S. Broadberry u.a.: British Economic Growth, 1270–1870

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Titel
British Economic Growth, 1270–1870.


Autor(en)
Broadberry, Stephen; Campbell, Bruce M.S.; Klein, Alexander; Overton, Mark; van Leeuwen, Bas
Erschienen
Anzahl Seiten
461 S.
Preis
$ 105.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Chantal Camenisch, Abteilung Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte, Universität Bern

Das Überblickswerk „British Economic Growth, 1270–1870“, verfasst von einer Gruppe renommierter britischer und niederländischer Wirtschaftshistoriker, belegt, dass die quantitative Wirtschaftsgeschichte keineswegs am Ende ist, sondern immer noch wertvolle Resultate produziert, die zum Verständnis der Vergangenheit maßgeblich beitragen. Das Autorenteam und weitere Wirtschaftshistoriker arbeiteten während sieben Jahren, finanziert über mehrere Forschungsprojekte, an den bemerkenswerten Ergebnissen. Die Einleitung ordnet diese neuen Erkenntnisse in den Kontext britischer Wirtschaftsgeschichte ein und erläutert die Notwendigkeit, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) über einen Zeitraum von 600 Jahren zu rekonstruieren. Für die Zeit vor 1700 bauen die Berechnungen auf Schätzungen auf, die sich in der Zeit danach im Vergleich mit älteren Reihen kalibrieren und verifizieren lassen. Anhand der jährlichen Angaben zum BIP und unter der Berücksichtigung der Schätzungen zur Bevölkerungsgröße können zusätzlich jährliche Reihen des BIP pro Kopf berechnet werden. Diese beiden Zeitreihen bilden das Rückgrat der Publikation. In der Einleitung werden verschiedene Möglichkeiten für die Berechnung des BIP erläutert, ohne die der Inhalt des Buches nicht nachvollzogen werden kann. Für die kontinentale Leserschaft steht zudem eine Tabelle mit britischen Maßeinheiten und ihren metrischen Äquivalenten zur Verfügung.

Das umfangreiche Werk gliedert sich in zwei Teile, wovon der erste die Daten und angewandten Methoden detailliert vorstellt, während der zweite die Interpretation der Daten enthält. Die verwendeten Daten beschreiben Bevölkerungsgröße, landwirtschaftliche Produktion, industrielle Produktion und Ertrag des Dienstleistungssektors. In einem ersten Kapitel erläutern die Autoren detailliert, welche Kenntnisse über die englische Bevölkerungsgröße in welcher Epoche gewonnen werden können. Für die Zeit vor 1541 ist die Wissenschaft grundsätzlich auf Schätzungen angewiesen. Eckpunkte stellen dabei das unter dem Begriff „Domesday Book“ in die Geschichte eingegangene Verzeichnis des englischen Landbesitzes von 1086 und eine anlässlich der Erhebung einer Kopfsteuer 1377 zusammengestellte Steuerliste dar. Für die Jahre dazwischen und bis 1541 muss die Forschung auf Schätzungen ausweichen, wobei die Autoren erst ältere Berechnungen vorstellen, bevor sie eigene, sehr detaillierte Ergebnisse präsentieren. Nach 1541 wurde das Führen von Pfarreiregistern durch die anglikanischen Priester Pflicht, welche Taufen, Heiraten und Beerdigungen aufzeichnen. Anhand dieser Register sind ziemlich präzise Angaben zur Bevölkerungsentwicklung möglich, wobei die Autoren nach 1700 nicht nur England in ihre Berechnungen einbeziehen, sondern auch Schottland und Wales.

Das folgende Kapitel widmet sich der landwirtschaftlichen Bodennutzung, wobei der Fokus auf den unterschiedlichen Nutzungsarten und ihrem Wandel liegt. Dabei werden Urbarmachung und Landnahme, wie das Trockenlegen von Sümpfen und das Abholzen von Wäldern, ebenso einbezogen wie Maßnahmen zur Bodenverbesserung. Das dritte Kapitel setzt sich mit der landwirtschaftlichen Produktion auseinander. Zunächst wird die Quellenlage detailliert dargestellt. Paradoxerweise sind für die Zeit vor 1500 deutlich mehr Quellen vorhanden als für die Epoche danach. Dieser Umstand ist auf die große Zahl von „Manorial Accounts“ – einem bestimmten Quellentyp ländlicher Administration – zurückzuführen. Die akribischen Berechnungen der Autoren ermöglichen eine sehr genaue Darstellung der Getreideproduktion über die Jahrhunderte hinweg. Ähnliche Berechnungen zeigen die Entwicklung der Viehhaltung auf.

Die industrielle Produktion und der Dienstleistungssektor stehen im Zentrum des vierten Kapitels. In den sechshundert Jahren von 1270 bis 1870, auf welche die Publikation fokussiert, erlebten diese beiden Sektoren einen enormen Wandel. Zu Beginn war in England einzig der landwirtschaftliche Sektor von Bedeutung, während um 1870 Dienstleistung und Industrie nicht nur die größten, sondern auch die am schnellsten wachsenden Sektoren waren. Im Bereich der industriellen Produktion berücksichtigen die Autoren unter anderem die in England so erfolgreiche Schwerindustrie, die weit zurückreichende Textilindustrie und die Lederindustrie neben weniger prominenten Bereichen wie der Lebensmittelverarbeitung, der Buchherstellung und dem Druckergewerbe. Im Hinblick auf den Dienstleistungssektor interessieren sie sich vor allem für die Wertschöpfung aus dem öffentlichen Dienst, dem Handel und Transportgewerbe, den Finanzdienstleistungen und – nicht zu vergessen – dem Bereich der Hausangestellten und Bediensteten. Zum Abschluss des ersten Teils führen die Autoren die verschiedenen Daten zu Reihen des BIP und des BIP pro Kopf zusammen. Dieser Vorgang ist bereits für zeitgenössische Schätzungen des BIP fehleranfällig und alles andere als exakt. Entsprechend schwierig ist es, diese Berechnungen mit den unvollständigen Daten aus den sechs untersuchten Jahrhunderten vorzunehmen, weshalb die Autoren jeden einzelnen methodischen Schritt für die Leserschaft dokumentieren.

Der zweite Teil des Werks beschäftigt sich mit der Auswertung und Interpretation der beiden Zeitreihen. Die Autoren beschreiben zunächst den Verlauf des gesamtwirtschaftlichen Wachstums, wobei auffällt, dass die langfristige wirtschaftliche Entwicklung in England nach dem „Schwarzen Tod“ 1348/49 kontinuierlich aufwärts verlief. Dabei verdoppelte sich das BIP pro Kopf zwischen dem frühen 14. Jahrhundert und 1700 ebenso wie zwischen 1700 und 1870. Wie die Autoren aufzeigen, stiegen vor der Industriellen Revolution tatsächlich die Bevölkerungszahl und die Wirtschaftsleistung pro Kopf parallel zueinander an, eine Erkenntnis, die diametral zur Bevölkerungstheorie von Thomas Malthus steht. Weiter setzen sie BIP und BIP pro Kopf zu anderen ökonomisch relevanten Größen wie etwa den Reallöhnen, dem Konsum von Gütern, der Produktivität von Arbeitskräften oder der sozialen Verteilung des Einkommens in Beziehung. Darüber hinaus werden die Ergebnisse in einen wirtschaftstheoretischen Kontext mit Thomas Malthus‘ und Adams Smiths Lehren gestellt. Ein Vergleich mit Europa und Asien rundet die Interpretation ab, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Gründe für die lang anhaltende hegemoniale Stellung der britischen Wirtschaft in der Welt gerichtet wird.

In einem Epilog werden die wichtigsten Ergebnisse und Zusammenhänge zusammengefasst und kurz und prägnant dargestellt. Die Publikation ist großzügig mit Tabellen, Karten, Graphen und weiteren zusätzlichen Materialien ausgestattet, die es ermöglichen, die unterschiedlichen Berechnungsschritte nachzuvollziehen und die Reihen für weiterführende Forschung zu verwenden.

Der Ansatz, das BIP und BIP pro Kopf für eine Zeitspanne von 600 Jahren zu berechnen beziehungsweise zu schätzen, wird nicht ausschließlich auf Gegenliebe stoßen. Da das Autorenteam aber mit einer Datengrundlage von höchster Qualität gearbeitet hat, sind die bemerkenswerten Resultate durchaus belastbar. Wie die Autoren selbst ausführen, können einzelne methodische Ansätze oder Teile des umfangreichen Datenpuzzles kritisiert werden (S. 214). Es ist jedoch ganz im Sinne der Forschung, Resultate mit einer erklärten, geringen und tolerierbaren Unschärfe zu erarbeiten, anstatt auf Aussagen in diesem Bereich einfach zu verzichten. Die Autoren präsentieren in ihren Ergebnissen nicht nur präzise Zahlen und harte Fakten, sie stellen diese mit anschaulichen Beispielen dar, weshalb das Buch nicht nur für jeden Spezialisten aus dem Bereich Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts zu empfehlen ist, sondern allen Leserinnen und Lesern, die sich für Themen der Volkswirtschaft oder die Strukturgeschichte Englands interessieren.

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