B. Belge u.a. (Hrsg.): Goldenes Zeitalter der Stagnation?

Cover
Titel
Goldenes Zeitalter der Stagnation?. Perspektiven auf die sowjetische Ordnung der Brežnev-Ära


Herausgeber
Belge, Boris; Deuerlein, Martin
Reihe
Bedrohte Ordnungen 2
Erschienen
Tübingen 2014: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
X, 329 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan B. Kirmse, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Boris Belge und Martin Deuerlein haben mit diesem Sammelband einen inspirierenden, empirisch und theoretisch anspruchsvollen Beitrag zur Forschung über die Sowjetunion nach dem Tode Stalins vorgelegt. In neun Einzelstudien legt der Band umfangreiches Material vor, das die von den Herausgebern skizzierte Neubewertung der Ära Breschnew (1964–1982) nachdrücklich unterstützt.

Der Titel des Bandes suggeriert bereits, dass es um eine Verortung dieser Periode geht, die die stark wertende, dichotome Darstellung von „Stagnation“ einerseits und „goldenem Zeitalter“ andererseits aufbricht. Dies gelingt vor allem dadurch, dass die Breschnew-Zeit anders als in den gängigen Herabsetzungen und Verklärungen nicht retrospektiv aufgearbeitet, sondern mithilfe unterschiedlicher Deutungen einer Vielzahl von Zeitgenossen historisiert wird. Sowjetische Lateinamerikaexperten kommen genauso zu Wort wie litauische Parteikader, kirgisische Schriftsteller, linke Oppositionelle, tatarische Maschinenbauer und Künstler aus der informellen Szene. Nicht zuletzt diese Verschränkung allsowjetischer, regionaler und globaler Perspektiven macht den Reiz des Buches aus.

Erfrischend ist auch die Ausgewogenheit des Bandes. Erfolg und Misserfolg, Mobilisierung und Gleichgültigkeit, Vielfalt und Repression stehen in den Fallstudien stets dicht beieinander. Die Geschichte der Breschnew-Zeit ist hier nicht einfach eine von erhöhtem Lebensstandard und Erwartungssicherheit geprägte Ode an die Stabilität; aber sie ist in weiten Teilen genauso wenig eine vorhersehbare Geschichte des Scheiterns.

Im Zentrum steht die Diskursanalyse. Hierbei geht es vor allem um die Frage, wie „Normalität“ und „Stabilität“ kommunikativ vermittelt und hergestellt wurden – sowohl von Seiten der Parteioberen, als auch von anderen gesellschaftlichen Akteuren. Die Formen der Kommunikation, die in den einzelnen Beiträgen untersucht werden, sind vielfältig: Nicht nur neue Sprachregelungen und Politikwechsel werden analysiert, sondern auch die Art und Weise, wie Künstler, Wissenschaftler und die arbeitenden Massen damit umgingen. In den Mittelpunkt rücken neben Karikatur und Kritik auch staatlich geförderte Kampagnen, etwa zur Förderung des Heldenkultes und zum Bau neuer Städte und Industriezentren. Nicht zuletzt wird der Blick auf kulturelle Praktiken wie Schlagermusik und Folkloredarbietungen gelenkt, die anfangs weder als völlig ideologisiert noch gegenkulturell wahrgenommen wurden, aber durch staatliches Vorgehen auch unbeabsichtigt politisiert werden konnten. Mithilfe all dieser Kommunikationsmittel konnten Menschen letztlich zum Ausdruck bringen, was sie als normal und (noch viel wichtiger) als nicht normal ansahen.

Im Ergebnis offenbart sich fern aller Klischees von Monotonie und Verkrustung eine vielfältige und dynamische Epoche. Unabhängig von alternden Parteikadern ist gerade die Arbeitswelt von einer erheblichen sozialen und geographischen Mobilität geprägt. Im sowjetischen Gesamtgefüge treten zudem gerade Mitte der 1970er-Jahre gravierende Veränderungen zu Tage: In der Kunstszene, in der Musikszene und in der politischen Opposition kommt es zu weitreichenden Aufspaltungen. Auch an den Rändern der Sowjetunion stehen die Zeichen auf Veränderung. Während es in Kirgisien etwa zum Bruch zwischen lokaler Intelligenzija und republikanischem Parteiapparat kommt, etabliert eine neue sowjetische Bildungs- und Kulturpolitik in Litauen eben jene nationalen Deutungsschemata, die in der Perestroika zu anti-sowjetischem Nationalismus führen. Diese und andere Beispiele unterstreichen die These der 1970er-Jahre als Phase der Veränderung.

Zugleich zeigt der Band, dass es sich hierbei um eine besondere Art der Veränderung handelte. Einerseits zeugen viele der Beiträge von einer deutlichen Ausdifferenzierung von Kultur und Gesellschaft. Restriktion und Zensur waren nur die eine Seite der Medaille. Sie waren zumeist von neuen Freiräumen begleitet, und zwar im bildlichen wie im wörtlichen Sinne. Man erschloss neue Räume. Auch prestigeträchtige Industriestandorte (dokumentiert an den Beispielen Schewtschenko/Kasachstan, heute Aktau, und Nabereschnye Tschelny/Tatarstan) waren von einer hohen Fluktuation von Arbeitskräften betroffen. Wissenschaftliche Kontroversen konnten nun auch öffentlich ausgetragen werden. Regisseure, Künstler und Musiker wiederum waren nicht gezwungen, zwischen staatlich kontrolliertem und informellem Sektor zu wählen, da diese eng miteinander verbunden blieben und sich zwischen ihnen eine Grauzone mit verschiedenen Schattierungen entwickelte.

Diese Differenzierungen änderten jedoch nichts daran, dass sich das System immer mehr gegen umfassenden Wandel sperrte. Die stetige Betonung der eigenen Stabilität und Harmonie führte dazu, dass der Zugang zu Informationen stark eingeschränkt und Probleme nur in Ansätzen diskutiert werden konnten. Bei zunehmender Debatte in vielen Teilbereichen der Gesellschaft wurde keine Diskussion über das System an sich zugelassen. Man isolierte sich von äußeren Einflüssen und wurde zunehmend selbstreferentiell. Die eigene Überlegenheit und Legitimität wurde immer weniger mit einem kommunistischen Zukunftsmodell begründet und immer mehr mit einer Hinwendung zur eigenen Vergangenheit. Die Sowjetunion der Breschnew-Zeit nahm sich selbst im Vergleich mit den Vätern der Revolution, den Entbehrungen des Stalinismus und den Helden des Kampfes gegen den Faschismus war. Ein Vergleich, der zum einen eine Bringschuld formulierte, zum anderen aber auch Verklärung war: so trug die medial vermittelte Verbindung der 1930er-Jahre mit Stahl, Blut und Schweiß auch ihren Teil dazu bei, die Breschnew-Jahre als Zeit der Atomkraft mit Dienstreise und Kinderbetreuung zu inszenieren.

Für die oben skizzierte Entwicklung, die Dynamik, Vielfalt und eine gleichzeitige Abwehrhaltung gegenüber grundsätzlichem Wandel betont, führt der Band den analytischen Begriff der „Hyperstabilität“ ein. Hyperstabile Gesellschaftsordnungen zeichnen sich demnach wie folgt aus: Konsens, Patronage und Kooptation in der Entscheidungsfindung; eine selektive Informationsverarbeitung und Abriegelung, die von der stetigen Versicherung der eigenen Stabilität begleitet wird; zunehmende Freiräume, die gesellschaftliche Ausdifferenzierung mit verschiedenen „Normalitäten“ befördern; sowie eine vereinfachte Lebensplanung und zunehmende Eigenständigkeit. Für die Herausgeber besteht die Attraktivität des Begriffes darin, dass er sowohl positive, lebensweltliche Facetten als auch gleichzeitiges Steuerungsversagen erklären könne.

In der Tat spiegelt der Begriff die Komplexität der Epoche wider. Er erinnert zudem stark an den Begriff der „Hyperrealität“, der vor allem mit Jean Baudrillard verbunden und fester Bestandteil der Kulturwissenschaft ist. Die Welt, die sich vor unseren Augen medial entfaltet, ist Baudrillard zufolge „hyperreal“. Sie macht sich keine Mühe mehr, eine „reale“ Welt abzubilden. In der Werbung, im Fernsehen und Internet entwickeln sich Charaktere und Erzählstränge, die keine Entsprechung in der Realität haben und ausschließlich auf sich selbst verweisen. Dies ist der selbstreferentiellen Welt der „hyperstabilen“ Breschnew-Zeit gar nicht unähnlich. Es gibt allerdings einen wichtigen Unterschied. Baudrillards Welt ist – bei aller Zivilisationskritik – stabil; es ist immerhin das Zeitalter, in dem wir seit der Revolution der Informationstechnologien Mitte des 20. Jahrhunderts leben. In der „hyperstabilen“ Welt der Breschnew-Jahre dagegen kommt es trotz Dienstreise und Kita zum Problemstau, der letztlich in Instabilität umschlägt. Die Hyperstabilität trägt ihr eigenes Grab in sich – und genau da liegt das Problem.

Am deutlichsten wird dies im letzten Beitrag. In seinem zugespitzt, ja fast trotzig geschriebenen Schlusskapitel unterstreicht Klaus Gestwa, dass das sowjetische System gegen Ende der Breschnew-Jahre am Ende war. Die Stabilität um der Stabilität willen hatte keinen geringeren Preis als den Zusammenbruch. So interpretiert, sind „hyperstabile“ Systeme ohne dramatischen Showdown nicht denkbar. Irgendwann ist Schluss. Das Problem ist jedoch, dass das Konzept keinerlei Hinweis darauf gibt, wann dieser Punkt erreicht ist. Gestwas Antwort ist vage: „Als die Problemlösungskapazität und die Zukunftsfähigkeit der sozialen Ordnung zunehmend schwanden, kippte die Hyperstabilität schließlich in Instabilität um.“ (S. 291) Welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit dies geschieht, bleibt offen. Doch für den analytischen Wert des Begriffes ist diese Frage unausweichlich. Menon gab einst zu bedenken: “Oppressive, inefficient systems prove to have remarkable staying power and […] decline is one thing, collapse quite another”.1 In der Tat belegen viele autoritäre Regime, dass man es sich im Zerfall ganz gut einrichten kann. Zerfall kann Jahre, gar Jahrzehnte dauern. Insofern kann der Begriff der „Hyperstabilität“ zwar die Spannungen der spätsowjetischen Ordnung einfangen; ihren Untergang erklärt er dagegen nicht.

Und dennoch: Der Band liefert nicht nur einen höchst interessanten Beitrag zu einer wichtigen Diskussion, sondern glänzt vor allem mit einer facettenreichen, im Detail faszinierenden und anregenden Analyse der Breschnew-Zeit.

Anmerkung:
1 Rajan Menon, Post-Mortem. The Causes and Consequences of the Soviet Collapse, in: Harriman Review 7, 10-12 (Nov 1994), S. 8.