Cover
Titel
Gustav Stresemann. Biografie eines Grenzgängers


Autor(en)
Pohl, Karl Heinrich
Erschienen
Göttingen 2015: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 49,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Max Bloch, Köln

Um die Jahrtausendwende ist Gustav Stresemann bereits drei Mal Gegenstand ausführlicher biographischer Würdigung geworden: Mit Eberhard Kolb (2003), John P. Birkelund (2003) und Jonathan Wright (2002) hatten sich ein deutscher, ein amerikanischer und ein britischer Historiker des Sujets angenommen.1 Der Kieler Historiker Karl Heinrich Pohl legt nun – gut zehn Jahre später – nach und begründet das seiner Meinung nach fortbestehende Desiderat wie folgt: Kolb, Birkelund und Wright wären den von Stresemann selbst vorgegebenen biographischen Linien allzu bereitwillig gefolgt, seien somit in die „biographische Falle“ (Bourdieu) getappt und hätten ein Stresemann-Bild entworfen, das gefällig und geradlinig (auch politisch opportun), aber gerade deshalb so nicht haltbar sei. Demgegenüber will Pohl, geschult an Niklas Luhmann, Henning Luther und Pierre Bourdieu, „in eine neue Dimension biografischer Konstruktion“ vorstoßen (S. 9). So betrachtet er die chronologische Struktur der Biographie als überholt. Stattdessen wechseln sich thematische Kapitel, etwa über den Lyriker oder den Sozialpolitiker Gustav Stresemann, mit so genannten „Dichten Beschreibungen“ („Stresemann und Dresden im Jahre 1903“, „Die Politik von Locarno“) sowie Text- und Bildinterpretationen ab. Im methodischen Wechselspiel soll Multiperspektivität erzeugt und in die tiefsten Winkel vorgedrungen werden. Das klingt disparat und kopflastig. Tatsächlich liest sich das Buch aber erheblich besser, als zunächst befürchtet werden mag.

Das Grundmotiv, das Pohl wählt, ist das des „Grenzgängers“, des kleinbürgerlichen Aufsteigers, der durch Mehrung seines ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals (wiederum Bourdieu) „dazugehören“, Teil der von ihm bewunderten (groß-)bürgerlichen Lebenswelt werden und seine Herkunft vergessen machen wollte, aber nicht aus seiner Haut konnte. Das war Vorteil und Nachteil zugleich. Zum einen mögen hier die Gründe für Stresemanns meisterhaft beherrschte Netzwerk-Strategien liegen, die für seinen politischen Aufstieg und sein politisches Überleben von kaum zu überschätzender Bedeutung waren; zum anderen befand er sich ständig in der Verlegenheit, soziale oder kulturelle Schwächen kaschieren zu müssen, um anerkannt zu werden. Teilweise überstrapaziert Pohl jedoch das von ihm gewählte Motiv: Als es etwa um Stresemanns Wechsel von Dresden nach Berlin 1913 geht, waren es „nicht nur die neuen und größeren Aufgaben, die Stresemann riefen, [...] sondern der Wechsel in die Hauptstadt reizte ihn, weil er der geborene Grenzgänger war – und diesen Status, obwohl er ihn zugleich hasste, nicht missen, ihn nicht loslassen konnte. Der Wechsel hatte also möglicherweise viel mit Psychologie und seinem gestörten Selbstwert zu tun, der ihn zwischen Unsicherheit und Euphorie hin und her schwanken ließ.“ (S. 188) Dass sich ein überaus erfolgreicher Landespolitiker, obwohl er alles erreicht zu haben scheint, gleichwohl auf das Glatteis der nationalen Politik begibt, da er den Kreis seiner Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten dort weiter gezogen sieht, kommt auch in unserer Zeit noch vor und scheint dem Rezensenten zu alltäglich, um nach einer tiefenpsychologischen Begründung zu verlangen. Und der Umzug erfüllte seinen Zweck: 1913 zog Stresemann, der sein 1907 erlangtes Mandat 1912 verloren hatte, durch eine Nachwahl wieder in den Reichstag ein, dem er mit einer kurzen Unterbrechung 1918/19 bis zu seinem Tod angehören sollte.

Stresemanns Dresdener Zeit, die, wie Pohl zu Recht bemängelt, in den bisherigen Biographien nur gestreift und kaum durchdrungen wurde, kommt bei ihm zu ihrem Recht: Nach seiner Promotion über „Die Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschäfts“ 1901 wirkte der Mitzwanziger als überaus erfolgreicher Wirtschaftslobbyist in Dresden und baute den 1902 gegründeten Verein Sächsischer Industrieller (VSI) sukzessive zu einer der einflussreichsten wirtschaftspolitischen pressure groups des Reiches aus. Parallel dazu – und vielfach hiermit verquickt – muss er, indem er aus einem behäbigen Honoratiorenverein eine moderne (Wirtschafts-)Partei schuf, als der eigentliche Schöpfer des Nationalliberalismus in Sachsen gelten. Pohl geht sogar so weit, dass nach Stresemanns Einzug in den Reichstag (als jüngstes Mitglied des Hauses) von der nationalliberalen Fraktion nachgerade als einer „Filiale des VSI“ gesprochen werden könne (S. 176), wobei er die vielfältigen (und teilweise anrüchigen) Verflechtungen zwischen Stresemanns politischer und wirtschaftlicher Tätigkeit, die auch in seine Zeit als Reichskanzler und Außenminister hineinreichen, kenntnisreich aufdeckt. Im Reichstag präsentierte sich Stresemann rasch als Kronprinz und – nach dessen Tod 1917 – als Erbe des Partei- und Fraktionsvorsitzenden Ernst Bassermann. So wie der VSI recht bald mit seiner zentralen Figur Stresemann identifiziert worden war, so verkörperte er bald auch die Nationalliberale und – nach 1919 – die Deutsche Volkspartei (DVP). Wo immer Stresemann sich engagierte – bald stand er an der Spitze. Von eher unansprechender Physiognomie vermochte er Vertrauen zu schaffen und Führungsstärke zu suggerieren. Ohne Seilschaften hätte er diese politische Musterkarriere aber nicht hinlegen können, und jene für ihn so wichtigen Kontakte hatte er in Sachsen geknüpft.

Für die Zeit des Ersten Weltkriegs passt das Bild des „Grenzgängers“ vielleicht am besten: innenpolitisch ein maßvoller Versöhnungspolitiker, der eine „Volksgemeinschaft“ erstrebte, die alle zur Nation stehenden Kräfte, einschließlich der gemäßigten Sozialdemokraten, umfassen sollte; außenpolitisch ein Falke, der sich ein Deutschland in den weitgespanntesten Grenzen wünschte und der die Sachlichkeit des nüchtern rechnenden Liberalen über derartigen kolonialen Träumereien vergaß. Revolution und Niederlage wirkten da – wie bei ihm, so bei Vielen – als gewaltiger biographischer Schock, von dem er sich, ein politisches Stehaufmännchen, aber rasch erholte. Die Erzählung vom annexionistischen Saulus, der sich zum (vernunft-)republikanischen Paulus wandelte, wie sie in den bundesrepublikanischen Schulbüchern steht, weist Pohl entschieden in das Reich der wohlfeilen (Zweck-)Legenden. Dieses Narrativ sei Teil einer gezielten Inszenierung, der Pohl mit den Mitteln der biographischen Dekonstruktion zu Leibe rückt. Solch eine Deutung – Stresemann als geläuterter Musterdemokrat und Wegbereiter der europäischen Einigung – verkenne Ambivalenz und Hybridität des Charakters, die es ihm ermöglichten, als Retter der Republik gefeiert zu werden und gleichzeitig – noch als Reichskanzler und Außenminister – mit erklärten (und teilweise steckbrieflich gesuchten) Republikfeinden wie Waldemar Pabst zu verkehren. Oder, mit einer getauften Jüdin verheiratet, teilweise tief in die Mottenkiste antisemitischer Klischees zu greifen. Stresemann, so Pohls Fazit, sei anschlussfähig in verschiedenste Richtungen gewesen, und vielleicht war es gerade das, was ihn zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten des deutschen Liberalismus machte.

Zwar sind aus den Jahren nach 1923 wohl keine derart drastisch antirepublikanischen Äußerungen überliefert, wie es sie vor 1923 in Menge gibt. Aber ein Herzensrepublikaner war Stresemann, wie Pohl bereits in der Einleitung nahelegt, nie: „sein Herz schlug monarchisch, und zwar sein Leben lang“ (S. 18). Die Reichsexekution gegen Sachsen (bei gleichzeitiger Duldung der rechtsextremen Umtriebe in Bayern) und die antipolnischen Implikationen des Vertragswerks von Locarno legen in Pohls Interpretation nahe, dass es Stresemann doch in erster Linie, auch mit Hilfe der so genannten „vaterländischen“ Kreise, darum gegangen wäre, Deutschlands Großmachtstatus zu restituieren. Sozialistische oder gar kommunistische Experimente konnten da nur stören. Stresemanns 1926 mit dem Friedensnobelpreis gewürdigte Außenpolitik wäre somit nichts anderes als eine äußerst geschickte Revisionspolitik gewesen. Solche Deutungen sind nicht neu, aber sie sind ins Hintertreffen geraten, und daran will Pohl – gegen den Mainstream stehend – ankämpfen. Damit hat er möglicherweise den Startschuss für eine neue Stresemann-Diskussion gegeben, was dem zurzeit brachliegenden Themenfeld „Weimarer Republik“ insgesamt nützen würde. Mögen weitere derart engagierte und streitbare Werke folgen! (Dass Pohl ebenfalls in die „biographische Falle“ tritt, wenn er, offensichtlich Stresemann folgend, den preußischen Kultusminister Konrad Haenisch als Juden bezeichnet, was dieser nicht war, sei hier nur am Rande erwähnt.)

Anmerkung:
1 Eberhard Kolb, Gustav Stresemann, München 2003; John P. Birkelund, Gustav Stresemann. Patriot und Staatsmann. Eine Biographie, Hamburg 2003; Jonathan Wright, Gustav Stresemann. Weimar's Greatest Statesman, Oxford 2002.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch