A. Rödder: 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart

Cover
Titel
21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart


Autor(en)
Rödder, Andreas
Erschienen
München 2015: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
494 S., 1 SW-Abb., 1 Karte, 8 Grafiken
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Bösch, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Es wirkt paradox: In den letzten Jahrzehnten wurde vielfach das Ende der großen Erzählungen beschworen, und überall kursiert die Klage, weder die Studierenden noch die breite Öffentlichkeit würden dicke Bücher lesen. Zugleich erscheinen jedoch mehr große Überblicksdarstellungen denn je, die die Geschichte Deutschlands und Europas, des Westens oder der Welt in epischer Breite für die Öffentlichkeit und für Studierende darlegen. Auffälligerweise sind sie fast ausschließlich von Männern verfasst. Auf diesem Feld innovative Anstöße zu geben und Leser zu gewinnen fällt mittlerweile zunehmend schwer.

Insofern ist es sehr zu begrüßen, dass der Mainzer Historiker Andreas Rödder nicht eine weitere „Geschichte der Bundesrepublik“ verfasst hat, sondern dezidiert andere Erzählformen sucht. Seine „kurze Geschichte der Gegenwart“ bricht vor allem mit dem Zwang zur Vollständigkeit und zur Chronologie. Vielmehr thematisiert er systematisch ausgewählte aktuelle Problemlagen in gegenwartsnaher und zeithistorischer Perspektive. Besonders interessieren ihn der Wirtschaftswandel im Zuge der Liberalisierung und der Finanzkrise, die Veränderungen der Sozialstruktur und der Werte, die Umweltpolitik sowie die Rolle des Staates, auch im Kontext der europäischen Einigung und weltpolitischer Ordnungen. Rödder betrachtet die tagespolitisch vertrauten Debatten mit den spezifischen Kompetenzen des Historikers: Er diskutiert, was wirklich neue Probleme sind und was auf älteren Entwicklungen aufbaut. Er erzählt sehr faktenreich, bewertet dann aber auch immer wieder pointiert die Vor- und Nachteile bestimmter Veränderungen, durchaus mit eigenen Positionierungen. So verbindet er die Wissensvermittlung auch an Nicht-Historiker mit dem Anspruch, aus der Geschichte zu lernen. Besonders das späte 19. Jahrhundert, der linksliberale Wandel der 1970er-Jahre und die neoliberalen Tendenzen der 1990er bilden Referenzpunkte des Buches. Im Vordergrund steht die Bundesrepublik Deutschland, Seitenblicke gehen häufiger in die USA und nach Großbritannien.

Angesichts des breiten Panoramas lassen sich die einzelnen Kapitel nur andeutungsweise beschreiben. Das Buch entfaltet seine Stärken besonders ab den mittleren Hauptteilen. So fällt das erste Kapitel zur Digitalisierung, die Rödder als grundlegende Neuerung fasst, noch etwas dünn und technisch aus. Nach einem knappen Überblick zum Aufkommen der „Global Economy“ widmet Rödder sich der Umweltpolitik: Er stellt den menschlich gemachten Klimawandel heraus, prangert aber zugleich die „unseriöse[n] Übertreibungen“ von Wissenschaft und Medien an (S. 79) und ordnet die Debatten „in eine lange Tradition von Untergangsszenarien ein“ (S. 92). Ob wir beim Atomausstieg tatsächlich von einem „Sonderweg der deutschen Energiewende“ (S. 82) sprechen können, wäre zu diskutieren, da seit den 1980er-Jahren verschiedene (west)europäische Länder und die USA auf den Neubau von Atomkraftwerken verzichteten.

Große Dichte erreicht das erste lange Hauptkapitel über „Die Ordnung der Dinge“. Mit dem Wandel der Werte behandelt es ein Feld, das Rödder zugleich durch ein Forschungsprojekt flankiert hat.1 Die Wahlfreiheit der Lebensformen hebt er als eine der großen Neuerungen hervor, auch wenn er die Familie weiterhin als den Rahmen bewertet, der bis heute für Kontinuität stehe. Die Dekonstruktion bisheriger Annahmen und die Kultur der Inklusion stuft Rödder als neue Machtdiskurse ein. Besonders mit Blick auf Frauenquoten macht er einen Wandel „von Gleichberechtigung zu Gleichstellung nach vorgegebenen Modellen“ aus (S. 123). Rödder tritt hingegen für ein „family mainstreaming“ ein, das nicht allein Geschlecht, sondern Kinderbetreuung in den Mittelpunkt stellt. Man muss derartige Positionen nicht teilen, aber anregend zur Diskussion sind Rödders Diagnosen allemal.

Ähnlich Pointiertes findet sich neben komprimierten Überblicken im Kapitel zum Wandel der Sozialstruktur. Rödder benennt Arbeit als weiterhin zentralen Wert und betont die wachsende soziale Ungleichheit. Deutschland sei ein „Einwanderungsland aus Versehen“ geworden (S. 163). Das rot-grüne Staatsangehörigkeitsgesetz findet dabei Anerkennung, die Kriminalität von Ausländern wird hingegen als überproportional gekennzeichnet (S. 168). Wiederum positioniert sich Rödder pointiert zur Entwicklung der Familie und zum Rückgang der Kinderzahl, den er mit der zunehmenden Frauenarbeit, „veränderten Lebensstilen“ und hedonistischen Bedürfnissen erklärt (S. 174). Dies ließe sich mit Blick auf westliche und nördliche Nachbarländer gewiss diskutieren, wo die Zahl berufstätiger Frauen und die Kinderzahl höher liegen – und die Lebensfreude sicher nicht geringer ist.

Nicht minder interessant sind die Abschnitte zu „Vater Staat“, die die Renaissance des Nationalstaats seit 1990 betonen, mit dem sozialstaatlichen Handeln als Schlüsseldomäne. Rödder betont den Erfolg des „Modells Deutschland“ und hebt als historische Konstante das „deutsche Dilemma“ hervor – wegen seiner Stärke werde Deutschland bei den Nachbarn als Gefahr gesehen und möglichst eingedämmt (S. 264f.). Bei seiner abschließenden Thematisierung Europas gelangt der Autor zu der These: „Die Wirtschafts- und Währungsunion hat sich, selbst wenn der Euro gerettet wird, mit ihren ökonomischen, institutionellen und politischen-kulturellen Problemen als Fehlkonstruktion erwiesen.“ (S. 336) Neben den europäischen Problemen stellt er dabei den Aufstieg der nicht-westlichen Staaten, insbesondere Chinas, als ein weiteres Novum der Gegenwartsgeschichte heraus.

Rödders Buch bietet einen bunten Strauß einführender Überblicke für Nicht-Historiker und lädt zugleich zur zeithistorischen und politischen Debatte ein. Das gilt bereits für den Fokus des Buches. Im Unterschied zu anderen Darstellungen argumentiert es nicht aus der Gewalterfahrung und der Zeit der Weltkriege und Diktaturen heraus, die das Buch fast ganz ausspart. Vielmehr betont Rödder in einem abschließenden Ausblick sogar die Tendenz, dass die Zeit zwischen 1914 und 1970 an Bedeutung verlieren werde, während die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und seit den 1970er-Jahren zur Erklärung der Gegenwart an Bedeutung gewinnen werde (S. 387). Ebenso ist zu diskutieren, ob man eine gegenwartsnahe Geschichte unter Ausblendung der ostdeutschen und ost(mittel)europäischen Vergangenheit schreiben kann. Die DDR wird in Rödders Buch erstmals auf Seite 130 mit wenigen Zeilen kurz erwähnt, dann in verschiedenen Einsprengseln. Gerade bei einer Geschichte, die vom vereinigten Deutschland ausgeht, spricht jedoch einiges dafür, zumindest die DDR-Vergangenheit einzubeziehen, nicht zuletzt angesichts der fortbestehenden Unterschiede zwischen Ost und West. Fast alle großen aktuellen Fragen, die hier für Westdeutschland verhandelt werden, ließen sich durch einen gesamtdeutschen Blick schärfen – seien es Thesen zur Individualisierung, zur Rolle des Staates oder zur Migration. Auch die Abschnitte zur Einigung Europas blicken stets auf die westlichen Nachbarländer, während die unterschiedliche Bedeutung Europas in den (post)sozialistischen Ländern außen vor bleibt.

Andreas Rödder hat ein mutiges Buch verfasst, das zu Recht bereits viel Beachtung gefunden hat. Es zeigt, wie man aus der Beschäftigung mit Geschichte Urteilskraft in der Gegenwart gewinnen kann. Wenngleich es sich in starkem Maße an die „breite Leserschaft“ jenseits der Zunft richtet, sind die Konzeption und auch die eher essayistischen Teile für Fachhistoriker ebenfalls interessant, da sich Rödder mit zeithistorischen Rückblicken zu gegenwärtigen Veränderungen positioniert, aber unterschiedliche Deutungen anführt. Er umgeht vertraute Narrative und Zäsuren und erkundet Themen, die viele Menschen mit Besorgnis verfolgen. Zudem entgeht er der Gefahr, aus der Gegenwart Teleologien zu entwerfen. Rödder betont die nicht-intendierten Folgen von Veränderungen und damit auch die jeweils offene Zukunft.

Anmerkung:
1 Bernhard Dietz / Christopher Neumaier / Andreas Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014; siehe dazu etwa die Rezension von Lutz Raphael, in: H-Soz-Kult, 18.07.2014, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-21648> (08.12.2015).