C. Gräbel: Die Erforschung der Kolonien

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Titel
Die Erforschung der Kolonien. Expeditionen und koloniale Wissenskultur deutscher Geographen 1884–1919


Autor(en)
Gräbel, Carsten
Anzahl Seiten
404 S.
Preis
€ 44,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Brahm, German Historical Institute London

Die akademische Geographie in Deutschland ist noch immer ein wenig erforschtes Gebiet der Wissenschaftsgeschichte, ganz im Gegensatz zu ihrem Pendant in Frankreich. Und so fehlte bislang auch eine systematische Studie zur geographischen Kolonialforschung, obwohl deutsche Geographen in den Kolonien bekanntermaßen ein großes Betätigungsfeld fanden, die universitäre Etablierung der Disziplin zeitgleich zur kolonialen Expansion im Kaiserreich verlief und das Engagement von Geographen für die deutsche Kolonialpolitik lautstark war. Mit seiner am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Konstanz entstandenen Doktorarbeit hat sich nun Carsten Gräbel dieser Thematik mit Verve gewidmet.

Seinen Untersuchungsgegenstand grenzt Gräbel auf die akademische Kolonialgeographie in Deutschland ein. Um ihre Hauptvertreter zu identifizieren, legt er zwei Kriterien an, die in dieser selbsternannten academic community während der Zeit der deutschen Kolonialherrschaft zu den wichtigen credentials von Anerkennung und Abgrenzung avancierten: nämlich mindestens eine Expedition in die deutschen Kolonien unternommen und eine Professur an einer Universität oder Handelshochschule erlangt zu haben. So kommt Gräbel zu einem Personenkreis von 15 Geographieprofessoren, auf die er seine Untersuchung konzentriert. Er verfolgt die professoralen Kolonialgeographen in ihren verschiedenen Aktionsfeldern, von der Wissenschaftsorganisation über die Forschungspraxis zur Wissensproduktion. Dafür zieht er neben publiziertem Schrifttum Expeditionstagebücher, autobiographische Skizzen und Korrespondenzen als Quellen heran.

Einleitend hebt Gräbel die Bedeutung der Geographie für die Etablierung der deutschen Kolonialherrschaft und für den Kolonialismus in der Metropole hervor. Die „Bemächtigung von Raum, Menschen und Ressourcen“ habe auf geographischen Wissensformen wie Karten, Statistiken, Verzeichnissen und länderkundlichen Berichten beruht (S. 9); die aufwendigen Expeditionen deutscher Geographen konnten, wie Gräbel im Laufe der Studie auch belegen wird, sowohl der geographischen Erkundung als auch der militärischen Machtdurchsetzung dienen; und Wissenskorpora, die Geographen zur Verfügung stellten, fanden auch in der populären Kolonialliteratur oft Verwendung.

Die ersten zwei Kapitel untersuchen die Formierung der Kolonialgeographie und ihr organisatorisches Netzwerk. Ursprünge sieht Gräbel in der explorativen Afrikageographie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, die sich im Zuge der Kolonialexpansion der 1880er-Jahre zur Kolonialgeographie gewandelt und zugleich professionalisiert habe. Die späte universitäre Verankerung der Geographie an deutschen Universitäten lasse sich, so argumentiert der Autor, nicht hinreichend durch die Lehrerbildung erklären, sondern verdankte sich auch dem Prestige der Forschungsreise und der Nachfrage an Kolonial- bzw. Überseeexpertise. Besondere Bedeutung für die erst in den 1900er-Jahren voll entwickelte academic community von Kolonialgeographen misst Gräbel neben den Universitäten drei außeruniversitären Institutionen bei: der 1905 als Sachverständigengremium des Kolonialrats gegründeten Kommission zur landeskundlichen Erforschung der Deutschen Schutzgebiete, deren „Mitteilungen aus den Deutschen Schutzgebieten“ als Publikationsorgan, und der Kartenabteilung des privaten Berliner Reimer-Verlags (auch: Kolonialkartographisches Institut), in der die offiziellen Karten der deutschen Kolonien hergestellt wurden.

Das dritte Kapitel thematisiert das Selbstverständnis der Kolonialgeographen und ihr Verhältnis zur Kolonialpolitik. In Antrittsvorlesungen wurde die Kolonialgeographie programmatisch als Landes- bzw. Länderkunde präsentiert, die natur- und geisteswissenschaftliche Ansätze verbinden, dem Kausalitätsprinzip folgen, und sich räumlich auf die deutschen Kolonien konzentrieren sollte. Gräbel konstatiert eine „große ideologische und institutionelle Nähe zum kolonialen Staatsapparat“ (S. 111), die von Kolonialgeographen selbst gesucht wurde. Wenn Kolonialgeographen Kritik an der deutschen Kolonialpolitik übten, dann zumeist, weil diese ihnen zu zaghaft erschien. Nationale Gesinnung und imperiales Sendungsbewusstsein wurde von Mitgliedern ihrer academic community vorausgesetzt und erwartet, und ihre politischen Agenden bestimmten Forschungsthemen und Publikationsaktivitäten mit, etwa wenn es ihnen darum ging, die wirtschaftliche Nützlichkeit von Kolonien zu unterstreichen, die Tauglichkeit einer Kolonie als potentielles Auswanderungsgebiet zu untersuchen oder ‚koloniale Bildungsarbeit‘ zu leisten.

In den Kapiteln 4 und 5 beleuchtet Gräbel die Forschungspraxis. Geographische Expeditionen waren Kollektivunternehmen, auch wenn die Wissenschaftler in ihren Publikationen dazu neigten, den lokalen Expeditionsteilnehmern die Anerkennung ihrer Leistungen zu versagen. Die kolonialen Machtverhältnisse, das kann Gräbel an zahlreichen Beispielen zeigen, spiegelten sich auch in den Forschungskarawanen, angefangen beim Komfort der Expeditionsleiter, über die stark ungleiche Versorgung bei Nahrungsengpässen, dem militärischem Umgangston und der Prügelstrafe bis hin zum alltäglichen Rassismus, etwa wenn die beiden „Boys“ von Franz Thorbeckes während der Kamerunexpedition 1911–13 ‚alte weiße Jacken‘ als ‚Servierkostüm‘ tragen mussten (S. 145). Die Abhängigkeit der deutschen Forscher von lokalen Strukturen, die in vorkolonialer Zeit sehr hoch gewesen war, nahm mit Festigung der Kolonialherrschaft ab. In der geographischen Arbeitsweise unterschieden sich die Expeditionen in die Kolonien kaum von anderer geographischer Feldforschung, doch der rabiate und überhebliche Umgang erschwerte Erkundigungen vor Ort.

In den Kapitel 5 bis 8 untersucht Gräbel Darstellungen geographischen Wissens über die Kolonien. Er zieht vor allem die Länderkunden heran, die sich als beliebteste kolonialgeographische Darstellungsform durchsetzten, obwohl ausgerechnet in ihrer panoramenhaften Anlage das auf Expeditionen gesammelte Spezialwissen nur eine geringe Rolle spielen konnte. Mehr als Geographien anderer Weltregionen bemühten die Länderkunden der deutschen Kolonien die Historische Geographie, und zwar im Sinne einer Kolonisationsgeschichte. In einer Mischung aus natur- und kulturräumlicher Interpretation unterteilten Kolonialgeographen die Kolonien in Landschaften. Wenn eine ethnographische Betrachtung einbezogen wurde, dann dominierten eine evolutionistische Sichtweise und eine umweltdeterministische Betrachtung materieller Daseinsbedingungen. Der „Naturmensch“ wurde regelmäßig gesucht und gefunden, das fällt auch bei den beigegebenen Fotografien auf, die überwiegend inszeniert waren. Einen wichtigen Platz in den Länderkunden nahm die Wirtschaftsgeographie ein, die sich den praktizierten Wirtschaftsformen widmete und versuchte, das zukünftige Potential der Kolonien abzuschätzen, wobei die die Dualität von Kolonisierern und Kolonisierten die Untersuchung strukturierte. Abschließend konstatiert Gräbel, dass in der Kolonialgeographie zwar ständig Kausalitäten postuliert, diese aber selten empirisch erforscht wurden. Zwar brachten die Expeditionen eine Fülle neuer Informationen nach Deutschland, die kolonialgeographischen Darstellungen dominierten jedoch herkömmliche Deutungsmuster, und oft waren die herangezogenen Erklärungen „nichts anderes als koloniale Stereotype“ (S. 350f.).

Während Gräbel mit der konsequenten Berücksichtigung der Forschungspraxis der Kolonialgeographen einen aktuellen Trend der Wissenschaftsgeschichte aufgreift, bleiben andere wichtige historiographische Debatten und Neuansätze unberücksichtigt, woraus zwei Kritikpunkte resultieren: So ist erstens der Untersuchungsaufbau national eingeengt: weder werden Vergleiche gezogen, noch transimperiale Verflechtungen oder ein internationaler Wissensaustausch in den Blick genommen, was gerade in einer Zeit nationaler Rivalität einerseits und wissenschaftlicher Internationalisierung andererseits erhellend gewesen wäre. Zweitens ist die Verwendung des Begriffs „Kolonialgeographie“ zumindest diskussionswürdig, suggeriert ein solcher Begriff doch, dass sich eine koloniale Wissensproduktion von der allgemeinen Wissenschaft trennscharf unterscheiden lasse.1 Im konkreten Fall verhindert die Engführung der Untersuchung auf die „Kolonialgeographie“, die Stellung der geographischen Forschung zu den Kolonien im breiteren Kontext der Geographie auszuleuchten, und auch fachinterne Kritiker bleiben so außen vor: sie werden zwar gelegentlich erwähnt, fallen aber aus dem Untersuchungsraster, weil sie keine „Kolonialgeographen“ (mehr) waren. Trotz dieser Kritikpunkte leistet die Studie einen wichtigen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Geographie in Deutschland. Man hätte sich diese Pionierarbeit schon früher gewünscht!

Anmerkung:
1 Vgl. die Kritik des Begriffs von colonial science bei Helen Tilley, Africa as a Living Laboratory: Empire, Development, and the Problem of Scientific Knowledge, 1870–1950, Chicago 2011.

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