M. Leuenberger u.a.: Geprägt fürs Leben

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Titel
Geprägt fürs Leben. Lebenswelten fremdplatzierter Kinder in der Schweiz im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Leuenberger, Marco; Seglias, Loretta
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
418 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Urs Germann, Institut für Medizingeschichte, Universität Bern

Die Schicksale ehemaliger Verdingkinder beschäftigen die schweizerische Öffentlichkeit derzeit intensiv. Schätzungen gehen davon aus, dass allein im 20. Jahrhundert mehrere 100.000 Kinder bei fremden Familien platziert („verdingt“) wurden. Meist handelte es sich um Kinder aus sozial benachteiligten oder unvollständigen Familien, die auf die öffentliche Fürsorge angewiesen waren oder aus anderen Gründen die Betreuung nicht gewährleisten konnten. Nur in Ausnahmefällen lagen die Gründe für die Platzierung bei den Kindern selbst. Viele der Betroffenen berichten heute von einer „gestohlenen Kindheit“. Tatsächlich fehlte es ihnen vielfach an emotionaler Zuwendung, uneheliche Kinder wurden sogar offen stigmatisiert. Viele Kinder wurden als billige Arbeitskräfte ausgenutzt und in Schule und Ausbildung benachteiligt oder sahen sich körperlicher und sexueller Gewalt ausgesetzt. Im April 2013 hat die Schweizer Landesregierung das begangene Unrecht offiziell anerkannt und einen Runden Tisch eingesetzt. Inzwischen liegen dem Parlament Vorschläge für einen Entschädigungsplan und eine umfassende historische Aufarbeitung so genannter fürsorgerischer Zwangsmaßnahmen vor. Dabei handelt es sich um die nationale Spielart einer Erinnerungs- und Geschichtsdebatte, die in ähnlicher Form auch andere europäische Staaten – etwa Irland, Deutschland oder Österreich – betrifft.

Obwohl der hartherzige Umgang mit Pflegekindern nie ein Geheimnis war, hat die universitäre Geschichtsforschung das Thema – wie generell die Sozialgeschichte des ländlichen Raums im 20. Jahrhundert – lange Zeit verschlafen. Die hier zu besprechende Dissertation von Marco Leuenberger und Loretta Seglias leistet deshalb Pionierarbeit. Die Autorin und der Autor beschäftigen sich seit längerem mit dem Thema und verstehen ihre Forschungsarbeiten als Beiträge zur laufenden politischen Debatte. Der Großteil des Quellenmaterials der vorliegenden Studie – die Lebensberichte von 287 Betroffenen – wurde zwischen 2005 und 2012 in zwei Forschungsprojekten der Universität Basel gesammelt und ausgewertet.1

Ziel der Untersuchung ist es, anhand von Zeitzeugeninterviews und schriftlichen Quellen die Lebenswelten von fremdplatzierten Kindern zu rekonstruieren. Leuenberger und Seglias erhoffen sich, auf diese Weise „Einblicke in die damaligen Lebensverhältnisse und deren Verarbeitung“ (S. 14) zu erhalten und die „Wechselwirkung zwischen Individuen und Strukturen, zwischen Mikro- und Makroebene“ herauszuarbeiten. Die Lebenswelt wird dabei als „Schnittstelle“ (S. 34) verstanden, an der individuelle Erfahrungen und gesellschaftliche Strukturen aufeinandertreffen. Zeitlich liegt der Fokus zwischen dem Inkrafttreten des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (1912) und dem Erlass der ersten gesamtschweizerischen Pflegekinderverordnung (1978). Die Untersuchung ist komparatistisch angelegt. Verglichen werden zum einen die Lebensläufe und Erfahrungen mehrerer Zeitzeugen, zum anderen die Platzierungspraxis in sechs ländlichen Gemeinden in den Kantonen Bern, Luzern und Solothurn. Zudem werden die Forschungsergebnisse zur Schweiz in die Entwicklung im europäischen Ausland eingebettet.

Der Aufbau der Kapitel folgt einem einheitlichen Muster. Zu Beginn steht jeweils die interviewgestützte Rekonstruktion eines individuellen Lebenslaufs. Diese dient dann als Aufhänger, um die Organisationsstrukturen, die das „System Fremdplatzierung“ (S. 15) prägten, thematisch zu vertiefen. Beleuchtet werden unter anderem die verschiedenen Platzierungsformen, der Wandel der Begrifflichkeiten, die Bewilligungs- und Aufsichtsregelungen, die Platzierungsgründe, die Auswahlkriterien für Pflegeplätze, finanzielle Aspekte sowie die Mitwirkung privater Organisationen. Insgesamt ergibt sich so ein vielschichtiges, jedoch in sich stringentes Bild der Fremdplatzierungspraxis im ländlichen Raum.

Überblickt man die Ergebnisse, sticht – kaum überraschend – die Omnipräsenz der wirtschaftlichen und sozialen Prekarität ins Auge. Nicht nur stammten die fremdplatzierten Kinder großmehrheitlich aus unvollständigen und/oder armengenössigen Familien, auch die Mehrheit der Pflegefamilien gehörte zu den ärmeren Bevölkerungsschichten. Für sie bedeuteten die Kostgelder eine willkommene Einnahmequelle und zudem waren sie an billigen Arbeitskräften interessiert. Finanzielle Überlegungen standen auch auf Versorgerseite im Vordergrund und bildeten einen Hauptgrund dafür, dass alternative Unterstützungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft wurden. Tatsächlich sahen die Gemeinden in Familienauflösungen und Fremdplatzierungen eine probate Möglichkeit, ihre Fürsorgeetats und damit die Steuerzahler zu entlasten. Obwohl das Zivilgesetzbuch von 1912 im Einklang mit der Entwicklung in anderen Ländern armenrechtlichen Platzierungen einen Riegel vorschieben wollte, spielte das Kindswohl in der Praxis lange eine untergeordnete Rolle. So verschleppten die untersuchten Kantone und Gemeinden den Erlass der nötigen Bewilligungs- und Aufsichtsregelungen und die Versorger nahmen mangelhafte Pflegeplätze in Kauf. Nach Alter abgestufte Kostgeldsätze und die allgegenwärtige Maxime der Arbeitsdisziplinierung leisteten der Ausbeutung der Kinder sogar offen Vorschub. Erhärtet wird der Eindruck einer wenig kontrollierten und stark informellen Praxis durch den aufschlussreichen Befund, dass die Mehrheit der Kinder durch die eigenen Eltern platziert wurde, wobei diese oft unter Druck gesetzt wurden oder einer Intervention der Vormundschaftsbehörden zuvorkommen wollten. Solche „freiwilligen“ Platzierungen bedeuteten für die betroffenen Kinder erst recht, dass sie durch die Maschen der behördlichen Aufsicht fielen. Zu Recht rekurrieren Leuenberger und Seglias in ihren Erklärungsversuchen nicht einfach auf die oft misslichen Lebensbedingungen oder den autoritären „Zeitgeist“, welche die ländliche Schweiz bis in die Nachkriegszeit hinein prägten. Vielmehr interpretieren sie die bis dahin kaum in Frage gestellte Fremdplatzierungspraxis als Ausdruck einer „gesellschaftlichen Prioritätensetzung“ (S. 213), die zugunsten von Kosteneinsparungen und des Erhalts sozialer Machtverhältnisse die Marginalisierung, Stigmatisierung und den Missbrauch von Zehntausenden von Kindern und Jugendlichen in Kauf nahm.

Eindrücklich ist, dass das Gefühl von Ohnmacht und Isolation die Erfahrungen der Betroffenen oft noch stärker prägte als die materiellen Entbehrungen. Wie ein Leitmotiv durchziehen die fehlenden Informationen über die Gründe und Umstände der Fremdplatzierung die ausgewerteten Lebensberichte der ehemaligen Pflegekinder. Oft ging der Kontakt zu den Eltern oder Geschwistern verloren und nur in den wenigsten Fällen verfügten die Kinder über eine Bezugsperson außerhalb der Pflegefamilie. Pflegeplatzwechsel oder die zeitweise Einweisung in ein Heim verstärkten das Gefühl der Entwurzelung zusätzlich. Hinzu kam die soziale Marginalisierung in der dörflichen Gemeinschaft. Wie die rekonstruierten Lebensgeschichten zeigen, entwickelten die betroffenen Personen allerdings unterschiedliche Strategien im Umgang mit der eigenen Biografie.

Die Untersuchung von Leuenberger und Seglias leistet ohne Zweifel einen wichtigen historiografischen Beitrag zu einer aktuellen Debatte. Dennoch sind hier vor einer abschließenden Würdigung einige kritischen Bemerkungen angebracht. Diese betreffen insbesondere den Umgang mit den einzelnen „Lebensweltrekonstruktionen“. Die etwas gar schematische Präsentation der Fallbeispiele erschwert nämlich nicht nur den Zugriff auf die thematischen Kapitel. Irritierend ist auch die Art, wie in den Falldarstellungen Zitate, auktorial-erzählende und retrospektiv bewertende Passagen eingesetzt werden. Referierende, interpretierende und vereinzelt sogar psychologisierende Aussagen sind stellenweise schwer auseinander zu halten. Hinzu kommt, dass nicht immer ganz klar wird, wieweit die subjektive Dimension, welche das Konzept der Lebenswelt impliziert, wirklich in die historische Analyse einfließt. Verknüpfungen zwischen Erfahrungs- und Strukturebenen erfolgen, etwa in den Kapiteln zu den finanziellen Aspekten und zum Verhältnis von Armen- und Vormundschaftsrecht, zwar gezielt, aber auch sehr punktuell. Das ambitionierte Vorhaben, die Lebenswelten ehemaliger Pflegekinder als „Schnittstellen“ von Erfahrungen und Strukturen erkennbar zu machen, ist in seiner Umsetzung deshalb nicht überall gleich plausibel.

Von diesen Einwänden abgesehen, ist es ein großes Verdienst der vorliegenden Untersuchung, dass sie ein lange vernachlässigtes Thema der schweizerischen und europäischen Sozialgeschichte aufgreift und in einen differenzierten und transnational orientierten Interpretationsrahmen einbettet. Insbesondere stellt sie das auf Verrechtlichung und Professionalisierung fokussierte Narrativ in Frage, das die Beschäftigung der Geschichtswissenschaft mit der (städtischen) Jugendfürsorge des 20. Jahrhunderts bislang stark geprägt hat. Mit Blick auf die Praxis im ländlichen Raum zeichnen Leuenberger und Seglias stattdessen das Bild einer defizitären Modernisierung, die sich eher durch ein „Zuwenig“ als durch ein Übermaß an wohlfahrtsstaatlicher Regulierung auszeichnete und den normativen Paradigmenwechsel im Bereich des Kinder- und Jugendschutzes erst mit großer Verzögerung vollzog. Es wird eine der zentralen Aufgaben der geplanten historischen Aufarbeitung der Geschichte fürsorgerischer (Zwangs-)Maßnahmen sein, diese regional und sektoriell unterschiedlichen Entwicklungen in ein Gesamtbild zu integrieren. Dabei wird auch die Frage zu diskutieren sein, ob die Beharrungskraft armenrechtlich motivierter Platzierungspraktiken im internationalen Kontext wirklich eine Ausnahme darstellte. Für die weitere Bearbeitung dieser – und anderer – Fragestellungen bietet die Untersuchung von Marco Leuenberger und Loretta Seglias eine breite und wohlfundierte Grundlage.

Anmerkung:
1 Vgl. auch die Projektpublikation: Marco Leuenberger / Loretta Seglias (Hrsg.), Versorgt und Vergessen. Ehemalige Verdingkinder erzählen, 4. Auflage, Zürich 2010 (1. Auflage 2008).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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