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Titel
Natur und Bewusstsein. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Waldes in Deutschland


Autor(en)
Schriewer, Klaus
Erschienen
Münster 2015: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
220 S., 36 SW-Abb.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Zechner, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Der deutsche Wald ist als materielles wie ideelles Phänomen ein interdisziplinäres Forschungsfeld par excellence – und damit auch ein äußerst lohnendes Thema für Arbeiten zur Kulturgeschichte der Natur. Ideenhistorische Publikationen betonen insbesondere die gegenweltliche Bedeutung mannigfacher Waldimaginationen, die gemeinhin von Stadtbewohnern artikuliert wurden und nur wenig Bezug zur botanischen Wirklichkeit aufwiesen. Schon in mittelalterlichen Epen und Märchen war die Baumnatur ein Ort der Läuterung und Zuflucht fernab des Königshofes gewesen, und in der romantischen Literatur bewegte sich die stadtferne Bedeutungsvielfalt zwischen poetischer Beschwörung und politischer Instrumentalisierung.1

Andere Veröffentlichungen widmen sich dem im frühen 18. Jahrhundert entstandenen Konzept der „Nachhaltigkeit“, das die deutschsprachige Forstwissenschaft einst als Instrument zur Ressourcen- und Herrschaftssicherung entwickelt hatte.2 Weitere Studien werfen einen genaueren umwelthistorischen Blick auf die „Holznot“ um 1800 oder das „Waldsterben“ der 1980er-Jahre, bei denen – anders als von der traditionellen Forstgeschichte behauptet – die kulturellen Entwaldungsängste bedeutender waren als die tatsächlichen Baumverluste.3 Ein bis in die Gegenwart anhaltendes Interesse am deutschen Wald schließlich belegen mehrere in den letzten Jahren erschienene, an breitere Zielgruppen gerichtete Museumskataloge und Populärdarstellungen.4

Mit seiner im Hamburger DFG-Projekt „Lebensstichwort Wald“ entstandenen Habilitationsschrift wählt Klaus Schriewer einen volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Zugang zur Periode nach 1945.5 Die Arbeit lag laut Vorwort „über ein Jahrzehnt in der berühmten Schublade“ (S. 5), und eine inhaltliche Aktualisierung entfiel „aus zeitlichen Gründen“ (S. 6), womit die jüngste inhaltlich einbezogene Veröffentlichung von 2001 stammt. Wenngleich die Revision akademischer Qualifikationsarbeiten nur eingeschränkt vergnügungssteuerpflichtig ist, hätten bei einem so langen Zeitabstand die zahlreichen seitdem publizierten Studien doch referiert oder wenigstens als Anmerkung aufgelistet werden dürfen.

Schriewer untersucht verschiedene Formen des an kulturelle Praktiken gekoppelten Waldbewusstseins, wie sie sich innerhalb der Nutzungskonkurrenz von Forstwirtschaft, Naturschutz, Jagdwesen und Wanderertum ausdrücken. Dabei scheint mit „Deutschland“ für den Zeitraum bis 1990 unausgesprochen allein die Bundesrepublik gemeint zu sein, während sich zur DDR nur wenige Sätze finden. Als Materialgrundlage bezieht der Autor neben Schriftlichem wie Verbandsveröffentlichungen und Bürgereingaben auch zahlreiche dialogische „Forschungsgespräche“ (S. 34) ein, ohne diese aber als repräsentativ für den jeweiligen Sektor zu verstehen. Denn die Studie geht emisch (gestützt auf Innensichten) von den subjektiven und teils vorrationalen Waldbezügen der einzelnen Akteure aus, statt pauschale Aussagen über das vermeintliche Naturverständnis ganzer Berufsgruppen, Epochen oder Nationen treffen zu wollen.

Nach „Vorüberlegungen zur Theorie“ formuliert Schriewer im zweiten Kapitel berechtigte Kritik an einer verwaltungshistorisch dominierten und methodisch konservativen Forstgeschichte, die zudem einfache Förster zugunsten der disziplinären Gründerväter ausgeblendet habe. Für den Untersuchungszeitraum konstatiert der Autor bei weitgehender institutioneller Kontinuität einen erheblichen konzeptionellen Wandel vom nutzenzentrierten zum naturgemäßen Waldbau, unterbrochen durch eine erholungsorientierte Phase mit Trimm-Dich-Pfaden und ähnlichen Naturmöblierungen. Das heute verfochtene Paradigma der Naturnähe sei als „forstliche Revolution“ (S. 68) zu verstehen, die infolge wachsenden Umweltbewusstseins und zunehmender Sturmschäden das Verhältnis von Ökologie und Ökonomie neu justiert habe.

Im dritten Kapitel „Formen des Waldbewusstseins“ als Hauptteil der Studie geht es zunächst um den organisierten Naturschutz, dessen Protagonisten Schriewer im komplexen Spannungsfeld zwischen emotionalen und rationalen Handlungsmotivationen verortet – wobei interessanterweise dem „Waldsterben“ nur „geringe“ (S. 100) Bedeutung zugekommen sei. Hier gelingen aufschlussreiche Analysen des ästhetisch definierten Gegensatzes von effizienzfixiertem Nadelwald und paradiesisch konnotiertem Mischwald sowie zur symbolischen Rolle von Hirschkäfern und Totbäumen. Ferner relativiert Schriewer eine in der Literatur gerne postulierte Dominanz vorindustrieller Landschaftsvorstellungen, indem er mithilfe von Interviewaussagen die Relevanz persönlicher Erfahrungen aus der Kindheit der Naturschützer deutlich macht.

Verglichen mit solchen bewahrenden Naturauffassungen vertreten Akteure des Jagdwesens eine regulierende Perspektive; ihr Naturbild ist dementsprechend auf Tiere statt Bäume sowie auf Wildräume wie Waldränder und Lichtungen fokussiert. Entlang der Konfliktlinie Wild versus Wald kam es seit den 1970er-Jahren verstärkt zu emotionalen Auseinandersetzungen, in denen sich den traditionellen Waidmännern neben Naturschützern nun auch naturnah wirtschaftende Förster sowie ökologisch ausgerichtete Jäger entgegenstellten. Erstere erscheinen fast als archaisch-fremder Stamm angesichts von Schriewers eindrücklichen Ausführungen zum emblematischen „Gefallen am Geweih“ (S. 137) sowie zu Vermenschlichungen des Wildes und sinnstiftenden Kollektivritualen.

Die letzte untersuchte Gruppe sind die Wanderer mit ihrem Schriewer zufolge ästhetisch grundierten Idyll eines aufgeräumten Panoramawaldes, das bis in die Auswahl der Bildmotive von Literaturtraditionen des „locus amoenus“ („lieblicher Ort“) sowie romantischen Vorbildern beeinflusst war. Zum wahrnehmungsprägenden „Kanon an Topoi, Metaphern und Vergleichen“ (S. 198) gehörten etwa Anleihen bei Ludwig Tiecks Novelle „Der blonde Eckbert“ (1796) oder Caspar David Friedrichs Gemälde „Der Chasseur im Walde“ (1813/14). Dabei zeige sich ein idealtypischer Gender-Kontrast zwischen emotional-weiblicher und rational-männlicher Naturvorstellung, die aber beide sowohl kulturlandschaftliche Elemente inkorporierten als auch den Wildniswald der Nationalparks tendenziell kritisch sahen.

Klaus Schriewers mit 220 Seiten recht schmale Habilitationsschrift bietet durch ihren volkskundlichen Ansatz neben überwiegend treffend gewählten Abbildungen methodisch reflektierte Einblicke in Formen individuellen Waldbewusstseins, wie sie die Interviewpartner vor allem jenseits der Schriftebene äußerten und praktizierten. In seinen Sektoruntersuchungen zu Forstwirtschaft, Naturschutz, Jagdwesen und Wanderertum vermag Schriewer anhand von Binnendifferenzierungen und Bedeutungsverschiebungen nachzuweisen, dass die vielbeschworene spezifische Waldbeziehung der Deutschen realiter „überaus uneinheitlich“ (S. 199) ausfiel. Gegenüber sozialgeschichtlichen Untersuchungen akzentuiert er die wichtige Rolle, die etablierte Waldimaginationen als „ideelle Ressource“ (S. 11) für gesellschaftliche Wahrnehmungen haben konnten.

Aus Sicht des Rezensenten wäre der Arbeit indes ein stärkerer Einbezug der Vorgeschichte zugutegekommen, um die nach 1945 auftretenden Kontinuitäten wie Brüche noch klarer zu markieren.6 Gleichfalls umfänglicher hätten Forschungsüberblick und Literaturverzeichnis sowie das mit weniger als fünf Seiten sehr knappe Resümee ausfallen können. Etwas irritierend wirkt ferner die das Urteil der Wissenschaftsgemeinde schon vorwegnehmende Selbsteinschätzung im Vorwort, die Studie leiste einen „wertvollen Beitrag für die Kultur- und auch die Forstwissenschaften“ (S. 6). Zumindest liefert Schriewer weitere Belege dafür, dass der deutsche Wald auch heute noch viel mehr ist als nur beliebtes Ausflugsziel und bedeutender Wirtschaftsfaktor.

Anmerkungen:
1 Vgl. Mireille Schnyder, Der Wald in der höfischen Literatur. Raum des Mythos und der Erzählens, in: Mittelalter 13 (2008), Heft 2, S. 122–135; Johannes Zechner, From Poetry to Politics. The Romantic Roots of the ‘German Forest’, in: William Beinart / Karen Middleton / Simon Pooley (Hrsg.), Wild Things. Nature and the Social Imagination, Cambridge 2013, S. 185–210.
2 Vgl. Michael Rödel, Die Invasion der ‚Nachhaltigkeit‘. Eine linguistische Analyse eines politischen und ökonomischen Modeworts, in: Deutsche Sprache 41 (2013), S. 115–141; Ulrich Grober, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, München 2010.
3 Vgl. Joachim Radkau, Zur angeblichen Energiekrise des 18. Jahrhunderts. Revisionistische Betrachtungen über die ‚Holznot’, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 73 (1986), S. 1–37; Roderich von Detten (Hrsg.), Das Waldsterben. Rückblick auf einen Ausnahmezustand, München 2013 (siehe meine Rezension, in: H-Soz-Kult, 09.12.2013, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-21725> [20.12.2015]).
4 Vgl. Ursula Breymayer / Bernd Ulrich (Hrsg.), Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald, Dresden 2011 (siehe die Ausstellungsrezension von Susanne Kiewitz, in: H-Soz-Kult, 28.01.2012, <http://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-156> [20.12.2015]); Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hrsg.), Mythos Wald, Münster 2009 (siehe die Ausstellungsrezension von Roderich von Detten, in: H-Soz-Kult, 08.08.2009, <http://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-121> [20.12.2015]); Detlev Arens, Der deutsche Wald, Köln 2010; Viktoria Urmersbach, Im Wald, da sind die Räuber. Eine Kulturgeschichte des Waldes, Berlin 2009.
5 Für weitere Veröffentlichungen aus dem Projektkontext vgl. <http://www.schriewer.eu/deutsch/forschung/forschung_wald.htm> (20.12.2015).
6 Vgl. etwa Johannes Zechner, Der deutsche Wald. Eine Ideengeschichte zwischen Poesie und Ideologie 1800–1945, Darmstadt 2016 (erscheint im April); Jeffrey K. Wilson, The German Forest. Nature, Identity, and the Contestation of a National Symbol 1871–1914, Toronto 2012; Michael Imort, Forestopia. The Use of the Forest Landscape in Naturalizing National Socialist Ideologies of ‘Volk’, Race, and ‘Lebensraum’, 1918–1945, PhD Queen’s University Kingston 2000.

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