Cover
Titel
Abtreibung. Diskurse und Tendenzen


Herausgeber
Busch, Ulrike; Hahn, Daphne
Anzahl Seiten
326 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Katharina Mahrt, Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Beschäftigung mit dem Schwangerschaftsabbruch hat in der BRD an Brisanz verloren. Nach breiten öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten seit den 1970er-Jahren kam es letztmalig im Zuge der Wiedervereinigung zu einer gesetzlichen Neuregelung, die in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) von 1993 kulminierte, welches sich in der bis heute geltenden Gesetzgebung von 1995 niederschlägt. Seitdem gilt eine Mischform aus Indikations- und Beratungsregelung: Die Abtreibung bleibt rechtswidrig, ist aber straffrei, solange die Schwangere innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen (post conceptionem) mindestens drei Tage vor dem Abbruch eine Pflichtberatung absolviert. Die Straffreiheit gilt darüber hinaus, wenn der Abbruch aufgrund einer kriminologischen oder einer – eher weit gefassten – medizinischen Indikation vorgenommen wird.

Ein Recht auf reproduktive Gesundheit wurde auf der Weltbevölkerungskonferenz 1994 in Kairo beschlossen und bindet erstmalig die Anerkennung von Familienplanung als Menschenrecht mit ein. Die Teilnahmeländer konnten sich jedoch nicht darauf einigen, das Recht auf Abtreibung dezidiert aufzunehmen. Ausgehend von diesem Menschenrecht der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Selbstbestimmung, im Schnittfeld zur sich rasant entwickelnden Reproduktionsmedizin sowie veränderten gesellschaftlichen Autonomievorstellungen greift das vorliegende Sammelwerk die Diskussionen der Fachtagung „Schwangerschaftsabbruch zwischen reproduktiver Selbstbestimmung und Kriminalisierung – Alte/neue Diskurse“ der Hochschule Merseburg vom September 2012 auf und erweitert sie in der Publikation um neue Perspektiven über den gesellschaftlichen Umgang mit Abtreibung.

Unterteilt in drei Rubriken umfasst der multidisziplinäre Sammelband 15 Beiträge. Der erste Teil ist mit „Diskurse, Kontexte und Zeitbezüge“ betitelt und beinhaltet einen Artikel von Ulrike Busch zum gesellschaftlichen Umgang mit Abtreibung sowie der scheinbaren Stille um dieses Thema. Busch versucht den vermeintlich befriedeten Konflikt um das Recht auf Abtreibung zu erläutern. Sie hebt beispielsweise hervor, dass der Strafkontext heute im Alltag der betroffenen Schwangeren kaum spürbar sei. Das bestehende gesetzliche Arrangement werde zudem von feministischen Akteur/innen mitunter als Erfolg umgedeutet, obwohl der Straftatbestand als Tötungsdelikt nach wie vor fortbestehe.

Einen guten Überblick über die historische Entwicklung bis hin zur aktuellen politischen Situation bietet der Beitrag der zweiten Herausgeberin Daphne Hahn. Diesem schließt sich der Beitrag von Cornelia Helfferich an, die die westdeutsche Konstruktion des Schwangerschaftsabbruchs als soziologischen Forschungsgegenstand ab den 1970er-Jahren analysiert und die Forschungs-Narrative darstellt, welche der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Schwangerschaftsabbruch zugrunde liegen. Helfferich führt dabei aus, wie der Abbruch abwechselnd als kriminell-abweichendes Verhalten, psychopathologische Lebensäußerung, bewusste Entscheidung in einer sozialen Zwangslange und schließlich ab den 1990er-Jahren als biografischer Prozess, der die pluralen Lebensgestaltungen widerspiegelt, konstruiert worden sei.

Ergänzt wird der Befund über die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit der Abtreibung durch den Beitrag von Katja Krolzik-Matthei, die die Entwicklung feministischer Abtreibungsdebatten nachzeichnet und die aktuelle Lage anhand einer eigenen empirischen Forschung durch qualitative Interviews mit Aktivistinnen analysiert. Dabei identifiziert die Nachwuchswissenschaftlerin vor allem drei Aspekte als ausschlaggebend dafür, dass die Abtreibung momentan kein zentraler Gegenstand feministischer Debatten sei. Krolzik-Matthei thematisiert zunächst die generative Frage zwischen zweiter Frauenbewegung und queerpolitischer Bewegung und anschließend den dekonstruktivistischen Theoriebezug der Queer Studies, welcher die Auseinandersetzung mit körperlich-biologischen Vorgängen erschweren könne. Drittens wird die Problematik des Selbstbestimmungsbegriffs im Zusammenhang mit selektiven Effekten bei der Pränataldiagnostik (PND) dargelegt, der Krolzik-Matthei zufolge oft in dem Anspruch von Selbstoptimierung mündet. Die Verstetigung des Status Quo wird durch die Sichtbarmachung aktueller Dynamiken der feministischen Bewegung damit nachvollziehbarer. Somit scheint für Krolzik-Matthei die These von 1995, dass es sich bei der derzeitigen Gestaltung des § 218 Strafgesetzbuchs (StGB) um einen lebbaren Kompromiss handele, nach wie vor aktuell (S. 107).

Im zweiten thematischen Bereich des Sammelbands „Ethische und juristische Dimensionen“ greift der Beitrag von Dagmar Herzog die Ambivalenzen der sexuellen Revolution in westeuropäischen Debatten der 1960er- und 1970er-Jahre auf. Herzog stellt fest, dass sich hieraus Konsequenzen für die heutige Debatte aufdrängen, in der Aktivist/innen für Behindertenrechte und Frauenrechtler/innen gegeneinander ausgespielt würden. Zunächst befördert Herzog interessante Schriftstücke zu Tage, die von einem pluralen Dialog in der katholischen sowie evangelischen Kirche zeugen. Sie zeigen, dass dem Recht auf Abtreibung von geistlicher Seite nicht nur ablehnend gegenübergestanden wurde. Dabei sei für einige Vertreter/innen unter anderem nicht die Zeugung zentrales Moment, welches Leben ermögliche, sondern die menschliche Annahme, also eine Art Erwünschtsein. Somit werde auch von kirchlichen Vertreter/innen das Recht auf Selbstbestimmung über Anzahl und Zeitpunkt für Elternschaft bejaht (S. 128ff.). Herzog stellt weiter fest, dass der massive Rechtsbruch durch illegale Abbrüche zur Legalisierung geführt habe. Unklar bleibt in dem Beitrag allerdings, inwiefern Abtreibungs- und Behindertenrechtler/innen konkret gegeneinander ins Feld geführt werden. Stattdessen wird gezeigt, wie auch in den Nachkriegsgesellschaften eugenische Argumente sowohl im religiösen als auch feministischen Bewegungen salonfähig blieben. Hier kann die aktuelle Publikation von Kirsten Achtelik mehr Klarheit bei der Aufarbeitung der feministischen Bewegung und ihrem teilweisen Bruch mit der Behindertenbewegung bringen.1 Außerdem ist die Argumentation von Achtelik (individualisierte Selektion) eine alternative Lesart etwa in Bezug auf die im Beitrag von Hartmut Kreß aufgeworfenen Fragen (Neopaternalismus des Staates) über die Bedeutung der Präimplentationsdiagnostik (PID) und PND für das Selbstbestimmungsrecht von Frauen.

Sabine Berghahns Artikel „Die Deutsche Reform des Abtreibungsrechts“ ergänzt ein Schlüsselwerk der feministischen Rechtswissenschaft, nämlich ihren Aufsatz von 1998, der die diktierende Kompetenzüberschreitung und damit legislative Rolle des BVerfGE bei der Ausgestaltung der Abtreibungsrechts beleuchtet.2 Berghahn prüft und kommentiert hier, inwiefern im Zuge der begrenzten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik divergierende feministisch-argumentierende Auffassungen über den Grundrechtsstatus des Embryos die inhärenten Widersprüche der Urteilsbegründungen von 1975 und 1993 des BVerfGE widerspiegeln. Vervollständigt wird der Blick auf die spezifisch deutsche Rechtslage durch den Beitrag von Edith Obinger-Gindelus, die die Gesetzgebung der OECD ländervergleichend vorstellt, um Einflussfaktoren auf liberale oder restriktive Regulierungen auszumachen.

Der dritte Teil „Perspektiven relevanter Akteure“ beginnt mit der Präsentation einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) „frauen leben 3“ durch Cornelia Helfferich und Heike Klindworth. Eines der hier präsentierten Ergebnisse ist der Einfluss der Partnerschaftssituation: Sie stellt nicht nur den am häufigsten angegebenen Grund für eine Abtreibung in dem Sample dar, sondern hat auch den größten Einfluss auf die auf die Gewolltheit einer Schwangerschaft an sich. Des Weiteren plädieren die Autorinnen dafür, zwischen verschiedenen Formen nicht beabsichtigter Schwangerschaft – von ungewollt bis zu einem späteren Zeitpunkt gewollt – zu unterscheiden, da sich hier erhebliche Unterschiede in den Forschungsergebnissen abzeichnen. Ergänzt wird die Studie durch die Beiträge der Beraterinnen Petra Schweiger und Jutta Franz. Letztere stellt dar, wie der Zwangskontext der Beratung sowie der Festlegung von Beratungsinhalten durch das Schwangerschaftskonfliktgesetz den Prinzipien an professioneller psychosozialer Beratung widerspreche und daher den Berater/innen einen unmöglichen Auftrag erteile. Franz stellt verschiedene Strategien vor, um als Berater/in mit diesem Spannungsfeld umzugehen.

Die letzten drei Beiträge behandeln die ärztliche und medizinische Perspektive auf Abtreibungen. Christine Czygan und Ines Thonke zeigen dabei zunächst auf, dass es ein immenses Forschungsdesiderat für Deutschland gibt. So gäbe es beispielsweise weder Fakten zur Versorgungslage noch wären Methoden des Schwangerschaftsabbruchs in der Aus-, Fort- und Weiterbildung implementiert oder würden wissenschaftliche Debatten in den Fachgesellschaften geführt. Gegenüber internationalen Studien zur Einstellung vom medizinischen Personal gegenüber der Abtreibung fehlen deutsche Vergleichswerte. Der letzte Beitrag des Sammelbandes behandelt die brisante Frage der Verweigerung von medizinischen Behandlungen aus Gewissensgründen. Christian Fiala und Joyce Arthur stellen fest, dass hiervon vor allem im Bereich der reproduktiven Gesundheit Gebrauch gemacht werde. Die Praxis der Behandlungsverweigerung untersuchen die Autor/innen hinsichtlich des Machtmissbrauchs durch das medizinische Personal. Fiala und Arthur diskutieren und disqualifizieren dazu verschiedene Argumentationsmuster der Behandlungsverweigerung des Schwangerschaftsabbruchs.

Der vorliegende Band liefert durch neue Fragestellungen, Blickwinkel und Bestandsaufnahmen, viele wichtige Erkenntnisse zur Rolle der gesellschaftlichen Debatte um die Abtreibung, nicht zuletzt für die Untersuchung von reproduktionsmedizinischen Diskursen um PID und PND. Der verlorenen Brisanz wird die soziale Relevanz – vor allem was die interdisziplinäre medizinische Forschung und Auseinandersetzung mit Abtreibung angeht – entgegengehalten. Dieses Anliegen kann angesichts des bestehenden Forschungsdesiderats nur unterstrichen werden.

Anmerkungen:
1 Kirsten Achtelik, Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung, Berlin 2015.
2 Sabine Berghahn, Der Geist des Absoluten in Karlsruhe und die Chancen der Demokratie in der Abtreibungsfrage, in: Leviathan. Teil 1: H.2 (1998), S. 253–269 und Teil 2: H.3 (1998), S. 400–422.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/