M. Kintzinger u.a. (Hrsg.): Akademische Wissenskulturen

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Titel
Akademische Wissenskulturen. Praktiken des Lehrens und Forschens vom Mittelalter bis zur Moderne


Herausgeber
Kintzinger, Martin; Steckel, Sita
Reihe
Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte (VGUW) 13
Erschienen
Basel 2015: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
354 S.
Preis
98,00 Euro
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Friederike Schruhl, Graduiertenkolleg "Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung", Universität Göttingen

Seit seiner Gründung versucht das Kulturwissenschaftliche Institut Essen „einzelne Wissenschaftszweige untereinander zu vernetzen, Wissenschaft, Öffentlichkeit und Kultur zu verbinden [sowie] universitäre und außeruniversitäre Forschung zusammenzuführen […]“1. Als interuniversitäre Kooperationsplattform zur Erforschung kultureller Phänomene der Gegenwart bot es der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte einen geradezu paradigmatischen Ort für ihre achte internationale Tagung. Denn die Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte möchte „vor allem die langfristigen, oft ‚stillen‘ Veränderungen verständlich machen, die Universität, Bildung und Wissenschaft in vormodernen und modernen Gesellschaften hervorgerufen haben.“2

Mit der Tagung „Akademische Wissenskulturen. Praktiken des Lehrens und Forschens vom Mittelalter zur Moderne“ vom 14. bis 16. September 2011 setzte die Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte einen Schwerpunkt auf die Untersuchung akademischer Akteure und Handlungsfelder. Sie forderte dazu auf, sich mit historischen Praktiken des Lehrens, Lernens und Forschens auseinanderzusetzen, um die Transformation historischer Wissenskulturen zu rekonstruieren.

Die einzelnen Vorträge sowie drei weitere Aufsätze wurden in einem Sammelband der Publikationsreihe der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte im Schwabe Verlag veröffentlicht und spannen den Bogen von den spätmittelalterlichen Universitäten bis hin zu Expertengruppen der digitalen Gegenwart. Die Beiträge sind durch drei Sektionen strukturiert. Im ersten Teil „Wissens- und Expertenkulturen als Untersuchungsgegenstände“ diskutieren und evaluieren drei Beiträge die wichtigsten Zugriffsweisen der verschiedenen Epochendisziplinen auf Wissenskulturen. Diese Perspektiven werden im zweiten Teil „Wissen erwerben und vermitteln: Praktiken des Lehrens“ anhand von konkreten Fallstudien zur Institutionalisierung und Praxis akademischer Wissensvermittlung vom Spätmittelalter bis zum Ende des langen 19. Jahrhunderts angewandt. Die Beiträge des letzten Teils „Wissen kommunizieren und repräsentieren: Praktiken der akademischen Repräsentation und Abgrenzung“ legen den Fokus auf das Selbstverständnis akademischer Akteure.

Sita Steckel eröffnet die erste Sektion mit einem Forschungsüberblick. Sie präsentiert die aktuellen Tendenzen der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte im Hinblick auf Wissenskulturen. Dabei benennt sie sowohl Gründe für den zurückhaltenden Umgang mit wissensgeschichtlichen Themen als auch Potentiale für die Forschung, die aus der Hinwendung zur Wissensgeschichte resultieren könnten, so zum Beispiel die verstärkte Auseinandersetzung mit Alltagswissen, implizitem Wissen oder populärem Wissen und die Überwindung der Trennung von Ideen und Institutionen durch die Verschränkung von Wissensbeständen und ihrer sozialen Konstruktion. Auch Marian Füssel plädiert in seinem Beitrag dafür, eine praxeologische Perspektive bei der historischen Analyse von akademischer Forschung und Lehre einzunehmen, um eine konsequente Historisierung und Infragestellung wissenschaftshistorischer Großnarrative verfolgen zu können. Im Zentrum seiner Ausführungen stehen neben der Bedeutung akademischer Sammlungen für die Produktion von Wissen zwei Vermittlungsformen der frühneuzeitlichen Universität: die Vorlesung und die Disputation. Marian Füssel zeigt, wie einerseits die Präsenzkultur der Vorlesung sukzessive vom Distanzmedium der Schrift abgelöst wurde und andererseits ein auf Rhetorik und damit auf Mündlichkeit und Anwesenheit gründender Kult des wissenschaftlichen Genies begann. „Mündlichkeit und Schriftlichkeit bilden damit keine historische Abfolge, sondern komplementäre mediale Mechanismen der Geltungsgenerierung.“ (S. 86) Helmuth Trischler erweitert die Perspektive dieser Sektion auf die akademischen Wissenskulturen des 20. Jahrhunderts. Er rekonstruiert zunächst die historische Gleichzeitigkeit der Transnationalisierung von Forschungszusammenhängen und der Konjunktur nationalistischer Selbstbeschreibungen des akademischen Feldes und beschäftigt sich schließlich mit der Bedeutung supranationaler Kooperationen insbesondere im heutigen Europa.

Die Beiträge der zweiten Sektion befassen sich mit Praktiken des Lehrens. Maximilian Schuh untersucht anhand von Dokumenten und Schriften der Universität Ingolstadt die Wissensvermittlung im universitären Rhetorikunterricht des Spätmittelalters und arbeitet die lebensweltliche Orientierung der Lehre heraus. Demnach prägte die Einlassung sozialer, wirtschaftlicher und politischer Lebensumstände die Lerneinheiten wesentlich stärker als bislang angenommen. Kaspar R. Esklidsen legt in seinem Beitrag den Schwerpunkt auf die geschichtswissenschaftliche Lehre an deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert und konzentriert sich auf die Ranke-Schule, die zugleich die Aufgaben einer öffentlichen Bildungsinstitution und die Funktion einer wissenschaftlichen Familie übernahm. Der Historiker argumentiert, dass kritische Quellenforschung für den inneren Zirkel der Ranke-Schule nicht nur eine Methode, sondern auch eine Lebenseinstellung und „sittliche Pflicht“ (S. 159) war. Die „geerbten Werte und die verkörperten Tugenden der historischen Familie gewährleisteten die Einheit und Beständigkeit der Geschichtswissenschaft“ (S. 161), so die These von Kaspar R. Esklidsen. Ähnlich setzt auch Harald Lönnecker in seinem Beitrag an, in dem er sich der Entstehungsgeschichte von Studentenverbindungen in der Rechtswissenschaft zwischen 1871 und 1914 widmet. Anhand umfangreicher Quellen zeigt er, dass die studentischen Gruppen zumeist mit dem Ziel gegründet wurden, die defizitäre Lehre zu kompensieren, faktisch aber das rechtswissenschaftliche Studium einen wesentlich geringeren Anteil des Vereinslebens einnahm als allgemeine gesellschaftspolitische Fragen und die Pflege ritueller Praktiken. Aus der anfänglich miserablen Studiensituation entwickeln sich Sozialisationsorte der Elite des Kaiserreichs.

Die dritte Sektion beginnt mit dem Aufsatz von C. Stephen Jaeger. Er demonstriert, inwiefern das im Hochmittelalter entstehende Ideal des vollkommenen Menschen der Professionalisierung des Universitätsbetriebs Vorschub leistete. Hierzu beschreibt C. Stephen Jaeger, wie der Humanismus des 11. und 12. Jahrhunderts eine positive Anthropologie propagierte, die sich aus einem Konglomerat frühchristlich-theologischer und antiker Ideen speiste. Demnach lässt sich der Diskurs über den guten Lehrer nur vor dem Hintergrund des humanistischen Mythos des perfektiblen Menschen verstehen. Antoine Destemberg lenkt in seinem Aufsatz den Blick auf die ersten Formen kollektiver Arbeitsniederlegung an den Universitäten im Spätmittelalter. Er zeigt eindrucksvoll, wie die sogenannten cessationes zahlreiche Merkmale aufweisen, die häufig erst sozialen Bewegungen nach dem Beginn des 19. Jahrhunderts zugerechnet werden. Seinem Beitrag angehängt findet sich ein Verzeichnis der an der Universität Paris gezählten Fälle von cessatio zwischen 1253 und 1499. Martin Gierl konzentriert sich in seinem Beitrag auf das Wissenschaftsverständnis des Göttinger Professors Johann Christoph Gatterer, auf den die Gründung des ersten Fachinstituts überhaupt im Jahr 1764 zurückgeht. Anhand zahlreicher Visualisierungen, Diagramme, Karten und Stammbäume zeigt Martin Gierl die ambitionierten Ordnungsversuche von Johann Christoph Gatterer. Mit Rückgriff auf verschiedene historische Hilfswissenschaften wie beispielsweise der Diplomatik, Heraldik und Statistik zielte der Historiker auf die Erschaffung einer umfassenden historischen Datenbank. Nicht zuletzt lässt sich an Gatterers Forschungspraktiken die Relevanz von Visualisierungsverfahren für die Produktion von Wissen ablesen. Charlotte Lerg untersucht in ihrem Beitrag die politischen Dimensionen der Ehrendoktorwürde im Dienste der transatlantischen Diplomatie. Demnach zielt die Verleihung der Ehrendoktorwürde nicht in erster Linie auf eine Selbstbeschreibung der jeweiligen akademischen Disziplin, sondern auf die strategische Nutzung des kulturellen und symbolischen Kapitals der Wissenschaft für politische Ziele. Die letzte Sektion schließt mit dem Beitrag von Sonja Palfner und Ulla Tschida über die dynamische Struktur der Digital Humanities. Die Autorinnen skizzieren den Institutionalisierungsprozess des Tübinger Systems von Textverarbeitungsprogrammen (TUSTEP) zu Textgrid und schlagen vor, die Digital Humanities nicht nur als disziplinären Verbund, sondern auch als neue Forschungspraxis zu verstehen.

Der Band ist in mehrfacher Weise bemerkenswert. Erstens beeindrucken die Materialfülle der Beiträge und die unterschiedlichen Herangehensweisen der Epochendisziplinen. Zweitens zeichnet sich der Band durch eine ausführliche Reflexion darüber aus, inwiefern die Auseinandersetzung mit Wissenskulturen die historiografischen Wissenschaften bereichern könnte. Die Beiträge prüfen die praxeologische Perspektive auf den jeweiligen Gegenstand kritisch und verleihen somit der Erforschung von Wissenskulturen deutliche Konturen, die weit über die Themen des Bandes hinaus für weitere Arbeiten anschlussfähig sind. Schließlich führen sie drittens eindrucksvoll vor, wie mithilfe einer praxeologischen Perspektive bekannte Quellen neu gelesen und bewertet werden können. Somit zeigt sich die Praxeologie als zugleich innovativ und zurückhaltend: Sie verfolgt nicht das Ziel, eine in sich geschlossene Theorie zu entwerfen, bietet aber eine Perspektive, die es erlaubt, selbstverständlich gewordene Routinen zu rekonstruieren und internalisierte Arbeitsabläufe präzise zu beschreiben.

Anmerkungen:
1 Siehe die Institutsordnung / Rechtsform des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, < http://www.kulturwissenschaften.de/images/text_material-960.img> (10.11.2015).
2 <http://guw-online.net/uber-die-guw/ziele/> (30.10.2015).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/