Y. v. Saal: KSZE-Prozess und Perestroika

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Titel
KSZE-Prozess und Perestroika in der Sowjetunion. Demokratisierung, Werteumbruch und Auflösung 1985–1991


Autor(en)
Saal, Yuliya von
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 100
Erschienen
München 2014: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
IX, 404 S.
Preis
€ 54,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Schlotter, Institut für Politische Wissenschaft, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Das für alle Beobachter überraschende Ende des Ost-West-Konflikts und der damit zusammenhängende Zerfall der Sowjetunion sind bis heute ein Thema, das die Politik- und die Geschichtswissenschaft umtreibt. Wie immer bei solchen epochalen Ereignissen bewegen sich – vor allem bei theoretischen Erklärungsversuchen – die Einschätzungen im Bereich von Weltanschauungen und Großtheorien. So führen konservative Positionen in der Politik und Vertreter der realistischen Theorie der Internationalen Beziehungen den Zusammenbruch der UdSSR auf die Machtkonkurrenz mit den USA zurück, in der die Sowjetunion auf Grund ihrer wirtschaftlichen Schwäche (und damit auch militärischen Unterlegenheit) gegenüber dem Westen den Kürzeren gezogen habe. Grob vereinfacht lässt sich diese Einschätzung mit dem Ronald Reagan zugeschriebenen Satz illustrieren: „Wir rüsten die Russen an die Wand, bis sie quietschen.“ Sei diese Äußerung nun gefallen oder nicht, sie gibt eine weitverbreitete Einschätzung wieder, nach der die internationalen Beziehungen ein Machtspiel sind, in dem der Stärkere sich durchsetzt.

Ohne den Machtfaktor außer Acht zu lassen, betonen demgegenüber liberale Positionen die wirtschaftliche und gesellschaftliche Attraktivität der westlichen Gesellschaften. Der Ost-West-Konflikt sei weniger ein Macht- als ein Wertekonflikt gewesen, in dem am Ende Selbstbestimmung, Demokratie und (kapitalistische) Marktwirtschaft den Sieg über Diktatur und staatliche Gängelung der Wirtschaft davon getragen hätten. Auch noch 1990 sei die Sowjetunion militärisch stark gewesen (vor allem durch den Besitz von zum Zweitschlag fähigen Nuklearwaffen); der Kommunismus sei nicht durch „Totrüstung“, sondern durch den Protest der Menschen, die ein freieres Leben suchten, überwunden worden. Das Ende des Kalten Krieges sei ein Triumpf des „Demokratischen Friedens“.

Eine dritte („konstruktivische“) Position betont vor allem die kommunikativen Aspekte in den internationalen Beziehungen. Durch die Entspannungspolitik in Europa, vor allem die Vereinbarung eines „Modus vivendi“ zwischen der DDR und der Bundesrepublik, und insbesondere durch den KSZE-Prozess seit 1975 sei es auf politischer und gesellschaftlicher Ebene zwischen Ost und West zu einem sich immer mehr intensivierenden Kommunikationsprozess gekommen. Dieser habe dazu geführt, dass sich die Ideen von Freiheit und Demokratie in den Gesellschaften des Warschauer Vertrages verbreitet hätten. „Ideas matter“ heißt die Devise.

Gegenüber dieser vor allem in der Politikwissenschaft intensiv geführten Debatte mit all ihren Übertreibungen und Zuspitzungen besticht die hier zu besprechende Arbeit einer Zeithistorikerin durch ihre nüchterne Analyse. Yuliya von Saal, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte am Sitz in München, hat sich in ihrer Doktorarbeit (vorgelegt an der Universität Erlangen-Nürnberg) zum Ziel gesetzt, die Wirkungen des KSZE-Prozesses auf den gesellschaftlichen Umbruch in der Sowjetunion, das Ende des Ost-West-Konfliktes und schließlich den Zusammenbruch der Sowjetunion zu untersuchen.

Nach einem kurzen Überblick über den Stand der Forschung zur KSZE behandelt Frau Saal den Strategiewechsel in der sowjetischen KSZE-Politik seit 1985 und vor allem die überraschende Aufgabe fast aller ihrer bisherigen Positionen auf der Folgekonferenz in Wien (November 1986 – Januar 1989). Der Hauptteil ihrer Studie besteht in einer äußerst gründlichen, empirisch detailgenauen Darstellung der vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen den KSZE-Verhandlungen und den innergesellschaftlichen Veränderungen in der Sowjetunion. Zunächst geht es um die Entstehung der informellen Gruppen, die sich auf die Normen (vor allem menschenrechtlichen) und Regeln beriefen, die auf den KSZE-Konferenzen mit Zustimmung der sowjetischen Regierung beschlossen worden waren. Vor der Perestroika waren Staat und Partei freilich davon ausgegangen, Papier sei geduldig und man könne eventuelle Probleme mit Dissidenten aussitzen oder diese letztlich unterdrücken – eine grandiose Fehleinschätzung. Das Blatt wendete sich, als die neue sowjetische Führung ab 1985 zunehmend die KSZE als Legitimationsrahmen für ihre Reformpolitik verwendete, auch wieder mit überraschenden Konsequenzen. Die Folge war ein Wechselspiel von KSZE-Prozess, Reform „von oben“, Obstruktion durch Parteikader „von unten“ und eine nicht mehr von der Gruppe um Gorbatschow zu kontrollierende innenpolitische Entwicklung in fast allen politischen Bereichen: der Frage der Achtung der Menschenrechte, der Meinungs- und Pressefreiheit, der Ausreisefreiheit, der Rolle der kommunistischen Partei und schließlich der nationalen Selbstbestimmung. Im Ergebnis endete die wechselseitige Beschleunigung von KSZE-Prozess und innerstaatlicher Liberalisierung/Demokratisierung im Auseinanderfallen der Sowjetunion.

Bisher hat keine Studie zu den Wechselwirkungen zwischen KSZE und sowjetischer Innenpolitik auf Grund einer gründlichen Auswertung von unveröffentlichten Quellen (vor allem in Moskau), der Auswertung der Memoirenliteratur, privater Aufzeichnungen, wissenschaftlicher Arbeiten und zahlreicher Interviews mit Zeitzeugen so detailliert und kenntnisreich aufzeigen können, welchen Rolle der KSZE-Prozess beim Ende der Sowjetunion spielte. Dies ist eine Leistung, die uneingeschränkte Bewunderung verdient.

Keine ehrliche Rezension kommt allerdings ohne ein paar kritische Anmerkungen aus. Da Yuliya von Saal – wie ihrem Lebenslauf zu entnehmen ist – Politikwissenschaft studiert hat, hätte ich mir eine stärkere theoretische Durchdringung der Thematik gewünscht. Die Arbeit hat ihre Stärken – und ihre Grenzen – in der methodischen Beschränkung auf einen geschichtswissenschaftlichen Empirismus. Im sozialwissenschaftlichen Sinne „Erklärungen“ würden etwas tiefer bohren. Zwar werden zu Beginn einige der Studien zu den Wirkungen der KSZE bzw. zu Rolle der Ost-West-Kontakte auf Führung und Gesellschaft in der UdSSR erwähnt, aber sie werden nicht wirklich gründlich rezipiert, und schon gar nicht in die Analyse integriert. Ganz zu Beginn erklärt Frau Saal, sie verorte ihre Arbeit in der konstruktivistischen Debatte. Dieses Bekenntnis bleibt aber vergleichsweise folgenlos. Für die theoretische Reflexion kann man einiges aus den Büchern von Checkel, Evangelista, English, Snyder (oder auch Schlotter) lernen1. Diese Arbeiten sind zwar thematisch breiter angelegt und gründen nicht auf einer so detaillierten Quellenauswertung; in der analytischen Reflexion gehen diese Bücher jedoch tiefer und geben im Prinzip das als theoretischen Ertrag vor, was Yuliya von Saal noch einmal empirisch detailliert belegt. Das ist viel, es bringt unser Wissen über den Ost-West-Konflikt und über den KSZE-Prozess voran. Was jetzt anstünde, wäre ein Austausch über disziplinäre Fachgrenzen hinaus.

Anmerkung:
1 Jeffrey T. Checkel, Ideas and International Political Change. Soviet/Russian Behavior and the End of the Cold War, New Haven 1997; Peter Schlotter, Die KSZE im Ost-West-Konflikt. Wirkung einer internationalen Institution, Frankfurt am Main 1999; Robert D. English, Russia and the Idea of the West. Gorbachev, Intellectuals and the End of the Cold War, New York 2000; Matthew Evangelista, Unarmed Forces. The Transnational Movement to End the Cold War, Ithaca 2002; Sarah B. Snyder, Human Rights Activism and the End of the Cold War. A Transnational History of the Helsinki Network, Cambridge 2011.

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