C. Henrich-Franke: Die "Schaffung" Europas in der Zwischenkriegszeit

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Titel
Die "Schaffung" Europas in der Zwischenkriegszeit. Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Konstruktionen eines vereinten Europas


Autor(en)
Henrich-Franke, Christian
Reihe
Politik und Moderne Geschichte 19
Erschienen
Münster 2014: LIT Verlag
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Greiner, Philologisch-Historische Fakultät, Universität Augsburg

Um es vorweg zu nehmen: Publizieren in der Lehre ist zweifelsfrei ein sinnvolles Konzept und kann, wenn es richtig eingesetzt wird, sowohl einen didaktischen Mehrwert haben als auch einen Beitrag zur Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse oder sogar zur Forschungsdiskussion selbst leisten.1 Dazu sollten jedoch wenigstens drei Grundbedingungen erfüllt sein, was im Falle der vorliegenden, von Christian Henrich-Franke an der Universität Siegen initiierten Veröffentlichung zu Europakonstruktionen in der Zwischenkriegszeit leider nicht gegeben ist.

Erstens sollte von vornherein offen kommuniziert werden, in welchem Kontext die Publikation steht, was sie leisten kann und wo ihre naturgemäßen Grenzen liegen. Es ist in dieser Hinsicht unverständlich, warum in diesem Band erst auf Seite 15 der Einleitung darauf aufmerksam gemacht wird, dass die folgenden Beiträge von Studierenden im Rahmen eines Hauptseminars verfasst wurden. Wenn als Zielgruppe in diesem Zusammenhang Studienbeginner genannt werden, die sich in das Thema einarbeiten, so sollte dies entsprechend deklariert und der Band in angemessener Form als von Studierenden selbst geschriebenes Lehrbuch ausgewiesen sein.

Zweitens kommt der Bereitschaft zur mehrmaligen Überarbeitung der einzelnen Aufsätze eine sehr große Bedeutung zu und verlangt von Studierenden wie von der betreuenden Lehrkraft und ggf. vom Verlag einen gesteigerten Arbeitseinsatz und Zeitaufwand. In diesem Falle ist auf ein intensives Lektorat aber offenbar gänzlich verzichtet worden – und dies geht ärgerlicherweise zulasten der studentischen Autorinnen und Autoren, da die Qualität vieler Beiträge mit etwas mehr redaktioneller Unterstützung leicht gesteigert hätte werden können. Die zahlreichen formalen und argumentativen Mängel sind an anderer Stelle bereits kompetent dargelegt worden.2 Tatsächlich wären gerade mit Blick auf die anvisierte Zielgruppe junger Studierender mehr sprachliche Klarheit und inhaltliche Genauigkeit wichtig gewesen. So sind einzelne Aussagen sogar gefährlich irreführend, wenn etwa zu undifferenziert unterstellt wird, dass „[i]n den 1920er Jahren […] Politik und Wirtschaft eine einheitliche Vorstellung von einem gemeinsamen Europa“ (S. 139) entwickelt hätten. Angesichts der konstruktivistischen Anlage des Bandes ist zudem der mitunter problematische Umgang mit dem Diskurs-Begriff zu monieren. So kann die an sich vielversprechende Ankündigung, zwischen intentionalen und nicht-intentionalen Formen der Genese Europas zu unterschieden (S. 13) in der Praxis kaum zielführend umgesetzt werden: Wann und wie Europa von wem und mit welchen Zielen konstruiert wurde, ob es um den „Diskurs über die ‚Schaffung‘ Europas“ (S. 55), „einen Vertreter der indirekten ‚Schaffung‘ Europas“ (S. 64) oder doch um eine Beteiligung „an der direkten ‚Schaffung‘ Europas“ (S. 144) geht, verschwimmt in vielen Fällen.

Dies alles ist unschön, nicht zuletzt da so die durchaus vorhandenen ambitionierteren Beiträge des Bandes unterzugehen drohen. Zu diesen zählt ein Aufsatz von Steffen Platte zu Oswald Spengler und seinem viel zitiertem Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“, in dem zu Recht betont wird, dass wir trotz jahrzehntelanger intensiver Studien immer noch viel zu wenig über dessen Europakonzept wissen. Da der Begriff „Europa“ von Spengler selbst kaum gebraucht wurde, sieht Platte eine europäische Idee im Werk des nationalkonservativen Denkers eher indirekt in Gestalt der von ihm postulierten „Abkehr von der eurozentrischen Weltsicht“ (S. 44) aufscheinen.

Drittens sollten sowohl die Themen der studentischen Beiträge als auch die Publikationsform gut gewählt werden. Fraglos hat man gerade denjenigen Autorinnen und Autoren keinen Gefallen getan, die bereits umfassend bearbeitete Forschungsgegenstände zu behandeln hatten: Wie sollen Studierende auf acht bis zwölf Seiten synthetisierende Überblicksdarstellungen zu Themen wie Mitteleuropa, Paneuropa, dem Völkerbund oder der Biografie Jean Monnets liefern? Dass der Forschungsstand ohne ausreichende Unterstützung oft nur rudimentär erfasst werden konnte, kann kaum verwundern, zumal Studierende sogar mit Einschätzungen wie der folgenden alleingelassen wurden: „Der Völkerbund ist von der historischen Forschung bisher kaum thematisiert worden.“ (S. 105)

Mit der Auswahl der Themen wird zwar ein erfreulich breites Spektrum unterschiedlicher Europakonzeptionen abgedeckt, das diskursive (Teil I), politische (Teil II), wirtschaftliche (Teil III) und gesellschaftliche (Teil IV) Facetten der „Schaffung“ Europas beinhaltet. Einzelnen Beiträgen wie einem Aufsatz zum Thema „Antikommunismus“ fehlt jedoch fast völlig der Bezug zum Rahmenthema, obwohl es mit Hilfe der richtigen Quellen und Literatur problemlos möglich gewesen wäre, anti-bolschewistische Ideen dezidiert als treibende Momente hinter zahlreichen Europakonzepten der Zwischenkriegsjahre zu analysieren. Auch die zeitliche Anlage des Bandes erweist sich – ungeachtet der einleitenden Ankündigung, dass die Zwischenkriegszeit „nicht als ein monolithischer Block“ (S. 12) betrachtet werden dürfe und zahlreiche Kontinuitäten festzustellen seien – als wacklig: Die überzeugenden Ausführungen von Benjamin Bäumer und Hans-Peter Schunk zur Mitteleuropa-Idee konzentrieren sich etwa fast ausschließlich auf die bekannteste Variante des Konzeptes von Friedrich Naumann aus dem Jahr 1915, während der Beitrag zu den Vorstellungen des NS-Widerstandskämpfers Helmuth James Graf von Moltke von einer politischen Neuordnung Europas die Zeit des Zweiten Weltkriegs behandelt. Welche Relation zum Interbellum in diesen Fällen besteht und worin die postulierte katalysatorische Funktion der Zwischenkriegsjahre für Europakonzeptionen (S. 14) genau liegen soll, bleibt letztlich unklar.

Am lesenswertesten sind nicht zufällig die Beiträge zu einigen erst seit kurzem intensiver thematisierten gesellschaftlichen Momenten einer europäischen Einigung in der Zwischenkriegszeit – und hier schlägt fraglos auch die Expertise von Christian Henrich-Franke zu Buche, der in den letzten Jahren die Forschung zu technik-, medien- und wirtschaftsgeschichtlichen Facetten der Integration Europas vor 1945 mit vorangetrieben hat. So adressieren die gelungenen Beiträge von Timo Glenewinkel und Christian Weber zu „Eisenbahnen“ sowie von Florian Dörrenbach zu „Straßen“ infrastrukturelle Prozesse des kontinentalen Zusammenwachsens und bewegen sich hier auf der Höhe der Forschung. Originell sind auch der Aufsatz von Thomas Grab zu den noch zarten und letztlich gescheiterten Versuchen der Etablierung eines gemeinsamen europäischen Radioprogramms („National Nights“) in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre sowie die Ausführungen von Thanh Tan Tran zum Mitropa-Pokal. Der 1927 ins Leben gerufene erste internationale Wettbewerb für europäische Fußball-Vereinsmannschaften, an dem zeitweilig Teams aus sieben Staaten teilnahmen, konnte gerade zu Beginn der 1930er-Jahre ein hohes Zuschauerinteresse und ein vergleichsweise großes mediales Echo verzeichnen. Seine mögliche Bedeutung für eine versteckte Genese Europas illustriert nicht zuletzt die in dem Beitrag nicht thematisierte finanzielle Förderung des Mitropa-Pokals durch die unter demselben Akronym bekannte „Mitteleuropäische Schlaf- und Speisewagen Aktiengesellschaft“, die auch für die Eisenbahntransporte der Spieler verantwortlich war: Europa erscheint hier tatsächlich als ein sich zunehmend verdichtender alltäglicher Erfahrungsraum.3 Es bleibt zu hoffen, dass bald quellengesättigte Studien dazu folgen.

Ein kurzes Fazit: Das Ziel, einen speziell für Studierende konzipierten Überblick über die Vorgeschichte der europäischen Einigung zu vermitteln, ist sicherlich löblich, nicht zuletzt da es an jüngeren Gesamtdarstellungen hierzu mangelt. Die kurze Einleitung und die knappe Zusammenfassung von Christian Henrich-Franke helfen letztlich kaum, die dargelegten Mängel in der Anlage des Bandes zu kitten. Insgesamt erscheint fraglich, warum für eine solche Veröffentlichung ein Fachverlag und nicht ein elektronisches Publikationsformat4 mit seinen Möglichkeiten der nachträglichen Überarbeitung, Ergänzung und Kommentierung gewählt wurde. Studierende, die sich kompakt sowie deutschsprachig über Vorgeschichte und Grundlagen der europäischen Einigung informieren möchten, sollten somit auch weiter auf die entsprechenden Passagen in den Überblickswerken von Wolfgang Schmale oder Guido Thiemeyer zurückgreifen.5

Anmerkungen:
1 Vgl. zu den didaktischen Möglichkeiten und methodischen Voraussetzungen des Konzeptes Claudia Lichnofsky, Publizieren mit Studierenden für Studierende, Gießen 2012, <https://www.uni-giessen.de/faculties/gcsc/info/teaching-centre/media/teaching-idea-9.pdf> (07.12.2015).
2 Johannes Dafinger, Rezension von: Henrich-Franke: Die „Schaffung“ Europas, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 9, <http://www.sehepunkte.de/2015/09/25894.html> (07.12.2015).
3 Vgl. zum Mitropa-Pokal Florian Greiner, Wege nach Europa. Deutungen eines imaginierten Kontinents in deutschen, britischen und amerikanischen Printmedien, 1914–1945, Göttingen 2014, S. 423f.
4 Die diesbezüglichen Chancen illustriert etwa das an der Universität Wien im Fachbereich Geschichte seit Jahren erfolgreich praktizierte Prinzip der Weblogs, vgl. dazu <http://redaktionsblog.hypotheses.org/2637> (07.12.2015).
5 Wolfgang Schmale, Geschichte Europas, Wien 2001, Kapitel 1–8; Guido Thiemeyer, Europäische Integration. Motive – Prozesse – Strukturen, Köln 2010, v.a. S. 29–45.

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