G. Dworok: "Historikerstreit" und Nationswerdung

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Titel
"Historikerstreit" und Nationswerdung. Ursprünge und Deutung eines bundesrepublikanischen Konflikts


Autor(en)
Dworok, Gerrit
Erschienen
Köln 2015: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
528 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Aline Munkewitz, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Artikulierten sich bereits während der historiographischen Debatte um eine Historisierung des Nationalsozialismus Bedenken, dass die „Normalisierung“ des Verhältnisses zur NS-Vergangenheit schließlich in eine Relativierung der Verbrechen münden könnte1, schienen sich diese Befürchtungen am Ende der 1980er-Jahre zu bestätigen: Als Folge von Ernst Noltes These eines „kausalen Nexus“2 zwischen stalinistischen und nationalsozialistischen Verbrechen reichte der „Historikerstreit“, ein nur scheinbar fachlicher Disput, weit über die Grenzen der Zunft hinaus. Eine wesentliche Hintergrundfolie dieser Auseinandersetzung bildete hierbei die Frage der (deutschen) Nation – zwischen womöglich überholter Praxis und vermeintlich positivem Fundament gesellschaftlichen Zusammenlebens. Gerrit Dworok untersucht in seiner Würzburger Dissertation vor allem drei Konfliktfelder, anhand derer er nationale Denkmuster zwischen den 1950er-Jahren und der Wiedervereinigung in Verbindung mit jener „letzte[n] öffentlich-intellektuelle[n] Großkontroverse der alten Bundesrepublik“3 analysiert: die westdeutsche Suche nach nationaler Identität während der staatlichen Teilung, die „Verortung“ des Nationalsozialismus innerhalb der deutschen Geschichte sowie die unterschiedlichen Positionen von Linksliberalismus und Liberalkonservatismus in diesem doppelten Kontext (vgl. S. 41).

Als Orientierungsrahmen stützt sich Dworok auf ein an Ernest Gellner angelehntes Konzept von Nation. Vor allem Gellners Gedanke einer Stiftung von Gemeinsamkeit durch politische Organisationen und Institutionen einerseits und alltägliche Interaktionen andererseits – wodurch die Vermittlung kultureller Werte und Normen zwischen beiden Strukturen prekär bleibe –, wird von Dworok aufgegriffen, um den Historikerstreit im Wandel des „Nationalen“ verstehen zu können (vgl. S. 42). Auch weil es sich bei einer Mehrzahl der inzwischen vorliegenden Forschungen zur besagten Kontroverse um subjektive Betrachtungsweisen, Polemiken oder zumindest kaum ausreichend strukturierte Beiträge handle, setzt sich der Autor das Ziel, seinem Narrativ durch eine quellengesättigte Betrachtung des Historikerstreits sowie durch dessen Kontextualisierung in einer bundesdeutschen Identitätsdebatte größere „Objektivität“ zu verleihen (vgl. S. 20–41). Die Arbeit stützt sich auf Material politischer Stiftungen, Universitätsarchive und Pressesammlungen (vgl. S. 47f.).

Der ambitionierten Untersuchung liegen vor allem drei Konzepte zugrunde: In seinem methodischen Einstieg bringt Dworok zunächst einen Diskursbegriff ins Spiel, der sich ebenso deutlich von Foucaults vermeintlich starrer Konzeption des „Aussagenetzes“ abzugrenzen versucht wie auch der Habermas’schen Diskursethik ablehnend gegenüberzustehen scheint. Gemäß dieser zweifachen Distanz definiert Dworok selbst „Diskurse […] als gesellschaftliche Auseinandersetzungen über einen längeren Zeitraum hinweg“ (S. 45), welche Auswirkungen auf kulturelle Entwicklungen und deren Verschiebungen hätten, jedoch selbst historisch verankert seien. Um dieses abstrakte Konzept inhaltlich füllen zu können, greift der Autor zudem auf die Denkfigur politischer Kultur zurück, worunter der gesamte Komplex zwischen generationeller Weitergabe und Verankerung kultureller Normen wie auch deren Verschiebung durch Interaktionen zu verstehen sei (vgl. S. 55ff.). Als Rahmen, in welchem die betrachteten Akteure um entsprechende Deutungsmacht gerungen hätten, fungiert hierbei wiederum das angesprochene Nationskonzept Gellners. Dworok scheint diesen dreifachen Zugriff gewählt zu haben, um sowohl Entstehungskontexte als auch jene wandelbaren Angebotsstrukturen in den Blick nehmen zu können, welche während des Historikerstreits deutlich hervortraten.

In eher erzählend ausgerichteten Kapiteln versucht der Autor darauf aufbauend die „politischen und kulturellen Diskursursprünge“ (S. 40) der fokussierten Kontroverse nachzuzeichnen. In einem ersten Schritt nähert sich Dworok den Debatten innerhalb eines Diskurses, dessen Kern die Ausgestaltung „nationaler“ Identität gebildet habe, welcher jedoch wesentlich als Streitpunkt akademischer und politischer Eliten zwischen den 1950er-Jahren und der Wiedervereinigung präsentiert worden sei. In solchen Debatten sei scharf um Zugehörigkeitskriterien und damit politische Ordnungen gerungen worden – im Spannungsfeld von Kultur- und Staatsnation. Während diese Auseinandersetzungen unter den Stichworten Wiedervereinigung und Westintegration in den 1960er- und 1970er-Jahren eine Versachlichung erfahren hätten, habe die nationale Selbstbefragung aufgrund von generationellen, ökonomischen und deutschlandpolitischen Umbrüchen in den 1980er-Jahren erneut an Vitalität gewonnen (vgl. S. 175–178). Nachdem Helmut Kohl das Kanzleramt übernahm und sich um eine „geistig-moralische Wende“ bemühte, hätten linksliberale Kräfte hierin einen Affront gegen eine an kritischer Reflexion der NS-Verbrechen orientierte Erinnerungskultur gesehen – was einen Konflikt initiiert habe, der im Historikerstreit zu kulminieren schien.

Auch die Betrachtungen des Autors zum „Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte“ tragen zunächst eher summarischen Charakter, da er in diesem Zusammenhang vorrangig Debatten um den deutschen „Sonderweg“ sowie Auseinandersetzungen um eine Vergleichbarkeit der Diktaturen skizziert (unter Begriffen wie Faschismus und Totalitarismus). Als Hintergrundfolie des Historikerstreits selbst macht Dworok besonders die gesteigerte Relevanz der Shoah für die Geschichtswissenschaft aus, infolge derer die Positionierung Noltes „zum öffentlichen Skandal“ geworden sei (S. 426). Die Eskalation dieses Konflikts habe ihren Ursprung selbst vor allem in linksliberalen Positionen gehabt, die in Noltes These eines „kausalen Nexus“ einen Angriff auf den eigenen „Gründungsmythos“ (S. 322) gesehen hätten.

Den entscheidenden Hintergrund einer Radikalisierung macht Dworok hingegen gerade in einer davorliegenden Konfrontation aus, welche in eine harte Lagerbildung zwischen Linksliberalen und Liberalkonservativen gemündet sei, verbunden mit der Überführung von intellektuellen Positionierungen auf die politische Ebene – einer „folgenreichen Verschränkung von Kultur und Macht in den 1980ern“ (S. 429). Schon mit der „68er“-Generation und deren Forderungen in den Universitäten habe eine Bewegung eingesetzt, die zunächst zu Spaltungstendenzen innerhalb der Professorenschaft geführt habe, wie der Autor am Beispiel des Konflikts um die Habilitation und Berufung des Politikwissenschaftlers Reinhard Kühnl 1970/71 in Marburg zu zeigen versucht, gegen dessen Einsetzung sich nicht zuletzt Lehrstuhlinhaber Ernst Nolte (erfolglos) verwahrte. Später, im Zuge der Kanzlerschaft Helmut Kohls und dessen kulturpolitischem Engagement, hätten „Linksliberale“ vor allem bildungspolitische Erfolge wiederum bedroht gesehen. Durch eine parallel verlaufende „institutionelle Vernetzung von public intellectuals und parteipolitischen Akteuren“ (S. 430) seien diese zunächst noch fachinternen Konflikte, wie Dworok betont, in die politische Sphäre gebracht worden, was zur Verhärtung entsprechender Demarkationslinien beigetragen habe.

Der Kern von Dworoks Deutung des Historikerstreits besteht darin, dass die konträren Positionen des Disputs Ausdruck „nationale[n] Denken[s] und vor allem Fühlen[s]“ (S. 445) gewesen seien. Deshalb könne die Bundesrepublik der 1980er-Jahre keineswegs als eine postnationale Gesellschaft in der Deutung Habermas’ betrachtet werden – welche der Autor als „Trugschluss“ und „Wunschvorstellung“ abqualifiziert (ebd.). So plausibel Dworoks Interpretation einer Funktionalisierung historiographischer Argumentationen sowohl von Linksliberalen als auch von Liberalkonservativen zunächst erscheint, entsteht im Zuge der Lektüre doch der Eindruck, dass der Autor selbst hinter seinen Anspruch einer möglichst „objektiven“ Darstellung zurückfällt, indem er vorrangig linksliberale Positionierungen als Beispiele einer derartigen Aneignung von Geschichte heranzieht und der „schießwütige[n] Publizistik der Nichthistoriker Habermas, Brumlik und Augstein“ (S. 395) attestiert, sich zu Kampagnen gegen liberalkonservative Historiker verbündet zu haben.

Das Leseverständnis wird hierbei nicht zuletzt durch die ambivalente, zwischen Habermas und Foucault oszillierende Verwendung des Diskursbegriffes erschwert, was durch einen konsequenteren Rekurs auf Hegemonie als analytische Kategorie hätte umgangen werden können.4 Dadurch würden Erörterungen innerhalb diskursiver Felder und der Wandel von Denkfiguren in den Blick genommen, ohne dass dabei nach vermeintlichen kausalen Ursprüngen zu suchen wäre. Unabhängig von einem möglichen Erkenntnisgewinn hinsichtlich der Untersuchung des Historikerstreits könnte diese Einbeziehung des Hegemoniebegriffs vor allem dazu dienen, das methodische Ensemble stärker zu bündeln.

Wenngleich die historiographisch-rekonstruierenden Abschnitte in ihrer Mehrzahl lediglich bestehende Forschungen zusammenfassen, macht vor allem das eigenwillige und durchaus streitbare Ergebnis Gerrit Dworoks materialreiche Dissertation lesenswert: Der Historikerstreit sei nicht zuletzt als ein Versuch des linksliberalen Lagers zu interpretieren, Deutungsmacht in einer dennoch pluralistisch verstandenen, „nationalen“ politischen Öffentlichkeit zu erringen. Wirklich neu ist dieser Ansatz allerdings auch nicht, und ob er durch Wiederholung richtiger wird, sei dahingestellt. Eine problemorientierte Historisierung des Historikerstreits aus dem Abstand von mittlerweile 30 Jahren scheint auf diesem Wege zudem kaum erreichbar zu sein.

Anmerkungen:
1 Eine knappe Übersicht zur Debatte um eine Historisierung des Nationalsozialismus und zum Historikerstreit bietet u.a.: Ian Kershaw, Der NS-Staat, 4. Aufl. Hamburg 2009, S. 329–355.
2 Ernst Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.06.1986, S. 25.
3 Klaus Große Kracht, Debatte: Der Historikerstreit, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.01.2010, <https://docupedia.de/zg/Historikerstreit> (20.02.2016).
4 Beispiele eines solchen Zugangs bieten unter anderem: Iris Dzudzek, Hegemonie kultureller Vielfalt. Eine Genealogie kultur-räumlicher Repräsentationen der UNESCO, Berlin 2013; Georg Glasze, Vorschläge zur Operationalisierung der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe in einer Triangulation von lexikometrischen und interpretativen Methoden, in: Historical Social Research 33 (2008), Heft 1, S. 185–223, <http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-191129> (20.02.2016).