P.O. Loew u.a. (Hrsg.): Polen. Jubiläen und Debatten

Titel
Polen. Jubiläen und Debatten. Beiträge zur Erinnerungskultur


Herausgeber
Loew, Peter Oliver; Prunitsch, Christian
Reihe
Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts 30
Erschienen
Wiesbaden 2012: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Hackmann, Universität Greifswald / Universität Szczecin

Publikationen über Erinnerungskultur(en) füllen Bibliotheken und die „Invasion“ der Veröffentlichungen zu „Vergangenheit und Erinnerung“ (Jan Piskorski, S. 25) lässt nicht nach. Im deutsch-polnischen Kontext liegen inzwischen fünf von sechs Bänden des bislang ambitioniertesten Projektes vor: der deutsch-polnischen Erinnerungsorte.1 Auch die beiden Herausgeber und einige der Autoren des hier anzuzeigenden Bandes sind daran beteiligt. Dieser geht auf eine Vorlesungsreihe an den Universitäten in Dresden und Mainz zurück. Daraus erklärt sich auch, dass es sich bei den Beiträgern überwiegend um in Deutschland tätige Wissenschaftler handelt. Ebenso spiegelt der knapp formulierte Titel implizit einen deutschen Blick auf das Thema wider.

Eine solche Ausrichtung tut der Bedeutung der Publikation jedoch keinen Abbruch, ebenso wenig wie der zeitliche Abstand der Besprechung, den der Rezensent zu verantworten hat. Im Gegenteil, denn auch den Polenexperten unter den Lesern fällt es möglichweise schwer zu sagen, was das Spezifische des im Band angesprochenen (deutsch-polnischen) „Gedenkjahr[es] 2010/2011“ (Claudia Kraft, S. 157) ausmacht. Vielmehr zeigt dieses Beispiel, dass wir es im Kontext deutsch-polnischer Erinnerungs-Verflechtungen mit einer praktisch ununterbrochenen Kette von Jahrestagen zu tun haben, die im öffentlichen Diskurs eine Rolle spielen: Das sind in erster Linie die Gedenkjahre an den Zweiten Weltkrieg. Hinzugekommen ist jetzt die 100. Wiederkehr des Ersten Weltkriegs, daneben sind einige ältere Jahrestage zu nennen, wie etwa der Schlacht bei Tannenberg / Grunwald 1410. Vor dem Hintergrund der Rückkehr für überwunden geglaubter bewaffneter Konflikte im östlichen Europa scheinen in den Erinnerungsdebatten um Versöhnung, Täter und Opfer oder auch europäische Solidarität nicht nur genuin polnische oder deutsch-polnische Themen auf, sondern es zeigen sich aktuelle Bezüge, die bei der Entstehung des Bandes jenseits des Erwartungshorizonts lagen.

Eine so neugewonnene Relevanz kennzeichnet vor allem den Essay von Jan Piskorski, der zum einen das Gegensatzpaar von Erinnerung und Vergessen auf Prozesse kollektiver (meist: nationaler) Aussöhnung bezieht, und zum anderen die Rolle des aus der Vergangenheit Lernens thematisiert. Seine Skepsis in diesem zweiten Punkt dürfte seither noch gestiegen sein. Im Gegensatz zu Piskorski, der einen weiten Bogen von Homer bis Kafka und Ortega y Gasset spannt, konzentriert sich Robert Traba auf den spezifischen polnischen Opferdiskurs. Seine „interpretatorische Polyphonie“ (S. 36) lässt sich unschwer auf zahlreiche andere europäische Nationen übertragen. Das Hauptproblem einer vergleichenden Betrachtung dürfte dabei die Persistenz nationaler Meistererzählungen sein, die Traba am Ende seines Beitrags anspricht.

Überblickscharakter hat der Beitrag von Stefan Garsztecki zum Zweiten Weltkrieg in der polnischen Gedächtnispolitik. Er wird sich fortschreiben lassen, wenn mit dem Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig das nächste große polnische Geschichtsmuseum eröffnet worden ist. Mehrere Autorinnen und Autoren befassen sich mit binationalen Debatten: Hans-Jürgen Bömelburg thematisiert vor-nationale deutsche und polnische Erinnerungsformen um die Schlacht von Tannenberg / Grunwald bis um die Wende zum 19. Jahrhundert. Er arbeitet einen klaren Gegensatz zu den nationalistischen Debatten und Kontroversen heraus, die die Zeit seit der ersten Restaurierung der Marienburg nach 1815 bis in die Volksrepublik Polen bestimmten, und stellt so die Vorstellung überzeitlicher nationaler Erinnerungsformen in Frage. Beinahe aktueller als zum Zeitpunkt ihres Abfassens ist Claudia Krafts Analyse der „Vertreibungsdebatten“, was nicht zuletzt daran liegt, dass in dem Dauerstreit um das Berliner Zentrum zur Erinnerung an die Vertreibung (der Deutschen) nationale Perspektiven in den letzten Jahren nicht an Bedeutung verloren, sondern eher noch gewonnen haben. Jan Kusber befasst sich mit dem polnisch-russischen Erinnerungsgeflecht ausgehend von dem „Wunder an der Weichsel“ im August 1920, als der sowjet-russische Vormarsch nach Westen in Warschau gestoppt wurde. Obwohl er auf die geschichtspolitischen Kontroversen um den „Tag der Nationalen Einheit Russlands“ – in Erinnerung an die Befreiung Moskaus von der polnisch-litauischen Besatzung in Jahre 1612 – wie auch auf den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 eingeht, ist Kusbers Optimismus einer polnisch-russischen Annährung noch von der Situation vor dem Absturz der Präsidentenmaschine in Smolensk 2010 geprägt. Diese Katastrophe hatte zumindest in national-konservativen Kreisen Polens einem negativen Russland-Diskurs schon vor der Annexion der Krim 2014 Auftrieb gegeben.

Vier Beiträge sind musikalischen und literarischen Aspekten der Erinnerungsgeschichte gewidmet: Peter Oliver Loew beschreibt Ignacy Paderewski als polnischen Erinnerungsort und zeigt unter anderem, wie dieser die Musik der in den Karpaten lebenden Bergbevölkerung der Góralen in Abgrenzung von einer deutschen Dominanz in der Musikkultur gleichsam polonisierte. Walter Koschmal versucht dagegen, die nationale Vereinnahmung der Musik Chopins mit einer Analyse seiner Briefe zu konterkarieren. Heinrich Olschowsky unternimmt eine detaillierte Rekonstruktion von Brechts Wahrnehmung des Hitler-Stalin-Paktes und der sowjetischen Besetzung Ostpolens. Mehr noch als die Brechtsche Ambivalenz gegenüber der Sowjetunion erstaunt die von Olschowsky skizzierte Ignoranz der deutschen Öffentlichkeit noch um das Jahr 2000. Hans-Christian Trepte gibt vor dem Hintergrund kritischer Debatten in Polen einen Überblick über Werk und Leben von Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz. Den Band beschließt ein kurzer Essay von Basil Kerski, dem Direktor des Europäischen Zentrums Solidarität in Danzig über Solidarność als europäischen Erinnerungsort, dem er mit dem von Aleksander Smolar geprägten Begriff der „Antirevolution“ beschreibt: Die Akteure hätten sich von totalitären und revolutionären Utopien der Vergangenheit abgegrenzt und so eine neue europäische politische Kultur begründet.

Das Thema Polen in der Erinnerungskultur oder polnische Erinnerungskulturen ist mit dem vorliegenden Band gewiss nicht erschöpft, namentlich einen soziologischen Beitrag vermisst man in der multidisziplinären Zusammenstellung. Den unmöglich zu erfüllenden Anspruch einer erschöpfenden Behandlung des Gegenstands erhebt der Band jedoch nicht, vielmehr enthält er einige gute Beiträge, deren Themen und Thesen auch nach dem Vorliegen der „Deutsch-Polnischen Erinnerungsorte“ nicht so schnell an Bedeutung verlieren werden. Das liegt zum einen daran, dass die Vielzahl der Erinnerungsorte erläuternde und interpretatorische Anstrengungen erfordert. Zum anderen zeigt sich seit der russischen Besetzung der Krim, dass die großen geschichtspolitischen Kontroversen um die Deutung des Zweiten Weltkriegs und um den Übergang vom zwischenstaatlichen Konflikt zur Aussöhnung eher an Bedeutung gewinnen denn verlieren werden.

Anmerkung:
1 Hans Henning Hahn, Robert Traba, Maciej Górny, Kornelia Kończal, Peter Oliver Loew (Hrsg.), Deutsch-polnische Erinnerungsorte, Band 1–5, Paderborn 2012–2015.

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