S. Schüler-Springorum: Geschlecht und Differenz

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Titel
Geschlecht und Differenz.


Autor(en)
Schüler-Springorum, Stefanie
Reihe
Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte
Erschienen
Paderborn 2014: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
163 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martha Keil, Universität Wien / Institut für jüdische Geschichte Österreichs, St. Pölten

Stefanie Schüler-Springorums Publikation „Geschlecht und Differenz“ ist das vierte Büchlein in der von ihr und Reinhard Liedtke herausgegebenen Reihe „Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte“. Im Jahr 2012 sind drei Werke erschienen, 2014 erschien neben dem vorliegenden auch „Politik und Recht“ von Uffa Jensen.1 Die zwei restlichen in der Reihe vorgesehenen Bücher kündigt der Verlag für das Jahr 2016 an.2 Der Reihentitel (ohne Nummerierung) fungiert somit als erklärender Untertitel zu den wohl bewusst allgemein gehaltenen großen Themenkomplexen und verankert sie in der deutsch-jüdischen Geschichte. Der Klappentext präzisiert die zeitliche Einordnung: „Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte vermittelt in sieben Bänden einen umfassenden, thematisch-organisierten Überblick über die historische Erfahrung der Juden im deutschen Sprachraum vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.“ Insbesondere für diesen Band hätte man sich hier eine genderneutrale Formulierung gewünscht. Betont wird des Weiteren, dass deutsch-jüdische Geschichte „immer als integraler Bestandteil der allgemeinen Geschichte betrachtet wird“, und dass sich die Reihe „an ein breites, historisch interessiertes Lesepublikum“ wendet. Folgerichtig weist der Text auf 149 Seiten nur 60 Fußnoten auf, doch bietet ein ausführliches Literaturverzeichnis die Möglichkeit zur Vertiefung. Ein Personenregister rundet die Publikation ab.

Schüler-Springorum verzichtet auf eine methodische Einführung, ihre erkenntnisleitenden Fragen sind im Klappentext nachzulesen: die „Folgen der Verbürgerlichung des deutschen Judentums auf das Geschlechterverhältnis in seinen jeweiligen Ausprägungen“ sowie die „Auswirkungen, die Verfolgung, Vertreibung und Massenmord im 20. Jahrhundert auf die Geschlechterbilder und -rollen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft hatten und inwiefern sich deren langfristige Spuren bis in die Gegenwart nachweisen lassen“.3 In Anbetracht des angesprochenen Zielpublikums wäre ein kurzer theoretischer Abschnitt zu den Begriffen im Titel und den damit zusammenhängenden Methoden doch empfehlenswert gewesen.4

Nach einem kurzen und entsprechend kursorischen Abschnitt „Vor der Emanzipation“ strukturiert Schüler-Springorum in acht Kapiteln mit durchschnittlich 15 bis 20 Seiten einerseits die historisch einschneidenden Ereignisse und Entwicklungen zwischen dem 17. Jahrhundert und der Gegenwart („Vor der Emanzipation“; „Maskilim und Salondamen“). Andererseits untersucht sie die unter den Überschriften „Von der Männer- zur Frauenreligion“, „Die jüdische Frau“, „Der jüdische Mann“, sowie „Männerräume – Frauenräume“ die Optionen und Handlungsspielräume, die den Juden und Jüdinnen sei es im Privatleben, sei es im jüdischen Vereinswesen, in den Gemeinden und der jüdischen wie allgemeinen Öffentlichkeit offenstanden bzw. die inneren und äußeren Mechanismen, durch welche sie behindert und eingeschränkt wurden. Etwas umfangreicher und äußerst detailreich sind die Kapitel zur NS-Zeit („Männer ohne Macht, Frauen ohne Unterstützung: Verfolgte Gemeinschaft im Nationalsozialismus“) und von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart („Von der Katastrophe zu neuer Vielfalt“).

Außer Geschlecht zieht Schüler-Springorum im jeweils sinnvollen Zusammenhang auch Alter, Familienstand, soziale Herkunft und Umfeld in der Stadt oder auf dem Land als Kategorien der Analyse heran (z.B. zu Mischehen oder zur Frage des Überlebens während der Verfolgungen). Vergleiche mit dem Protestantismus (z.B. zum Mess- bzw. Synagogenbesuch) und zur Situation der jüdischen Bevölkerung in Österreich (z.B. zu Dienstboten) weisen über religiöse und geographische Grenzen hinaus. Nicht nur aufgrund der gegebenen Kürze stößt die Darstellung jedoch zuweilen an ihre Grenzen, wie an Äußerungen wie „darüber lässt sich lediglich spekulieren“ (S. 119), „lässt sich keine klare Aussage machen“ (S. 121), „sei dahingestellt“ (S. 125; ähnlich auch S. 129 und S. 144) erkennbar wird. Diese und weitere Relativierungen ergeben sich aus der Schwierigkeit, aus den Quellen stichhaltige Informationen über eine genderspezifische Reaktion, sei es in Emotion oder Aktion, beispielsweise auf die nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen, zu gewinnen. Hier wäre gerade auch für ein historisch wenig gebildetes Publikum eine Bemerkung zur Problematik autobiographischer Quellen für Fragestellungen dieser Art angebracht gewesen.

Auch wenn über das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen weitgehend Konsens herrscht, scheint die Angabe von Zahlen an Taten und Opfern ohne Nachweis in der Fußnote doch noch immer problematisch. Bei einer relativ großen Informationsdichte mit zahlreichen Details ist nur auf durchschnittlich jeder dritten Seite eine Fußnote eingefügt, was vielleicht zu viel Akzeptanz seitens der Leser/innen voraussetzt. Noch mehr Unbehagen empfand ich darüber, dass Schüler-Springorum ohne direktes Belegzitat in sehr offener Weise über noch immer höchst tabuisierte geschlechtsspezifische Erfahrungen von Verfolgung schreibt, beispielsweise über sexualisierte Folter auch von Männern (z.B. S. 127, der vermutlich dazugehörige Artikel auf S. 128, Anm. 53). Auch folgender Satz, den ich wörtlich zitiere, sollte meiner Ansicht nach nicht ohne Nachweis in einer Überblicksdarstellung stehen: „Dies wiederum [sexuelle Gewalt als Verfolgungserfahrung, Anm. MK] gilt auch für Männer, von denen viele ebenfalls sexueller Gewalt ausgesetzt waren und bis heute darüber schweigen. Direkt nach dem Krieg jedoch scheint sich ihr Bedürfnis nach Rache unter anderem in sexueller Form geäußert zu haben, in der Genugtuung, mit deutschen Frauen nun deutlich asymmetrische Beziehungen eingehen zu können, die das gesamte Spektrum von Vergewaltigungen bis hin zu Liebesbeziehungen abgedeckt haben werden.“ (S. 141) Die Fußnote auf der nächsten Seite (S. 142, Anm. 59) zitiert Atina Grossman – ob sich diese wenn auch vorsichtig formulierte Behauptung auf sie oder auf Schüler-Springorums eigene Forschungen oder Mutmaßungen stützt, wird nicht klar.5

Diese kritischen Einwände betreffen nur einen kleinen Ausschnitt des rezensierten Büchleins, der allerdings, wie zu vermuten ist, mit besonderer Aufmerksamkeit rezipiert werden wird. Das Konzept der gesamten Publikation ist jedoch zu begrüßen. Um noch einmal den Klappentext zu zitieren: „Ein konsequent geschlechtergeschichtlicher Blick trägt dazu bei, vermeintliche Gewissheiten, etablierte Periodisierungen und verbreitete Interpretationen zu überprüfen – und eröffnet so auch für die deutsch-jüdische Geschichte eine ganze Reihe neuer Perspektiven und Chancen.“ Man ist versucht zu ergänzen: in Kombination mit anderen grundlegenden Methoden auch neue Perspektiven für die Geschichte schlechthin. Stefanie Schüler-Springorums flüssig und verständlich geschriebene Publikation kann dafür als Anregung dienen.

Anmerkungen:
1 Klaus Hödl, Kultur und Gedächtnis, Paderborn 2012; Steven Lowenstein, Religion und Identität, Paderborn 2012; Tobias Brinkmann, Migration und Transnationalität, Paderborn 2012; Uffa Jensen, Politik und Recht, Paderborn 2014.
2 Rainer Liedtke, Wirtschaft und Ungleichheit, Paderborn 2016; Miriam Rürup, Alltag und Gesellschaft, Paderborn 2016.
3 Siehe auch <https://www.schoeningh.de/katalog/titel/978-3-506-77131-5.html> (07.12.2015).
4 Siehe Kirsten Heinsohn, Geschlechtergeschichte und Jüdische Geschichte, in: Gerald Lamprecht (Hrsg.), „So wirkt ihr lieb und hilfsbereit…“. Jüdische Frauen in der Geschichte (Clio – historische und gesellschaftspolitische Schriften 8), Graz 2009, S. 19–33.
5 Atina Grossman, Victims, Villains, and Survivors: Gendered Perceptions and Self-Perceptions of Jewish Displaced Persons in Occupied Postwar Germany, in: Dagmar Herzog (Hrsg.), Sexuality and Fascism, New York 2002, S. 291–318.

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