewegen sich die Beiträge zwischen der Antike (Peter Funke) und dem 20. Jahrhundert, wobei ein deutlicher Epochenschwerpunkt auf der Zeit seit der Französischen Revolution liegt. Fünf Beiträge beleuchten die französische Geschichte von Ludwig XVI. bis zur Restauration, sieben weitere sind Aspekten der deutschen Geschichte seit dem Untergang des Alten Reichs gewidmet. Lediglich Silke Hensels Analyse der strukturellen Ursachen der langfristigen Instabilität Mexikos nach der Verfassung von Cádiz 1812 weitet den Blick auf transatlantische Zusammenhänge, ansonsten ist der Band auf die Geschichte Europas beschränkt.

Methodisch ragt vor allem der Aufsatz von Ute Daniel hervor, denn Daniel bezieht eine Metaebene und unterwirft die narrativen Strukturen geschichtswissenschaftlicher Auf- und Abstiegserzählungen einer entlarvenden (und unterhaltsamen) Analyse. Am Beispiel eines Samples von 13 Überblickswerken (von 12 Historikern und einer Historikerin) zum Untergang des Alten Reichs verweist sie darauf, wie diese mittels bewusst oder (schlimmer) unbewusst eingesetzter Erzählmuster und Kameraschwenks eine Zwangsläufigkeit der Entwicklung erzeugen, die keinen Platz mehr lässt für das Herausarbeiten von „zeitgenössische[n] Ratlosigkeiten“ und „Eigendynamiken von Wechselwirkungsprozessen“ (S. 64), ohne welches auch historische Überblicksdarstellungen aus ihrer Sicht ihren Zweck verfehlen. Ansonsten unterschieden sie sich nämlich, so möchte man ergänzen, nicht wesentlich von den beiden alternativen Interpretationen des preußischen Niedergangs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die Heinz Duchhardt in seinem Beitrag vorstellt. Während nämlich Mirabeau, sein erster Gewährsmann, hierfür ein Bündel grundsätzlicher struktureller Schwächen des preußischen Staats verantwortlich machte, sah der Freiherr vom Stein allein negative Veränderungen in der Verwaltung als Ursache: Für den letzteren ist der Niedergang also alles andere als unaufhaltsam.

Ute Daniels Ansatz könnte man auch auf Rudolf Schlögls systemtheoretisch unterfütterte Analyse langfristiger struktureller Veränderungen der Machtbasis von Herrschaft im frühneuzeitlichen Europa anwenden. Tatsächlich schreibt dieser an einer Stelle, dass sich Rechtsregeln und Verfahren „unaufhaltsam […] über die gewaltbewehrte Macht“ legten (S. 43). Schlögls Entwicklungslinie vom unvorhersehbaren Einsatz arbiträrer Gewalt im frühen 16. Jahrhundert hin zum Policeystaat des späten Ancien régime erklärt in erster Linie den „Betriebsunfall“ der Hinrichtung Ludwigs XVI. sowie die sich anschließende Feststellung der Zeitgenossen, dass nicht er, sondern – in Schlögls Worten – die „institutionelle Apparatur des Staates“ die Macht ausgeübt hatte (S. 49). Hier geht es also um Machtverfall des Monarchen durch den Staatsbildungsprozess. Für die Unvorhersehbarkeit von Staatsstreichen (vgl. hierzu auch den Beitrag über die literarische Darstellung eines Machtwechsels von Jan Philipp Reemtsma), auf die Schlögl unter Bezug auf eine Schrift Gabriel Naudés kurz verweist (S. 46), ist in seinem modernisierungstheoretisch angehauchten Großnarrativ allerdings kein Platz, auch nicht für Prozesse der Entdifferenzierung, nach denen die Herausgeber gefragt hatten (S. 13). Ohnehin ist die Frage, wieviel Erklärungspotenzial das von Schlögl favorisierte Modell von Kommunikation und Beobachtung für das Thema des Bandes hat, und ob hier nicht eher das Konzept der ‚Bedrohungskommunikation‘ hilfreich wäre.2

Im Fall des Heiligen Römischen Reiches hatte die ältere Forschung dessen Untergang bereits mit der Festschreibung seiner unklaren Verfassungslage (Föderation oder lehnsrechtliche Hierarchie) vorprogrammiert gesehen, doch auch die revisionistische Tendenz, die Schwächen der Reichsverfassung hinweg zu interpretieren gehe fehl, so betont Barbara Stollberg-Rilinger. Sie plädiert dafür, deren „chimärischen Charakter“ ernst zu nehmen und schlägt vor, ihn mit dem aus der Organisationstheorie entlehnten Konzept der „organization of hypocrisy“ (S. 99) zur interpretieren. Denn das Reich in seiner Spätphase stehe geradezu beispielhaft für das einvernehmliche Verbergen strukturellen Machtverfalls durch die Aufrechterhaltung hergebrachter symbolischer Kommunikation (vgl. auch den Beitrag von Gerd Althoff zur „inszenierten Freiwilligkeit“ bei Machtwechseln im Mittelalter). Das Auseinanderklaffen der „institutionelle[n] Fiktion“ (S. 103) des Reichstags als Essenz des politischen Körpers des Reiches und seines politischen Bedeutungsverlusts demonstriert Stollberg-Rilinger anschaulich; sie begnügt sich aber mit der Darlegung dieses Phänomens und verzichtet auf eine Erklärung des abrupten – und ritualfreien – Aufhörens der Praxis „institutionalisierte[r] Heuchelei“ (S. 99) 1806, was für die Zeitgenossen (bekanntlich nicht für Goethe) ungeachtet des lange geübten Spottes über das Reich als „Monstrum“ dennoch überraschend kam.

Einen möglichen Erklärungsansatz bieten die von Hans Ottomeyer analysierten „Bildwelten des Untergangs“ aus den 1770er- und 1780er-Jahren. Mit Zeitallegorien geschmückte Uhren aus dem Besitz des französischen Königshauses, Darstellungen von Ruinen als Sinnbilder des untergegangenen Römischen Reiches sowie geschichtspädagogische Modelle, die Jahrhundertwenden zunehmend als Epochenschwellen begriffen, wertet er als Anzeichen einer Verdichtung pessimistischer zyklischer Zeitvorstellungen zum Ende des 18. Jahrhunderts, deren Wirkmächtigkeit nicht zu unterschätzen seien. Napoleon habe die an das Jahr 1800 geknüpften Erwartungen mit seiner Ernennung zum Konsul Ende 1799 geschickt bedient, und der Schluss liegt nahe, dass somit nach 1800 auch ein Ende des Alten Reiches denkbar wurde. Die Popularität des von Rainer Schoch interpretierten Gemäldes „Napoleon in Fontainebleau, am 31. März 1814“ von Paul Delaroche, das sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in bürgerlichen Kreisen bei Ausstellungen und als grafische Reproduktion großer Beliebtheit erfreute, deutet jedoch auf eine weit über 1800 hinausgehende Faszination am Sturz großer Herrscher – diesmal Napoleons.

Rolf Reichardt konzentriert sich in seinem Beitrag ganz auf die Bildpublizistik in Frankreich und demonstriert, wie in diesem Medium zwischen 1789 und 1848 Darstellungen von (imaginierten) Thronstürzen zur Visualisierung des Herrschaftsverlusts von Napoleon, Charles X. und Louis-Philippe dienten. Dabei lasse sich ein Bedeutungswandel des Throns ebenso beobachten wie eine zunehmende ‚Demokratisierung‘ der „Thron-Stürzer“ (vom Militär über den Bürger hin zum plebejischen Aufständischen). Quasi komplementär zu dieser publizistischen Entwicklung steht das von Natalie Scholz interpretierte Bildpaar zweier für das Tuilerienschloss in Auftrag gegebene Ölgemälde von Antoine-Jean Gros von 1817, den Abschied Ludwigs XVIII. aus diesem Schloss und die Einschiffung seiner Nichte an der Atlantikküste darstellend. Bemerkenswerterweise sollte hier also ausgerechnet der drohende und dann glücklich abgewandte Herrschaftsverlust der monarchischen Repräsentation dienen, was Scholz als Kennzeichen eines „melancholischen“ Monarchismus der Restaurationszeit wertet, dem die Erfahrungen ein Bewusstsein um die Begrenztheit und Fragilität der Monarchie eingeprägt hatten. Aufschlussreich ist auch, wie wichtig es offenbar für Ludwig XVIII. war, Ludwig XVI. und Marie-Antoinette noch 1815 zu exhumieren und durch ihre feierliche Beisetzung in Saint-Denis diese traditionelle, durch die Revolution geschändete königliche Begräbnisstätte wieder für die Monarchie anzueignen – Restauration also durch „dynastische ‚Totenpolitik‘“ (S. 186), wie Gudrun Gersmann es bezeichnet.

Doch noch 1848 konnte eine erneute Restauration der Monarchie in Frankreich dazu dienen, eine revolutionäre Dynamik einzudämmen, die von der politischen Ebene auf die Gesellschaftsform überzuschwappen drohte, wie Dieter Langewiesche in seiner Analyse der „geschichtlich approbierten Revolutionen“ (S. 238) von 1848, 1870 und 1918 demonstriert. Er betont den ergebnisoffenen Charakter revolutionärer Machtwechsel sowie deren Abhängigkeit vom Einsatz inner- oder zwischenstaatlicher Gewalt. Martin Sabrow zufolge verlor jedoch diese im 19. Jahrhundert geprägte Semantik von Revolution im Zuge der „geschichtspolitisch erfolgreichen Zuerkennung des Revolutionsprädikats“ (S. 300) für den gewaltlosen Umbruch in der DDR 1989/90 an Bedeutung. Die Tragweite von Sabrows Argument ist allerdings seit Erscheinen des Bandes durch die Entwicklungen nach dem Arabischen Frühling relativiert worden, die einmal mehr die Bedeutung des Militärs gezeigt haben, wie sie sowohl Langewiesche als auch Manfred Hettling in Bezug auf 1848 hervorheben.

Welche fundamentalen „Gesetzmäßigkeiten“ (S. 15) von Herrschaftsverlust und Machtverfall hat der Band also zu bieten? Zunächst einmal wird das Bewusstsein geweckt für die narrative Konstruiertheit solcher Prozesse, zu der nicht nur die Historikerzunft, sondern auch Maler wie Delaroche mit ihren „historischen Denkbild[ern]“ (Schoch, S. 151) beitrugen. Des Weiteren – das ist bei einer Festschrift aus Münster wenig verwunderlich – spielen die Eigengesetzmäßigkeiten von Ritualen in mehreren Beiträgen eine wichtige Rolle. Außerdem, auch dies eine Verneigung vor dem Jubilar, wird die Wirkmächtigkeit medialer Repräsentation von Machtverfallsprozessen betont. Viertens ist die Dynamik von Institutionen bzw. institutionellen Konstellationen ein zentraler Faktor, entweder indem sie monarchische Herrschaft allmählich aushöhlt (Schlögl), oder, wie Silke Hensel an den konkurrierenden Hierarchien in der mexikanischen Verwaltung nach 1812 eindrücklich demonstriert, indem sie eine neue Verfassungsordnung von vornherein destabilisiert und delegitimiert.

Dennoch muss konstatiert werden, dass bei aller Prominenz kulturhistorischer Ansätze letztlich bei vielen Beiträgern die Tendenz überwiegt, Herrschaftsverlust und Machtverfall als primär durch klassisch politische Einflussfaktoren determiniert zu verstehen. Eine willkommene Ausnahme ist da der Aufsatz von Jürgen Reulecke über die Wahrnehmung eines Machtverfalls des Mannes im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik und die Konflikte zwischen den Generationen von Männern, die in ihrer politischen Tragweite wohl kaum zu überschätzen sind. Bezeichnend ist es allerdings, dass sich Reulecke genötigt sieht, sich für die Themenwahl zu rechtfertigen, „beschäftigen sich doch die anderen Beiträge durchweg mit politischer Macht und Herrschaft auf den oberen Ebenen von Staat, Nation und Gesellschaft“ (S. 207). Ganz so pointiert möchte es der Rezensent doch nicht sehen, auch wenn aus Sicht des Frühneuzeithistorikers die nur in einem Beitrag berücksichtigte Ebene kommunalen Machtverfalls (Franz-Josef Jakobi) schwach vertreten ist. Doch fällt darüber hinaus auf, dass sozioökonomische Faktoren nur bei wenigen Beiträgen des Bandes (z.B. bei Hensel) eine Rolle spielen.3 Die Herausgeber verweisen in ihrer Einleitung zwar auf den Machtverfall des historischen Materialismus als Erzeuger von Kausalität in den 1990er-Jahren, doch führt der Band vor Augen, dass die dadurch entstandene Lücke nicht nur kulturhistorisch gefüllt werden kann, so nachvollziehbar es auch ist, dass (wie Hettling berichtet) die Berliner Bürger schon im Frühjahr 1848 einfach keine Lust mehr zum Exerzieren und Wache schieben hatten.

Anmerkungen:
1 Tagungsbericht: „Herrschaftsverlust und Machtverfall. Festkolloquium zu Ehren von Hans-Ulrich Thamer“, 09.10.2008-11.10.2008, Münster. In: H-Soz-Kult, 22.11.2008, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-2362> (04.03.2016). Die Beiträge von Frank Becker und Christian Gwenner sowie von Michael Schwartz wurden nachträglich dem Band hinzugefügt.
2 Hierzu Fabian Fechner u.a., „We are gambling with our survival.“ Bedrohungskommunikation als Indikator für bedrohte Ordnungen, in: Ewald Frie / Mischa Meier (Hrsg.), Aufruhr – Katastrophe – Konkurrenz – Zerfall: Bedrohte Ordnungen als Thema der Kulturwissenschaften, Tübingen 2014, S. 141–173.
3 Vgl. dagegen den aktuellen Trend, den Zugriff auf Ressourcen als Faktor wieder zu berücksichtigen, wie im Fall des am 01.01.2015 angelaufenen Frankfurter SFB 1095 „Schwächediskurse und Ressourcenregime“.

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