W. Nerdinger (Hrsg.): München und der Nationalsozialismus

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Titel
München und der Nationalsozialismus. Katalog des NS-Dokumentationszentrums München


Herausgeber
Nerdinger, Winfried
Erschienen
München 2015: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
624 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Habbo Knoch, Historisches Institut, Universität zu Köln

Die Eröffnung von Dauerausstellungen an historischen Orten des Nationalsozialismus, insbesondere im Verbund mit Neubauten, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach als Zäsur der bundesdeutschen Erinnerungspolitik erwiesen. Auch das nach einem langen, konfliktreichen Prozess 2015 eröffnete NS-Dokumentationszentrum München stellt einen Einschnitt dar.1 Doch worin wird zukünftig dessen überregionale Bedeutung – etwa im Verhältnis zur „Topographie des Terrors“ in Berlin – liegen? So war während des Streitens über Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit des NS-Dokumentationszentrums bis hinein in die Konzeption der Ausstellung das Spannungsverhältnis unübersehbar, wie sich die lokale Geschichte einer Stadtgesellschaft vor, während und nach der NS-Zeit zur überregionalen Bedeutung von München für den Nationalsozialismus als politische Bewegung und für die NSDAP verhält.

Programmatisch werden vom Gründungsdirektor und Herausgeber Winfried Nerdinger das Dokumentationszentrum und der Katalog unter das Motto einer „rücksichtslosen Aufklärung“ (Klaus von Dohnanyi) gestellt, die durch „objektivierte Kontextualisierung und evidente Vermittlung“ erreicht werden soll (S. 11). Es geht um „historische Ereignisse und Zusammenhänge als Gegenstände des Wissens“, die insbesondere die „Täterschaft und ihre Taten“ (S. 10) einbeziehen sollen. Nerdinger grenzt dies dezidiert von Orten ab, an denen der Opfer gedacht werde: dort Empathie, hier Wissen. Diese unnötige Polarisierung ist für Gedenkstätten, auf die diese Äußerung zielt, seit Langem überholt.

Merkwürdiger ist aber an dieser Stelle der Gegensatz von „Tätern“ und „Opfern“ als Leitkategorien, da sich für die deutsche Gesellschaft im Nationalsozialismus gerade diese Dichotomie als unzureichend erwiesen hat. Nicht zuletzt hat die Debatte um Sinn und Nutzen des Begriffs der „Volksgemeinschaft“ für die Analyse der NS-Zeit zumindest den Bedarf einer breiter angelegten Forschung zu den Bindekräften und Formen sowie zu den Gründen von Mitwirkung, Distanz und Opposition bekräftigt. Wie kann diese jüngste Neuausrichtung der NS-Forschung in Ausstellung und Katalog berücksichtigt werden, ohne der Verkürzungsgefahr eines essentialistischen Verständnisses von „Volksgemeinschaft“ zu unterliegen?

Das Münchner Konzept ließe sich als akteursorientierte Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus charakterisieren. Im Unterschied zu früheren Interpretationen und Darstellungen des Nationalsozialismus ist dabei auffällig, wie vergleichsweise wenig Hitler und die NS-Führung, Institutionen und ihre Entwicklung, Elitengruppen und soziale Führungsschichten, staatlich-administratives Handeln oder Institutionen wie die Gestapo, die Justiz oder Wirtschaftsunternehmen explizit thematisiert oder dargestellt werden. Sowohl Bindung wie Ausgrenzung im Nationalsozialismus werden hingegen vielmehr als verflochtener Prozess vertikal-hierarchischer Strukturen und horizontal-sozialer Praktiken lesbar. Dies ins Bewusstsein zu heben ist ohne Zweifel und trotz mancher Kosten ein großer Gewinn der jüngsten NS-Geschichtsschreibung, auch der Münchener Präsentation.

Da hierbei für München Lokalspezifisches (wie für jede Stadt), Exemplarisches (hinsichtlich der deutschen Gesellschaft vor, im und nach dem Nationalsozialismus) und Besonderes (aufgrund der Sonderrolle Münchens für Hitler, die NSDAP und ihre Herrschaftssymbolik) in komplexer Überlagerung und Veränderung zusammenkommen, sahen sich die Verantwortlichen der Ausstellung und des Katalogs der besonderen Herausforderung gegenüber, diesen drei Dimensionen gerecht zu werden. Leider werden Lesende systematische Überlegungen, wie die drei Dimensionen dokumentarisch, analytisch und inszenatorisch in der Ausstellung und auch erklärungsanalytisch aufeinander bezogen worden sind, im Katalog vergeblich suchen. Dieses Manko reicht bis hinein in dessen Aufbau. Die Einführung erläutert vor allem das Konzept des Dokumentationszentrums, nicht aber das des Katalogs. So sind wohl weite Teile der Ausstellung übernommen worden, aber ob und wie für den Katalog ausgewählt wurde, ist nicht zu erfahren.

Der mit über 600 Seiten umfangreiche Band selbst ist zweigeteilt: Der erste Teil „Katalog der Ausstellung“ mit etwa 370 Seiten dokumentiert alle 33 Themenbereiche der Ausstellung, elf davon zu „Ursprung und Aufstieg der NS-Bewegung“ bis 1933, zehn vor allem zur Phase von 1933 bis 1939 („Mitmachen – Ausgrenzen“), sechs zu „München und der Krieg“ sowie weitere sechs zur Auseinandersetzung nach 1945. Es folgt ein zweiter Teil mit etwa 230 Seiten und 19 Aufsätzen (weitgehend von namhaften Historikerinnen und Historikern) im Umfang von acht bis zehn Seiten sowie vier „Kommentaren“ von ausländischen Historikern zum deutschen Umgang mit der NS-Zeit. Der Aufsatzteil ist grob chronologisch gegliedert, erfährt aber keine Unterteilung. Auch wenn durch die teils chronologisch, teils systematisch ausgerichteten Beiträge das Thema von Ausstellung und Katalog breit abgedeckt wird, erschließt sich die Abfolge der Beiträge nicht vollständig.

Der erste Katalogteil behandelt das Verhältnis von München und NSDAP bis 1935, betont mithin das Besondere: Entstehung, Umfeld und erste Radikalisierung bis 1923, die Jahre des Neuaufbaus, den „Weg zur Macht“ und die bauliche Etablierung Münchens als „Hauptstadt der Bewegung“. Korrespondierend arbeitet Hans Günter Hockerts im Aufsatzteil wichtige Bedingungsfaktoren Münchens für den Aufstieg der NSDAP und die strategische wie symbolische Bedeutung der Stadt heraus, die nach 1933 gezielt zum „Inbegriff des braunen Zentralismus umgepolt“ worden sei (S. 396). Peter Longerich analysiert die Frühgeschichte der NSDAP gegen die langanhaltende Legendenbildung Hitlers als historisches Ergebnis „politischen Handelns“ (S. 398). Die im Katalogteil anhand zahlreicher Beispiele und Biographien dokumentierten „Positionen und Handlungen eines eindeutig rekonstruierbaren Kreises von Rechtsextremisten“ seien „weit gewichtiger zu veranschlagen [...] als das Verhalten Hitlers“ (ebd.). Der wissenschaftlichen Vertiefung des ersten Katalogteils ist auch der Beitrag von Winfried Süß zu München als „Zentrum der Partei“ zuzurechnen. Trotz Verlagerungen nach Berlin sei die Stadt ein „politischer Zentralort“ im NS-Deutschland gewesen, zumal von hier aus die lange unterschätzte sukzessive Übernahme auch von öffentlichen Aufgaben vor allem während der Kriegszeit als „Verflechtung“ mit den staatlichen Bürokratien gesteuert worden sei (S. 470).

Der zweite und dritte Katalogteil zu den Friedens- und Kriegsjahren der NS-Zeit betont vor allem das Exemplarische Münchens als Schauplatz einer Politisierung der Gesellschaft im Zeichen nationalsozialistischer Herrschaftsziele und verflochtener Praktiken. Die Auswahl von Themen und Dokumenten ist stark durch politische Leitbegriffe wie Verfolgung, Ausgrenzung, Widerstand und Krieg geprägt sowie entlang von ereignisgeschichtlichen Phasen strukturiert. Die meisten Dokumente und Abbildungen haben einen unmittelbaren Bezug zu München und dennoch durchaus exemplarische Aussagekraft; zahlreiche Biographien oder die Beteiligung von Münchenern etwa an den Verbrechen im Zweiten Weltkrieg entsprechen dem schon im ersten Katalogteil verfolgten Ziel, die Strukturen anhand von Personen zu konkretisieren. Auch der Abschnitt zum Krieg ist anhand etablierter thematischer Bereiche gegliedert, vor allem Luftkrieg, Zwangsarbeit, „Widerstand und Zivilcourage“ sowie „Mord und Terror“ in der letzten Kriegsphase. In beiden Katalogteilen gibt es Abschnitte zum Alltag, wobei hier wie insgesamt vor allem das öffentliche Leben in der Stadt behandelt wird. Gut eingebunden wird in beiden Teilen das mit München zwischen 1933 und 1945 verbundene Besondere: die „Hauptstadt der Deutschen Kunst“, das Münchener Abkommen, Georg Elser oder die „Weiße Rose“. Ausgrenzung und Verfolgung wird in den beiden Katalogteilen zur NS-Zeit viel Raum gegeben, einschließlich „Arisierung“, der Beteiligung Münchner Reservepolizisten am Holocaust und der Zwangsarbeit bei BMW und Krauss-Maffei.

Durch die konzeptionell-begriffliche Fokussierung auf die Verschränkung von Politik und Gesellschaft wird vor allem die erfolgreiche Durchdringung und bereitwillige Mitgestaltung des Lebens zwischen 1933 und 1945 im Zeichen der als nationalsozialistisch postulierten Umgestaltung der Weimarer Gesellschaft betont. Das geschieht nicht zuletzt durch das umfänglich verwendete Fotomaterial: quantitativ wie konzeptionell im Sinne der Evidenzabsicht die Hauptquelle der Ausstellung. Im Katalog fällt die unterschiedliche Verwendung von Bildgrößen nicht so auf wie in der Ausstellung, wohl aber, dass nur in den seltensten Fällen die Bildunterschriften Aufschluss über die Fotografen und ihren Kontext geben; häufiger fehlen auch Jahres- und Ortsangaben. Letztlich gelingt hier gerade die „objektivierte Kontextualisierung“ der zahlreichen Abbildungen mit propagandistischem Hintergrund nicht. Die entsprechenden Bilder dienen als vereinfachende Evidenz, weil sie nicht selten auch das – gerade mit Fotografien vermittelte – Wunschbild der Nationalsozialisten widerspiegeln. Ob es immer so war, wie es die Bilder zeigen, wird als Frage nicht gestellt. Ein entsprechender quellenkritischer Beitrag fehlt im Aufsatzteil.

Neben diesem methodologischen Defizit liegt die größte Herausforderung für das Ausstellungskonzept vielleicht in dem Beitrag von Andreas Wirsching zur „Privatheit“, denn damit ließe sich fragen, ob das alltägliche Leben so restfrei (und weitgehend affirmativ) (selbst-)nazifiziert worden ist, wie es die Ausstellung trotz der ebenfalls vorhandenen biographischen Thematisierung von Opposition und Widerstand im Grunde durch ihre Perspektivenauswahl vermittelt. Letztlich kommt der Alltag und seine Kontingenz dann doch zu kurz: München bei Tag und Nacht, die Entwicklung großstädtischen Wohnens und Arbeitens, Liebens und Ausgehens – bis hin zur sich ausbreitenden kommerziellen Unterhaltungskultur (und ihrer auch immensen politischen Bedeutung). Die These einer Verwandlung der deutschen Gesellschaft in eine rassistisch strukturierte „Volksgemeinschaft“ unter nationalsozialistischen Vorzeichen ist zwar schlüssig veranschaulicht, wirkt aber letztlich zu glatt und pauschalisierend, auch weil weitgehend auf die Einbeziehung privater Zeugnisse und Bilder verzichtet wurde.

Insgesamt liefert der Aufsatzteil zum zweiten und dritten Katalogteil eher – meist wenig überraschenden – Hintergrund als „objektive Kontextualisierung“, denn dafür mangelt es den Texten letztlich an konkreten Bezügen zu den gezeigten Dokumenten und zu München. So interpretiert Ulrich Herbert in einer kritischen Lesart des Konzepts „Volksgemeinschaft“ den Nationalsozialismus als „rassistische Gesellschaft“ (S. 418). Lutz Raphael arbeitet in einem konzisen, herrschaftstypologischen Text zu Transfers und Vergleichen innerhalb europäischer Regime der Zwischenkriegszeit die Besonderheit des NS-Regimes heraus. Christiane Kuller fokussiert auf die Rolle der verschiedenen Verwaltungsinstanzen beim verbrecherischen Handeln des NS-Regimes und stellt noch am weitgehendsten Bezüge zur Münchner Verwaltung her. Ebenso werden Bereicherung (Frank Bajohr), Privatheit (Andreas Wirsching), Propagandamedien (Gerhard Paul), Gefühlspolitik (Ute Frevert), Geschlechterverhältnisse (Elizabeth Harvey), Kirchen (Thomas Brechenmacher / Harry Oelke), Widerstand (Jürgen Zarusky), Kultur (Wolfgang Frühwald) sowie Wissenschaft (Helmuth Trischler) behandelt. Die Lesenden bleiben jedoch bei den allermeisten dieser Beiträge auf sich allein gestellt, wenn es darum geht, Bezüge zur Ausstellung herzustellen und analytische Klarheit zum Verhältnis von Lokalspezifischem, Exemplarischem und Besonderem zu gewinnen.

Den vierten Katalogteil prägt trotz der evidenten Exemplarität für den Umgang mit dem Nationalsozialismus nach 1945 das Lokale, vor allem hinsichtlich der eigenen Taktungen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und der topographischen Besonderheiten Münchens im Zeichen des Nationalsozialismus. Dass die beiden Überblicksaufsätze von Anselm Doering-Manteuffel zu den Generationserfahrungen nach 1945 und von Winfried Nerdinger zum Münchener Umgang mit der „zerlumpten Vergangenheit“ durch vier Kommentare nicht-deutscher Historiker ergänzt werden (und hier nur Alan E. Steinweis auf München eingeht), rahmt die lokalspezifischen Formen des Verdrängens und Wiederentdeckens nicht durch eine analytische, sondern durch eine politisch-moralische Frage: Haben die Deutschen genug getan? Unabhängig von den Kommentaren, die so klug sind, sich einer Antwort auf diese Frage weitgehend zu entziehen, ist schon die Fragestellung verwunderlich: „Haben die Deutschen die Verantwortung für die NS-Vergangenheit übernommen?“ Wer mag zu dieser Frage angesichts des neu eröffneten Münchener Dokumentationszentrums schon „Nein“ sagen? Konzeptionell unklar bleibt, warum sie in dieser Form gestellt worden ist, zumal die politischen Debatten um das NS-Dokumentationszentrum bei Nerdinger wie auch im Katalog nur am Rande auftauchen.

Am Aufsatzteil fällt insgesamt auf, dass nur zwei der 23 Beiträge der Zeit vor 1933 gewidmet sind. Summiert macht das Textvolumen zu dieser Phase lediglich ein Sechstel der Aufsätze und Kommentare aus (gegenüber einem Drittel im Katalogteil, was der besonderen Rolle Münchens in der Frühphase entspricht). Doch wenn Ausstellung und wohl auch der Katalog eine Wiederkehr der Zerstörung demokratischer Ordnungen vermeiden wollen, wieso ist dann gerade am Münchener Beispiel den Jahren um 1933 nicht eine innovative Analyse der politischen Sozialgeschichte im Aufsatzteil gewidmet worden?

Lediglich sechs von 19 Aufsätzen behandeln ausdrücklich München (drei davon für die Jahre von 1933 bis 1945), während dies im Katalogteil sowohl in den Einführungstexten, aber vor allem bei den Dokumenten und Biographien bei Weitem überwiegt. In den weiteren 13 Aufsätzen (aber mit einer Ausnahme auch in den Kommentaren) ist der explizite Bezug zu München zumeist gar nicht vorhanden oder im Einzelfall nur illustrativ hergestellt – mit Ausnahme von Marita Krauss’ Text zur Münchner Stadtgesellschaft während der NS-Zeit, der aber nicht systematisch genug einholen kann, was in den anderen Aufsätzen an Verbindung des Exemplarischen und Lokalen fehlt. Ein eigener Text zur (auch topographischen) Stadtgeschichte im Nationalsozialismus und der Rolle Münchens – auch im Unterschied zu ländlichen Räumen der nationalsozialistischen Durchdringung des Gesellschaftlichen – hätte hier zur Kontextualisierung beitragen können. Sehr überraschend ist zudem, dass kein Beitrag die lokale und regionale Münchner Topographie der Verfolgungsgewalt – ausgehend vom KZ Dachau 1933 bis hin zu den Todesmärschen 1945 – systematisch analysiert und in die Genese der Verfolgungsorte des NS-Systems einordnet.

Man könnte die Beiträge, die nicht München gewidmet sind, als forschungsnahe, einführende Aufsätze zu Teilaspekten der Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus auch gesondert in einem ganz anderen Band publizieren. Diese Beiträge sind in der Regel sehr informativ, übersichtlich und auf der Höhe der Forschung. Doch wirkt Ute Freverts Beitrag zur Politik der Gefühle zu plakativ, Wolfgang Frühwald behandelt das Thema Kultur zu eng nur über das selbst konstruierte „Doppelleben“ einiger Schriftsteller, Helmuth Trischlers Aufsatz zur Wissenschaftspolitik kommt ohne die Selbstmobilisierung der Wissenschaftler aus und erklärt selbst einen (zumindest) NS-Opportunisten wie Adolf Butenandt uneingeschränkt zum „herausragenden“ Wissenschaftler der Bundesrepublik (S. 534).

Zudem ist – auch hinsichtlich der Gewinne und Verluste einer akteursorientierten Gesellschaftsgeschichte – zu fragen, warum nicht andere Eliten neben der Verwaltung wie die Justiz, die Industrie, aber auch Wissenschaftler einer erhellenden Analyse in wissenschaftlichen Aufsätzen unterzogen werden. Steht das dem Siegeszug der kollektivierenden Vervolksgemeinschaftlichung unseres Bildes der NS-Zeit zu sehr im Weg – und was geschieht dabei mit den systemisch wesentlichen, weil ressourcenstarken Akteuren, gerade wenn Aufklärung und Lernen das Ziel sind?

Der Aufsatzteil des Katalogs clustert und hierarchisiert mit scharfen Trennungen: erstens zwischen München als konkreter Stadt und allgemeinen Perspektiven auf den Nationalsozialismus, wobei die Beiträge selbst keine oder keine hinreichenden analytischen Bezüge zwischen diesen Perspektiven (auch nicht zur Ausstellung und ihren Exponaten) herstellen; zweitens zwischen Epochen, für die eine Einteilung nach politischen Daten (1919–1933–1945) wieder bekräftigt und die Phase zwischen 1933 und 1945 deutlich stärker gewichtet wird als etwa der Aufstieg des Nationalsozialismus und das Ende Weimars; drittens zwischen der deutschen und nicht-deutschen Forschung zur deutschen Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts, denn bis auf zwei Ausnahmen handelt es sich bei den Aufsätzen um Autorinnen und Autoren aus der deutschen Wissenschaft, während die vier Kommentare ausländischer Historiker sich nicht auf die NS-Zeit selbst, sondern auf den Umgang mit ihr konzentrieren. Das wirft die Frage auf, ob die Auswahl der Autorinnen und Autoren (manch einschlägige wie Norbert Frei, Sven Reichardt oder Michael Wildt fehlen) eine Art Forschungsstolz als Zeichen endlich gelungener Aufarbeitung dokumentieren soll, was aber auf Kosten der internationalen Forschung zum Nationalsozialismus geht.

Münchener werden viel von ihrer früheren Stadt und deren Entwicklung bis in die Gegenwart wiederfinden können. Die detailreiche und präzise Aufarbeitung vieler Teilaspekte ist ohne Frage eine Stärke von Ausstellung und Katalog. Dass sich am Lokalen Exemplarisches über die Funktion des Nationalsozialismus zeigen lässt, beweist für den städtischen Raum schon lange neben anderen städtischen Gedenkstätten das NS-DOK in Köln. Leider scheuen Ausstellung und Katalog davor zurück, eine These zu machen, die das Lokale, Exemplarische und Besondere vor allem für die Jahre zwischen 1933 und 1945 schlüssig verbindet. Das Besondere als Ort der Entstehung der NSDAP scheint auch nach 1933 immer wieder auf, wird aber dann vor allem in der Abwehr dieses Besonderen erst nach 1945 wieder sichtbar. Ob es aber für die Akteure im München der NS-Zeit einen Unterschied machte, in der „Hauptstadt der Bewegung“ zu leben, bleibt leider offen.

War München, wie es einer exkulpatorischen Genügsamkeit entgegenkäme, dann doch nach 1933 nicht anders als das Deutsche Reich insgesamt, wenn es um die Vergesellschaftung des Nationalsozialismus ging? Die weitere Arbeit des NS-Dokumentationszentrums wird und muss zeigen, wie weit die „rücksichtslose Aufklärung“ auch lokaler Mythen zukünftig reicht. Da die Ausstellung sich für die Nachkriegszeit auf den lokalen erinnerungspolitischen Umgang mit der NS-Zeit konzentriert, erfährt man nichts über die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Kontinuitäten: Was wurde aus den alten und neuen NS-affinen Eliten, was aus BMW und Krauss-Maffei? Konzeptionell lässt sich sicherlich argumentieren, dass eine Ausstellung zu „München und dem Nationalsozialismus“ das nicht alles leisten kann. Doch gehört nicht zur „rücksichtlosen Aufklärung“ inzwischen vor allem dazu, die längeren Kontinuitäten vor 1933 und nach 1945 hervorzuheben? Ausstellung und Katalog betonen hingegen die Trennungen. Gerade im Ausweis von Kontinuitäten könnte jedoch die wesentliche bundesweite Bedeutung des neuen Hauses liegen, den Nationalsozialismus als Filtrat und als Substrat einer gesellschaftlichen Figuration und seine lange Dauer von den 1920er- bis weit in die 1960er-Jahre hinein zu betrachten, statt die damit verbundenen Kontinuitäten mit dem täuschenden Konsensschirm einer vom Nationalsozialismus mehr oder weniger erfolgreich implantierten „Volksgemeinschaft“ zwischen 1933 und 1945 zu verdecken.

Anmerkung:
1 Vgl. auch die Ausstellungsrezension von Sylvia Necker, in: H-Soz-Kult, 31.10.2015, <http://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-222> (09.02.2016).

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