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Titel
Freizeit ohne Kontrollen. Die Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre


Autor(en)
Templin, David
Reihe
Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 52
Erschienen
Göttingen 2015: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
672 S., 18 Abb.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Hachtmann, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die „68er“-Bewegung wird gern auf „Studentenbewegung“ reduziert, obwohl mehrere neuere Studien in Erinnerung gebracht haben, dass neben Studenten und Oberschülern unter anderem auch Lehrlinge und junge Arbeiter von dieser Bewegung „ergriffen“ wurden.1 Eine weitere, klassen- und schichtübergreifende Facette der „68er“-Bewegung, deren sozialisatorische Wirkungen kaum überschätzt werden können, war das Engagement zugunsten unabhängiger Einrichtungen von Jugendlichen für Jugendliche. Mit David Templins voluminöser Dissertation liegt nun eine Monographie vor, die umfassend und zugleich anschaulich die Geschichte dieser Bewegung analysiert.

Die Relevanz des Themas erschließt sich bereits durch einen Blick auf die quantitativen Dimensionen: Templins Recherchen zufolge entstanden seit 1970 mindestens 1.354 Jugendzentrumsinitiativen in Städten und Gemeinden der Bundesrepublik, die sich im Schnitt auf 50 Aktivisten sowie auf 380 punktuell aktive Sympathisanten stützen konnten (S. 37, S. 67). Diese Zahlen markieren eine Untergrenze der Initiativen und Akteure. Obwohl Templin flächendeckend recherchiert hat, ist anzunehmen, dass ihm manche kleinstädtische und dörfliche Jugendzentrums-Initiative unbekannt geblieben ist, weil sie kaum schriftliche Spuren hinterlassen hat, verbliebene Schriftstücke als nicht archivierungswürdig galten oder (allen Archivgesetzen zum Trotz) immer noch nicht zugänglich sind. Wenn man die oft hohe Fluktuationsrate unter den Aktivisten sowie die meist starke Ausstrahlung auf die Gesamtheit der Jugendlichen gerade in kleineren Orten berücksichtigt, kommt man alles in allem auf mehrere Millionen bundesdeutscher Jugendlicher, die besonders in der Hoch-Zeit dieser Bewegung zwischen 1971 und 1976 (vgl. auch Grafik S. 57) durch Initiativen für ein Unabhängiges Jugendzentrum (UJZ) und im Erfolgsfall durch die Jugendzentren selbst geprägt worden sind. Die Tiefe solcher Prägungen ist zwar schwer abzuschätzen; sie ist aber hoch anzusetzen, berücksichtigt man die klassische Erkenntnis der Psychologie, dass Erlebnisse und Entwicklungen während der Adoleszenzzeit sich besonders nachhaltig in die Persönlichkeitsstrukturen eingraben.

Der Kern der Arbeit besteht aus drei großen Teilen: „Ausbreitung und Hochphase der Bewegung, 1970–1974“, „Zwischen Scheitern und Institutionalisierung, 1975–1978“ sowie „Niedergang und neue Impulse, 1979–1982“. Jeder dieser chronologischen Großabschnitte ist in kleinere systematische Kapitel untergliedert. Zu einer spannenden Lektüre werden diese nicht zuletzt dadurch, dass Templin Analyse und Fallbeispiele inhaltlich wie sprachlich überzeugend verschmilzt.

Sämtliche Ergebnisse auflisten zu wollen würde den Rahmen einer Rezension sprengen; ich beschränke mich darauf, einige Schlaglichter zu setzen. Von grundsätzlicher Bedeutung ist, dass die UJZ-Initiativen wichtige Bestandteile eines generellen Trends der Urbanisierung der westdeutschen „Provinz“ waren (S. 325ff.; dort auch in Anführungszeichen). Es würde zu kurz greifen, diesen Prozess einer tendenziell flächendeckenden Ausweitung der politischen wie kulturellen Impulse der „68er“-Bewegung von den Universitäts- und Großstädten in die kleinstädtische und agrarische „Provinz“ mit „Modernisierung“ des „flachen Landes“ umschreiben zu wollen. Dazu war die Bewegung zu kritisch. Die Protagonisten wollten mit den UJZ ein Gegenbild zu einer Welt schaffen, die sie ablehnten und nicht zu Unrecht als „leistungsorientiert, unfrei, entfremdet“ empfanden. Die Jugendzentren, die man avisierte, sollten zum Nukleus einer radikalen Demokratie werden (S. 83). Der Anspruch, Privates und Politisches miteinander zu verknüpfen, konnte gerade die überschaubaren Lebenswelten im „Käfig Kleinstadt“ durcheinanderwirbeln (S. 332; dies sind jeweils Quellenzitate).

Trotz ihrer ausgeprägten Dezentralität und ihres Lokalismus wies die UJZ-Bewegung einen „erstaunlich hohen Grad an Gemeinsamkeiten in Charakter, Zielsetzungen und Selbstverständnis“ auf (S. 29). Die Gründe dafür thematisiert Templin ausführlich: Von bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen, waren trotz eines egalitären Selbstverständnisses in erster Linie männliche Gymnasiasten die sozialen Träger der Initiativen (S. 87ff., S. 98ff.), während die Anhängerschaft und später die Besucher der Jugendzentren aus allen Schichten stammten (S. 411ff. u.ö.). Nicht selten bestanden engere Kontakte zum linken studentischen Milieu in nahe gelegenen Universitätsstädten. Darüber hinaus gab es bundesweite Koordinierungsbemühungen. Eine wichtige Rolle spielten dabei etablierte Jugendverbände: Zu denken ist hier etwa an die Jusos (S. 107ff., S. 398f.), an die Naturfreunde- und die Gewerkschaftsjugend sowie an die Jungdemokraten und schließlich die verschiedenen ML-Gruppen, die aufgrund ihres instrumentellen Verhältnisses zu den von ihnen wegen ihrer „Freizeitillusionen“ und ihres „Spontaneismus“ abschätzig behandelten UJZ-Initiativen dort meist nur geringen Einfluss besaßen (S. 122ff., S. 443f.). Eine sehr wichtige Rolle spielte über einen langen Zeitraum hinweg außerdem der Bund Deutscher Pfadfinder (BDP), der sich seit Ende der 1960er-Jahre von einem traditionalistischen zu einem offenen, radikaldemokratischen Jugendverband mauserte. Von „entscheidender Bedeutung“ für die anfangs rasche Ausbreitung der UJZ-Bewegung und die Ausbildung einer gemeinsamen Identität waren zudem die damals ausschließlich öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten mit ihren kritischen Jugendsendungen „Jour fix“ und „DISKUSS“. In einem längeren Abschnitt beschreibt Templin die wohl einmalig „enge Verflechtung zwischen Fernsehjournalismus und Bewegung“ (S. 169ff., Zitat: S. 184). Dass die meisten der dann institutionalisierten regionalen und bundesweiten Koordinationsorgane der UJZ-Initiativen kurzlebig und wenig effizient blieben, fiel angesichts dieser breiten Einbettung der Bewegung kaum negativ ins Gewicht.

Gestützt und gerahmt wurde die UJZ-Bewegung auch durch einen starken Politisierungsschub der Sozialpädagogik seit 1968 (resümierend: S. 160f.), der die Krise der etablierten, oft genug altbacken-paternalistischen Jugendarbeit mit ihren „Häusern der Jugend“ zusätzlich beförderte (S. 204ff.) und gleichzeitig deren Neuorientierung begünstigte (S. 315ff.). Auch diesem Thema und ebenso dem gegenseitigen Misstrauen sowie der „Hinhaltetaktik“ der Kommunen bei Verhandlungen zur Überlassung von Räumen an UJZ-Initiativen (S. 216ff., S. 279ff.) widmet sich Templin ausführlich. Angesichts der scharfen Spannungen zwischen beiden Seiten sowie der mindestens anfangs starken Ressentiments der lokalen Honoratioren und Kommunalverwaltungen gegenüber den Jugendlichen ist es erstaunlich, dass in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre mehr als 30 Prozent der UJZ-Initiativen zum Erfolg führten und weitere 24 Prozent immerhin ein „Provisorium“ durchsetzen konnten (S. 279f.). Das änderte sich Ende der 1970er-Jahre, nachdem viele Jugendzentren durch „Rockerprobleme“, sexuelle Übergriffe oder Drogenkonsum (S. 349ff.) in Verruf geraten waren. Nicht wenige Kommunalverwaltungen nutzten die veränderten politischen Konstellationen, um Jugendzentren wieder zu schließen (S. 358ff., S. 368ff.) oder sie über eine kommunale Trägerschaft an die kurze Leine zu nehmen. Obwohl sich seit Mitte der 1970er-Jahre die Bedingungen für die Bewegung rapide verschlechterten, gründeten sich allein zwischen 1975 und 1978 noch 139 neue UJZ-Initiativen (S. 378). 1981 existierten insgesamt „mindestens 423 Jugendzentrumsgruppen“ (S. 583f.).

Neben Standort, Finanzierung, Größe und Zahl der Räume der Jugendzentren stellt Templin das Personal sowie dessen pädagogische Konzepte und Praktiken ausführlich vor (S. 300ff.). Dabei entwickelt er unter anderem vier Idealtypen von (linken) Sozialarbeitern in den realisierten Jugendeinrichtungen und skizziert deren ambivalentes Verhalten: Während sich viele Sozialarbeiter unentbehrlich zu machen versuchten, wollten umgekehrt viele jugendliche Protagonisten der UJZ-Bewegung Sozialarbeiter und überhaupt „Sozialarbeit“ überflüssig machen (S. 167f.). In der Phase des Niedergangs der UJZ wechselten Sozialarbeiter dann oft in die Rolle des Stabilisators der bestehenden Zentren (S. 448ff.). Sie konnten freilich auch dann, wenn sie sich auf die Seite der Jugendlichen schlugen, den „Prozess schleichender Kommunalisierung“ (S. 460) der Zentren meist nicht aufhalten. Die Desillusionierung, die sich bei vielen Akteuren einstellte, nachdem sie scheinbar am Ziel ihrer Wünsche waren, skizziert Templin gleichfalls ausführlich (S. 345ff., S. 353ff.).

Selbstverständlich sind außerdem die „extrem gemeinschaftsstiftenden Akte“ der insgesamt 48 Hausbesetzungen von UJZ-Initiativen zwischen 1970 bis 1974 und ebenso die 46 Hausbesetzungen einer zweiten Welle in den Jahren 1980/81 ein Thema, dem sich der Verfasser eingehend widmet (S. 234ff., S. 600ff.) – und in diesem Zusammenhang auch der besonderen Rolle, die die linke Rockband „Ton Steine Scherben“ um den Sänger Rio Reiser Anfang der 1970er-Jahre spielte. Die „Scherben“ wurden mitunter von den lokalen Jugendringen bzw. den Jugendorganisationen der Parteien eingeladen, die oft gar nicht wussten, wen sie sich da ins Haus holten. Mitte der 1970er-Jahre ging das Gerücht um (so erinnert sich der Rezensent als Zeitzeuge), dass überall dort in der „Provinz“, wo „Ton Steine Scherben“ aufgetreten waren, Häuser besetzt würden oder mindestens Initiativen für ein UJZ entstünden. Das war übertrieben. Immerhin kann Templin aber „mindestens sechs Fälle“ identifizieren, in denen Konzerte der „Scherben“ „zum auslösenden Faktor von Besetzungsaktionen wurden“ (S. 237ff.). Was im Nachhinein wie eine marginale Episode anmutet, war ein Symptom der Jugendzentrumsbewegung: Sie war eingebettet in einen breiteren kulturellen Aufbruch, der maßgeblich von jungen Künstlern und ihrem jugendlichen Publikum getragen wurde. Die Gemeinsamkeit war bis in die zweite Hälfte der 1970er-Jahre vor allem „die Verweigerung gegenüber den Normen der bürgerlichen Gesellschaft“ (S. 239).

Ganz nebenbei korrigiert bzw. relativiert Templin das Diktum vom Ende eines „Goldenen Zeitalters“ Mitte der 1970er-Jahre: In der Perspektive der damaligen Jugendlichen waren im Gegenteil die 1970er-Jahre eine Epoche des Aufbruchs zu neuen Ufern, zu selbstgewählten Formen autonomer Vergemeinschaftung (S. 620).2 Ende der 1970er-Jahre verebbte freilich der „utopische Überschuss“; es machten sich zunehmend pragmatische Tendenzen breit. Parallel dazu kam es zur positiven „Entdeckung der Provinz“. Die UJZ-Bewegung verknüpfte sich mit der Anti-AKW-Bewegung und dem daraus wachsenden linksökologischen Alternativmilieu.

David Templins Monographie ist ein höchst lesenswertes Standardwerk, das den Rahmen üblicher Dissertationen bei weitem sprengt. Nützlich ist nicht zuletzt das Personen- und vor allem das Ortsregister am Ende des Buches – für bisher kaum vorhandene, in Zukunft hoffentlich zahlreichere Mikrostudien zur Stadt- und Dorfgeschichte der 1970er- und 1980er-Jahre.

Anmerkungen:
1 Vgl. bes. Knud Andresen, Die bundesdeutsche Lehrlingsbewegung 1968–1971. Zum Prozess der kollektiven Identitäten, in: Jürgen Mittag / Heike Stadtland (Hrsg.), Theoretische Ansätze und Konzepte der Forschung über soziale Bewegungen in der Geschichtswissenschaft, Essen 2014, S. 219–241; ders., Die bundesdeutsche Lehrlingsbewegung von 1968 bis 1972. Konturen eines vernachlässigten Phänomens, in: Peter Birke / Bernd Hütter / Gottfried Oy (Hrsg.), Alte Linke – Neue Linke? Die sozialen Kämpfe der 1968er Jahre in der Diskussion, Berlin 2009, S. 55–69; David Templin, „Lehrzeit – keine Leerzeit!“ Die Lehrlingsbewegung in Hamburg 1968–1972, München 2011.
2 Als vergnüglich-literarische Einführung in selbstgewählte „Vergemeinschaftungen“ Jugendlicher während der 1970er- und 1980er-Jahre bietet sich an: Bov Bjerg, Auerhaus, Berlin 2015.