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Titel
Für Ruhe und Ordnung. Einsätze des Militärs im Inneren (1820–1918). Preußen – Westfalen – Rheinprovinz


Autor(en)
Vollert, Michael P.
Erschienen
Anzahl Seiten
222 S.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Epkenhans, Universität Hamburg/Universität Potsdam, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam

Die Zahl an Studien zur Planung und Führung von Kriegen durch das Militär sowie die von Deutschland ausgehenden Kriege oder jene, an denen deutsche Soldaten im „langen“ 19. Jahrhundert teilgenommen haben, ist kaum noch zu überschauen. Vergleichsweise wenig wissen wir hingegen über die Rolle des Militärs im Innern. Sicher, das Thema „Militarismus“ fehlt in kaum einer Darstellung des Kaiserreichs. Auch dass Militär bei Streiks oder bei der Niederschlagung der Revolution 1848/49 eingesetzt wurde, ist weitgehend bekannt. Detaillierte Forschungen über diese Funktion des Militärs fehlen jedoch.

Diese Lücke füllt die Studie von Michael P. Vollert. In seinen einführenden Kapiteln beschreibt er zunächst die rechtlichen Grundlagen des Einsatzes von Soldaten im Innern. Zu Recht weist er dabei auf die besondere Bedeutung der monarchischen Kommandogewalt hin. Dabei handelte es sich um jenes Recht der alleinigen Verfügung des Monarchen über das Militär, das Bismarck im Verfassungskonflikt im Zusammenspiel mit dem preußischen König und der militärischen Führung so zäh verteidigte und das bis 1918 der wichtigste Hebel beim Einsatz von Soldaten war. Weder Kanzler noch Parlament konnten hierauf Einfluss nehmen. Latent verbunden damit war die Drohung mit dem Staatsstreich, auch wenn alle Monarchen wie auch die Reichsleitung davor in letzter Konsequenz zurückschreckten. Auf ihre Truppen hätten sie sich dabei auch verlassen können. Diese wurden zwar nicht konkret zur Aufstandsbekämpfung vorbereitet. Der langjährige, zumeist dreijährige Drill sollte aber dafür sorgen, dass die Zuverlässigkeit der Armee nicht infrage stand. Von Ausnahmen 1848/49 abgesehen, war diese gewährleistet. Erst am Ende des Ersten Weltkrieges, als das Versagen der alten Ordnung unübersehbar war, sollte diese massenhaft meutern und damit schließlich das gesamte System zum Einsturz bringen. Es ist schade, dass der Verfasser den Problemkomplex „Rechtliche Grundlagen und militärische Vorschriften“ am Ende seines Buches noch einmal aufgreift, anstatt das zu Beginn und später Gesagte gleich miteinander zu verknüpfen. Er hätte es dem Leser damit einfacher gemacht, das Gewirr von Verfassungsbestimmungen, Vorschriften über den Belagerungszustand und Erlassen zu durchschauen.

Im zweiten Teil, der viel Neues enthält, behandelt der Verfasser systematisch verschiedene Einsätze des Militärs. Zu Recht verweist er in den Kapiteln drei bis acht dabei auf die unterschiedlichen Anlässe bei dessen Einsatz. Neben Einsätzen gegen „Umstürzler“ verschiedener Coleur wurden Soldaten stets auch gegen Streikende, revoltierende Hungernde oder nationale Minderheiten eingesetzt. Es ist einerseits schon spannend zu lesen, dass nicht allein Liberale und umstürzlerische Sozialisten Opfer militärischer Gewaltanwendung waren, sondern, wie in Köln und Münster während des Mischehenstreits in den 1830er-/1840er-Jahren, auch Katholiken. Ergänzend hinzukommen Einsätze beim Staatsstreich wie in Preußen 1848, als General v. Wrangel die Abgeordneten der Preußischen Nationalversammlung auseinanderjagte. Aber auch die latente Drohung mit dem Staatsstreich reichte bis in die Endzeit des Kaiserreichs, um den Reichstag vor zu forschen Forderungen zurückschrecken zu lassen. Gleichwohl: die Forderung des Kanzlers im Sommer 1914, auf die seitens der Generalkommandos vorgesehene Verhaftung der Reichstagsabgeordneten der SPD zu verzichten, um die Arbeiter im bevorstehenden Krieg bei der „Stange“ zu halten, zeigt auch, dass sich zumindest die Politik darüber im Klaren war, dass derartige Maßnahmen gewaltig nach hinten losgehen konnten. Hier zeigte sich jedoch, wie sehr außenpolitische Konfliktlagen zu anderen Ergebnissen führen konnten. Noch im Jahr zuvor, während der „Zabern“-Krise, hatte der Kanzler dem Militär, dessen Fehlverhalten unübersehbar war, uneingeschränkt den Rücken gestärkt. Dass ein überwältigendes Misstrauensvotum des Reichstages keinen Einfluss auf die Rolle des Militärs hatte, wirft ein Schlaglicht auf die Verteilung der Gewichte im Innern.

Ob die Reichsleitung sich im Sommer 1914 auf das Militär hätte verlassen können, ist eine offene Frage. Anders als 1848/49, als allerdings nur ein kleiner Teil sich als unzuverlässig erwies, war dies am Ende des Krieges 1918 nicht mehr der Fall. Massenhaft verbrüderten sich nun revoltierende Matrosen und Soldaten mit streikenden Arbeitern. Innerhalb weniger Tage brach die überkommene Ordnung daher zusammen. Anders als bei vorangegangenen Konflikten waren sie nicht bereit, rücksichtslos in die Menge zu schießen.

Vollert beschreibt diese Zusammenhänge prägnant. Neben manch Bekanntem verweist er auch auf zahlreiche unbekannte Ereignisse. Vor allem aber macht er deutlich, dass es immer wieder zahlreiche Tote und Verwundete beim Einsatz des Militärs im Innern gegeben hat. Dass dies der Fall war, lag nicht zuletzt daran, dass es im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert überall im Reich an Polizei fehlte. Das Militär war insofern auch immer der letzte Ausweg. Wirklich glücklich war mancher Kommandeur darüber nicht, wie Vollerts Studie deutlich macht.

Zum Schluss, gleichsam um die weitere Entwicklung nachzuzeichnen, behandelt der Autor noch einmal die Rolle des Militärs am 20. Juli 1944 bzw. die mögliche Rolle der Bundeswehr auf der Grundlage der Notstandsgesetzgebung. Während die Verschwörer 1944 in Anlehnung an die Regeln vor 1918 handeln wollten, war es gerade das Ziel der Notstandsgesetzgebung 1968, für den Einsatz von Militär endlich verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Trotz massiver Proteste sind diese dann Gesetz geworden. Gleichwohl zeigen die Debatten seit 9/11, dass es weiterhin Fragen wie beispielsweise die nach dem Abschuss von Passagiermaschinen bei einer möglichen terroristischen Bedrohung gibt, die regelungsbedürftig sind. Dass diese Debatten im Übrigen nicht auf Deutschland beschränkt sind, zeigt der Epilog, der unter anderem auf den Einsatz von Militär in der Schweiz oder auch in den USA hinweist.

Alles in Allem ist dieses schmale Bändchen lesenswert, auch wenn mancher Aspekt sicherlich tiefergehend behandelt werden müsste, um das Problem in seiner ganzen Dimension und Dynamik zu erfassen.

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