T. Otte u.a. (Hrsg.): By-elections in British Politics

Cover
Titel
By-Elections in British Politics, 1832–1914.


Herausgeber
Otte, Thomas; Readman, Paul
Erschienen
Woodbridge 2013: Boydell & Brewer
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 110,26
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Stockinger, Institut für österreichische Geschichtsforschung, Universität Wien

Ein Sammelband, der allein dem Phänomen der Nachwahlen (also der Urnengänge in einzelnen Wahlkreisen, durch die während einer Parlamentsperiode erledigte Sitze nachbesetzt werden) gewidmet ist: Aus der Perspektive der historischen Wahlforschung in Deutschland1 oder gar Österreich mag es erstaunen, vielleicht sogar ein wenig Neid wecken, dass diese Forschungsrichtung in Großbritannien so weit gediehen ist, einer scheinbaren Randerscheinung solche Aufmerksamkeit zu widmen. Tatsächlich baut der Band auf einer reichhaltigen Literatur auf, die seit Jahrzehnten die Entwicklung von Wahlverfahren und Wahlkultur in Großbritannien beleuchtet2 und sich bis in die Gegenwart mit innovativen Ansätzen fortentwickelt.3 Auch zu den peripheren Regionen des Vereinigten Königreichs4, zur Rolle politischer und sozialer Bewegungen außerhalb der Parteien5, sogar zu einzelnen Wahlgängen liegen Monographien vor.6 Selbst zum Thema dieses Bandes wird neben etlichen Artikeln auf einen älteren, vornehmlich dem 20. Jahrhundert gewidmeten Sammelband verwiesen.7

Hingegen bildeten die britischen Nachwahlen früherer Zeiten, so die Herausgeber Thomas G. Otte und Paul Readman im kurzen Vorwort, bislang eine Forschungslücke, die dieser Band zumindest für den Zeitraum vom ersten Reform Act von 1832 bis zum Ersten Weltkrieg schließen soll (S. xi). Neben einer hilfreichen Einleitung umfasst er elf Aufsätze, die ihre Themen nach verschiedenen Kriterien abgrenzen: Manche versuchen eine umfassende Darstellung zu bestimmten Zeiträumen, die als besonders wichtig herausgestellt werden sollen, so Geoffrey Hicks zur Legislaturperiode von 1874 bis 1880 (S. 77–98), Matthew Roberts zu den Jahren der Neuausrichtung des Parteiensystems nach der Spaltung der Liberalen in der Home-Rule-Frage 1885 bis 1906 (S. 177–200) sowie Readman und Luke Blaxill zur Regierungszeit Edwards VII. (S. 227–250). Bei zwei Beiträgen handelt es sich um Einzelfallstudien: Phillips Payson O’Brien behandelt die Nachwahl in Bermondsey 1909, die als Test für die Akzeptanz der anti-aristokratischen Reformpolitik der Liberalen angesehen wurde (S. 251–272), während Antony Taylor vier Fälle aus den 1870er- und 1880er-Jahren untersucht, in denen unabhängige arbeiterfreundliche Kandidaten gegen die Vertreter der Liberalen und Konservativen antraten (S. 99–120).

Andere Autoren verfolgen die Bedeutung einzelner Politikfelder im Wahlkampf über längere Zeiträume hinweg: Otte die Rolle der Außenpolitik (S. 121–150), Ian Packer die der Bodenreformfrage (S. 201–225). Drei weitere Beiträge wählen Aspekte des Wahlverfahrens und der Wahlpraxis als Ausgangspunkte für Längsschnittuntersuchungen. Philip Salmon geht der Frage nach, welche Auswirkungen es hatte, dass bei Nachwahlen nur ein Sitz zu vergeben war, während bei regulären Parlamentswahlen bis 1868 noch in der großen Mehrheit aller Wahlkreise je zwei oder mehr Abgeordnete gewählt wurden (S. 23–49). Kathryn Rix widmet sich den Wirkungen der Nachwahlen auf die Intensivierung und Professionalisierung der Wahlkämpfe (S. 151–175), und Angus Hawkins befasst sich mit einem bestimmten Anlass für Nachwahlen, nämlich der Ernennung von Parlamentariern zu Regierungsämtern, in welchem Fall sich die Ernannten der Wiederwahl in ihrem Wahlkreis stellen mussten (S. 51–76). Der letzte Aufsatz schließlich, jener von Gordon Pentland über Schottland, hat einen regionalen Fokus (S. 273–292).

Diese multiperspektivische Zugangsweise wird von den Herausgebern eingangs als „judicious mixture of themed and chronological chapters“ bezeichnet (S. xi), die ein Herausarbeiten gemeinsamer Befunde besser ermögliche als eine rein thematische Gliederung, bei welcher zudem eine Prädeterminierung der Ergebnisse durch die Fragestellungen besonders wahrscheinlich sei. Ob dahinter nicht eher ein Vorliebnehmen mit dem steckt, was die verfügbaren Beitragenden, elf Männer und eine Frau8, an Expertise und Präferenzen einzubringen hatten – wie es bei Sammelbänden ja vorkommen soll –, mag dahingestellt bleiben. Gut gelungen ist die Zusammenführung der thematisch und auch methodologisch disparaten Texte im Hinblick auf eine Reihe zentraler Feststellungen und Entwicklungslinien, die immer wieder angesprochen und mit Belegen aus verschiedenen Zeiten und Quellen untermauert werden. Hierzu dürfte auch ein Workshop beigetragen haben, der die Autorin und die Autoren „half-way through the research phase“ am King’s College London versammelte (S. xii).

Ein erstes Resultat, das in fast allen Texten zur Sprache kommt, ist, dass den Nachwahlen von Zeitgenossen beträchtliche Bedeutung zugemessen wurde, die im Laufe des Untersuchungszeitraums noch deutlich anstieg. Sie erschienen den Politikern und den Medien des 19. Jahrhunderts keineswegs als unwichtige Nebenschauplätze. Während sie nur in Zeiten besonders knapper Mehrheiten unmittelbare Auswirkungen auf die Stabilität von Regierungen haben konnten (Roberts, S. 178), wurde ihnen zunehmend eine Test- oder Prognosefunktion zugeschrieben – Verschiebungen bei Nachwahlen wurden zu Vorhersagen für die nächsten allgemeinen Wahlen hochgerechnet. Einer der Pioniere dieser sogenannten „political meteorology“ war der liberale Parteiführer William Gladstone. In einer Zeit lange vor dem Aufkommen der Demoskopie galten Nachwahlen sogar als der einzige einigermaßen verlässliche Indikator für die Stimmung der Wählerschaft (Hicks, S. 97).

Hier ist auch festzuhalten, dass das quantitative Ausmaß des Phänomens keineswegs gering war: Im Untersuchungszeitraum fanden insgesamt mehr als 2.600 Nachwahlen statt (Otte und Readman, S. 2); und im Vergleich zur Zeit vor 1832 ging der Anteil der „uncontested elections“, in denen sich ein Bewerber ohne Gegenkandidaten und somit ohne Abstimmung durchsetzte, beträchtlich zurück und war bald nicht mehr viel höher als bei landesweiten Wahlen (Salmon, S. 26–28). Die häufigste Ursache für Nachwahlen war die Ernennung von Parlamentariern zu Regierungsvertretern, gefolgt von Rücktritten und Todesfällen; mit erheblichem Abstand folgten die Aberkennung von Mandaten wegen Wahlbetrugs oder Bestechung, der Übertritt von Mandataren des Unterhauses ins Oberhaus sowie Vakanzen nach der gleichzeitigen Wahl ein und desselben Kandidaten in mehreren Wahlkreisen (Hawkins, S. 51).

Ein zweiter wichtiger Befund geht dahin, dass bei Nachwahlen zum Teil andere Bedingungen galten als bei den landesweiten Urnengängen, was ihnen eine besondere Rolle für die Entwicklung der Wahlpraxis insgesamt einräumte. Die Parteien konnten ihre Ressourcen bündeln, anstatt sie auf das ganze Land aufteilen zu müssen, und betrieben einen umso intensiveren Wahlkampf, den zunehmend hauptberufliche Funktionäre („agents“) leiteten (Rix, S. 160–172); die Vergabe nur eines einzigen Sitzes erlaubte keine Aufteilung der Stimmen und zwang die Wähler zu einem klaren Bekenntnis zu einer Partei (Salmon, S. 34–41). Die jeweils aktuellen Themen der gesamtstaatlichen politischen Debatten wurden massiv in den einzelnen Wahlkreis hineingetragen und machten die Nachwahlen nach einem zunächst paradox anmutenden Befund, der von mehreren Beitragenden überzeugend vorgebracht wird, zu weniger lokal geprägten Urnengängen als jenen, die im Rahmen der allgemeinen Wahlen stattfanden (Rix, S. 156 und öfter; Roberts, S. 177f.; Readman und Blaxill, S. 236–238). Außerdem testeten die Parteiorganisationen hier sowohl Themen als auch Wahlkampftechniken auf ihre Wirksamkeit.

Diese Ergebnisse vermittelt der Band überzeugend in engem Fokus auf sein Thema. Ein Eingehen auf Theorie- oder Methodenfragen der historischen Wahlforschung findet hingegen nur an wenigen Stellen und eher beiläufig statt (etwa Pentland, S. 287). Ebenso bewegen sich die Beiträge nahezu ausschließlich in den Bahnen der eingangs angesprochenen britischen Forschungstradition; einen Vergleich mit anderen Ländern hat der Rezensent an einer einzigen Stelle wahrgenommen (Otte, S. 150), nicht-britische Literatur scheint kaum rezipiert zu werden. Nicht als Mangel anzusprechen, aber für nicht-britische Leserinnen und Leser zu vermerken ist, dass sich der Band als Einstieg in die britische Politik- und speziell Wahlgeschichte nicht gut eignet: Deren Kenntnis, auch die des britischen Wahlsystems und seiner Reformen von 1832, 1867 und 1884, wird auf weite Strecken vorausgesetzt. Einige Beiträge wählen zudem eine eher spröde Darstellungsweise, bei der einzelne Nachwahlen in langer Folge mehr oder weniger aufgezählt werden; das gilt insbesondere für den Text von Hawkins, der zudem mit auffallend wenigen Nachweisen auskommt, während die meisten anderen erfreulich quellengesättigt erscheinen. Insgesamt lässt sich der Band somit als durchaus gelungener Beitrag zur Schließung einer Forschungslücke werten, der sich allerdings in erster Linie an ein Publikum mit vertiefter Sachkenntnis richtet und für andere nicht ganz leicht zugänglich sein dürfte.

Anmerkungen:
1 Zur relativen Unterentwicklung dieser Forschungsrichtung vgl. jüngst etwa Claudia Christiane Gatzka / Hedwig Richter / Benjamin Schröder, Zur Kulturgeschichte moderner Wahlen in vergleichender Perspektive. Eine Einführung, in: Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 23/1 (2013), S. 7–19.
2 Beispielsweise: Harold J. Hanham, Elections and Party Management. Politics in the Time of Disraeli and Gladstone, London 1959; John A. Phillips, Electoral Behaviour in Unreformed England. Plumpers, Splitters, and Straights, Princeton 1982; Frank O’Gorman, Voters, Patrons, and Parties. The Unreformed Electoral System of Hanoverian England, 1734–1832, Oxford 1989; Jonathan Lawrence / Miles Taylor (Hrsg.), Party, State, and Society. Electoral Behaviour in Britain since 1820, Aldershot 1997.
3 Philip Salmon, Electoral Reform at Work. Local Politics and National Parties, 1832–41, Woodbridge 2002; Jeremy C. Mitchell, The Organization of Opinion. Open Voting in England, 1832–68, Basingstoke 2008; Jonathan Lawrence, Electing Our Masters. The Hustings in British Politics from Hogarth to Blair, Oxford 2009.
4 Karl Theodore Hoppen, Elections, Politics, and Society in Ireland 1832–1885, Oxford 1984; Michael Dyer, Men of Property and Intelligence. The Scottish Electoral System Prior to 1884, Aberdeen 1996; Michael Dyer, Capable Citizens and Improvident Democrats. The Scottish Electoral System 1884–1929, Aberdeen 1996.
5 David A. Hamer, The Politics of Electoral Pressure. A Study in the History of Victorian Reform Agitations, Hassocks 1977; Martin Pugh, The March of the Women. A Revisionist Analysis of the Campaign for Women’s Suffrage, 1866–1914, Oxford 2000.
6 Trevor O. Lloyd, The General Election of 1880, London 1968; Neal Blewett, The Peers, the Parties and the People. The General Elections of 1910, London 1972.
7 Christopher Piers Cook / John Ramsden (Hrsg.), By-elections in British Politics, London 1973. Auch unter den zahlreichen Datensammlungen und Dokumentationen der Wahlergebnisse gibt es einen Faktenband eigens zu den Nachwahlen, aus dem in den Beiträgen des hier angezeigten Bandes vielfach geschöpft wird: Frederick W. S. Craig, Chronology of British Parliamentary By-elections 1833–1987, Chichester 1987.
8 Es erhebt sich die Frage, ob Politikgeschichte in Großbritannien tatsächlich eine fast exklusive Männerdomäne geblieben ist oder sich dies nur aufgrund einer von den Herausgebern getroffenen Auswahl so darstellt.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension