J. Steinhauer: Religious Associations in the Post-Classical Polis

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Titel
Religious Associations in the Post-Classical Polis.


Autor(en)
Steinhauer, Julietta
Reihe
Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge 50
Erschienen
Stuttgart 2014: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
189 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benedikt Eckhardt, Abteilung Alte Geschichte, Institut für Geschichtswissenschaften, Universität Bremen

Die zahlreichen jüngeren Studien zum griechischen Vereinswesen werden mit der hier veröffentlichten Dissertation von Julietta Steinhauer durch einen ungewöhnlichen Beitrag ergänzt. Auf nur 150 Textseiten sollen antike Kultvereine als eine „novel religious form“ (S. 15) vorgestellt werden, die in der hellenistischen und römischen Zeit die Verbreitung neuer Götterkulte vereinfacht habe.

Schon ein flüchtiger Blick auf die kaum übersehbare Fülle des Materials und den breit gesteckten Untersuchungszeitraum macht deutlich, dass ein solches Vorhaben nur durch Abstraktion und einen komparativen Ansatz umsetzbar ist. Steinhauer bietet zunächst zwei umfangreichere Fallstudien zu Athen (S. 27–50) und Delos (S. 51–70), da hier besonders viel Material vorliegt. In Athen ist schon zu einem frühen Zeitpunkt die Pflege (relativ) neuer Kulte in Vereinen nachweisbar (zum Beispiel die Bendisorgeonen im späten 4. Jh. v.Chr., IG II² 1255 und andere mehr); auf Delos ist das Phänomen später belegt, da es dort in direktem Zusammenhang mit der ökonomischen Entwicklung der Insel und der Anwesenheit ausländischer Händler steht. Als Einführung und Materialvorstellung eignen sich die beiden Kapitel vor allem deshalb, weil Steinhauer konsequent auch archäologische Befunde berücksichtigt. Für Athen ist der Schluss, dass Vereinsaktivitäten in der Regel im Zentrum des städtischen Lebens stattfanden, plausibel (S. 49). Für Delos diskutiert Steinhauer die mögliche Nutzung von Heiligtümern durch Vereine; allzu oft steht allerdings das Fehlen von Inschriften einer belastbaren Schlussfolgerung entgegen. Das einzige sicher belegte Vereinshaus, das der berytischen Schiffseigner und Poseidoniasten, kommt demgegenüber zu kurz (S. 65–66), weil Steinhauer aus nicht ganz ersichtlichen Gründen diesen Verein aufgrund seiner beruflichen Interessen von den anderen Gruppen trennen möchte.

Das anschließende Kapitel testet die These einer Einführung von Kulten durch Migranten anhand von Analysen zur Mitgliederstruktur (S. 71–109). Im Zentrum stehen die Vereine für ägyptische Gottheiten (S. 74–86). Die Zahl ägyptischer Namen in den erhaltenen Mitgliederlisten ist auffällig gering; umgekehrt finden sich Fälle wie die Serapiastai in Rhamnous (SEG 41,74), die sich vollständig aus athenischen Bürgern zusammensetzten. Für die syrische Götterwelt ergibt sich derselbe Befund (S. 92–98). Gewiss kann die Onomastik auch auf Abwege führen; Ägypter und Syrer können sich hinter griechischen Namen verbergen (S. 87–88). Steinhauer bevorzugt allerdings eine andere Erklärung: Die Inschriften zeigen demnach stets einen bereits „normalisierten“ (oder „domestizierten“, S. 75) Zustand der Vereine, der erst in der zweiten oder dritten Generation eingetreten sei – die erste, durch Inschriften nicht zugängliche Generation habe noch aus Fremden bestanden. Als Modell dient dabei die berühmte Sarapisaretalogie aus Delos, die eine Kultgründung im Serapeion A durch einen ägyptischen Einwanderer beschreibt, jedoch erst von dessen Enkel verfasst wurde (RICIS 202/0101). Auch wenn hier nicht direkt von einer Vereinsgründung gesprochen wird, dürfte niemand bestreiten, dass ein solcher Vorgang im Einzelfall denkbar ist. Ob dieser ganz exzeptionelle Text aber tatsächlich dazu berechtigt, den weitgehend einheitlichen Befund der Mitgliederlisten zu marginalisieren, muss bezweifelt werden.

Es folgt eine längere Diskussion der archäologischen Kontexte, die mit dem antiken Vereinswesen in Verbindung stehen (S. 110–140). Die in den Inschriften häufig erwähnte Grabfürsorge durch Vereine wird mit den wenigen einschlägigen Befunden illustriert (S. 113–118). Das wichtige Problem, ob Vereine sich in städtischen oder privaten Heiligtümern trafen, wird nur kurz behandelt (S. 118–121). Welcher Fall häufiger war, will Steinhauer nicht entscheiden; mit Recht weist sie allerdings auf die oft vernachlässigte Möglichkeit hin, dass einzelne Vereine sich gar nicht primär in einem Heiligtum trafen (S. 137). Die anschließenden Überlegungen konzentrieren sich auf die Identifikation von „dining halls“ und ihre mögliche Verwendung durch Vereine – ein übliches Vorgehen, das allerdings unter vielen Unsicherheiten leidet und den Argumentationsgang kaum voranbringt.1

Zentral ist das letzte Kapitel zu Vereinen und städtischen Institutionen (S. 141–159). Hier wird der vergleichende Anspruch umgesetzt; neben Athen und Delos kommt noch das bis hierhin kaum berücksichtigte Rhodos hinzu. Diese Konstellation erzwingt den fast ausschließlichen Fokus auf die hellenistische Epoche; der im Titel platzierte, durchaus umstrittene Begriff der „nachklassischen Polis“ wird weder erklärt noch genutzt.2 Den Großteil des Kapitels nimmt ohnehin Athen ein. Dezidiert formuliert Steinhauer hier die bereits mehrfach angedeutete These, der Hauptzweck von Vereinen sei die Einführung und Ausübung neuer Kulte gewesen, die im Poliskult nicht „angeboten“ wurden (S. 147). Für Delos und Rhodos gilt unter teilweise anderen Voraussetzungen dasselbe. So lässt sich für Athen anhand der Orgeonen-Gruppen ein Ursprung des Vereinswesens in städtischen Organisationsstrukturen plausibel machen, für Delos dagegen nicht (der Schluss ist allerdings insofern nicht überraschend, dass die Frühgeschichte der delischen Gesellschaftsordnung völlig im Dunkeln liegt, Kontinuitäten also unmöglich zu erkennen wären). In diesem Zusammenhang wendet sich Steinhauer gegen bestehende Deutungen, die für die „religiösen Vereine“ zumindest auch wirtschaftliche und politische Interessen postulieren.3

Auf das knappe Fazit (S. 160–165) folgen zwei Anhänge: Der erste enthält dankenswerterweise archäologische Skizzen der meisten behandelten Gebäude, der zweite bietet die Paraphrase eines Aufsatzes von Gabba zur jüdischen Diaspora und (ohne erkennbaren Grund) eine Zusammenfassung des Aristeasbriefes.

Die Notwendigkeit, antike Vereine nicht nur im Detail, sondern auch als Phänomen anhand einer komparativen Methode zu beschreiben, leuchtet unmittelbar ein; hier einen Versuch gewagt zu haben, ist Steinhauers Verdienst. Die Auswahl der Fallbeispiele ist allerdings denkbar unoriginell. Gewiss wird man Steinhauers Bewertung folgen, dass für Athen, Delos und Rhodos die Quellenlage besonders günstig ist. Aus diesem Grund gibt es aber eben bereits zahlreiche Studien, die die Vereinskultur an gerade diesen Orten in teils epischer Breite untersuchen.4 Hier eigene Akzente zu setzen, ist selbst bei komparativer Herangehensweise schwierig und gelingt Steinhauer nur selten, zumal sie neueres Material, das nicht bereits in den einschlägigen Arbeiten diskutiert wird, nicht berücksichtigt.5 So lebt manche als These profilierte Argumentation letztlich davon, dass der Forschungsstand nicht akkurat wiedergegeben wird. Bereits die Einleitung (S. 15–26), in der Bruchstücke aus verschiedenen Teilbereichen althistorischer Forschung lose miteinander verknüpft werden, wirkt nicht nur erratisch, sondern weist auch kaum nachvollziehbare Lücken auf; hier wie an anderen Stellen der Arbeit wird überdies durch Auslassungen und Missverständnisse der keineswegs zutreffende Eindruck erweckt, die Beschäftigung mit dem religiösen Aspekt des antiken Vereinswesens sei an sich schon eine Neuigkeit.6

Steinhauer nimmt für ihre Arbeit abschließend in Anspruch, zwei „major contributions to the field“ geleistet zu haben (S. 163–165). Zum einen sei durch eine Betonung der Unterschiede zwischen Kultvereinen an verschiedenen Orten das Konzept „antikes Vereinswesen“ dekonstruiert: Von einem einheitlichen Phänomen könne man nicht ausgehen, und es habe auch kein antiker Beobachter ein solches Phänomen gekannt. Zum anderen sei die „religious association“ nun als Typ herausgearbeitet und in ihren Hauptfunktionen beschrieben: Sie ermögliche die Einführung von Göttern, die nicht im Poliskult vertreten seien. Davon abgesehen, dass diese Hauptergebnisse widersprüchlich wirken (ein „Vereinswesen“ gab es nicht, wohl aber „den religiösen Verein“ als Typ), sind zwei Einwände geltend zu machen: Erstens gab es sehr wohl antike Beobachter, die die verschiedenen Erscheinungsformen des Vereinswesens einer einheitlichen Kategorie zuordneten7 – und selbst, wenn das nicht so wäre, hätten moderne Forscher immer noch das Recht, die Vielfalt der Einzelphänomene einem Gesamtphänomen unterzuordnen, was ja auch Steinhauer letztlich tut. Zweitens ist die Definition des dezidiert „religiösen Vereins“, die Steinhauer gegen die in der jüngeren Forschung betonte multifunktionale Orientierung der hellenistischen Vereine profiliert, keine Neuigkeit, sondern nur die Rückkehr zu einer Taxonomie der Vereine nach ihrem vermeintlichen Hauptzweck, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts üblich war. Nicht zufällig ist die These, Vereine hätten bewusst Lücken im religiösen Angebot der Polis genutzt, so schon bei Poland zu lesen.8 Für tatsächlich von Fremden gegründete Vereine ist diese Sicht evident plausibel; die Erklärung erfasst aber eben viele andere Vereine – etwa diejenigen für Dionysos, den Poland noch für einen relativ „neuen“ Gott halten konnte – nicht. Einer umfassenden Erklärung des religiösen Vereinswesens steht die von Steinhauer gewählte Argumentation also eher im Wege.

Den Wert der Arbeit sollte man daher nicht in den benannten Ergebnissen, sondern im Versuch eines abstrakteren Zugriffs sowie in der Eignung einiger Kapitel als Materialsammlung suchen.

Anmerkungen:
1 Ausführlich dazu jetzt Inge Nielsen, Housing the Chosen. The Architectural Context of Mystery Groups and Religious Associations in the Ancient World, Turnhout 2014.
2 Kritisch zum Begriff etwa Patrice Hamon, Rezension zu Onno van Nijf / Richard Alston (Hrsg.), Political Culture in the Greek City after the Classical Age, Leuven 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 3 [15.03.2012], <http://www.sehepunkte.de/2012/03/20604.html> (26.10.2015); Pierre Fröhlich, L’épigraphie des cités grecques aux époques hellénistique et impériale et le concept de «cité post-classique», Revue des Études Anciennes 116 (2014), S. 745–760 (bes. S. 754). Die wenigen Bemerkungen zur römischen Zeit bei Steinhauer beschränken sich fast vollständig auf Athen und lassen sich auf die sehr alte These reduzieren, soziale Events hätten gegenüber der Kultausübung mit der Zeit die Überhand gewonnen.
3 Steinhauer sucht besonders die Auseinandersetzung mit Vincent Gabrielsen, The Rhodian Associations and Economic Activity, in: Zofia H. Archibald u.a. (Hrsg.), Hellenistic Economies, London/New York 2001, S. 215–244; ders., Brotherhoods of Faith and Provident Planning: The Non-public Associations of the Greek World, Mediterranean Historical Review 22 (2007), S. 183–210.
4 Athen: Nicholas F. Jones, The Associations of Classical Athens, Oxford 1999; Ilias N. Arnaoutoglou, Thusias heneka kai sunousias. Private Religious Associations in Hellenistic Athens, Athen 2003; Paulin Ismard, La cité des reseaux. Athènes et ses associations, VIe–Ier siècle av. J.-C., Paris 2010. Delos: Marie-Françoise Baslez, Recherches sur les conditions de pénétration et de diffusion des religions orientales à Delos, Paris 1977; dies., Les associations à Délos, in: Pierre Fröhlich / Patrice Hamon (Hrsg.), Groupes et associations dans les cités grecques (IIIe siècle av. J.-C.–IIe siècle apr. J.-C.), Genève 2013, S. 227–249; Nicholas Rauh, The Sacred Bonds of Commerce. Religion, Economy and Trade Society at Hellenistic Roman Delos, 166–87 B.C., Amsterdam 1993. Rhodos: Giovanni Pugliese Carratelli, Per la storia delle associazioni in Rodi antica, Annuario della Scuola Archeologica di Atene e delle Missioni Italiane in Oriente 22 (1939/40), S. 147–200; Vincent Gabrielsen (siehe Anm. 3); Luisa Benincampi, I koinà di Rodi, Diss. Trieste 2007. Auch Steinhauers kurzer Exkurs zu Kos (S. 157–158) ist nur eine Paraphrase des einschlägigen Artikels von Stéphanie Maillot, Les associations à Cos, in: Hamon / Fröhlich,Groupes et associations, S. 199–226.
5 So wäre etwa die aus Arnaoutoglou übernommene Liste S. 36 Anm. 58 zumindest durch SEG 56,203 zu ergänzen.
6 Wenige Beispiele müssen genügen. Lücken: Paul Foucart, Des associations religieuses chez les grecques. Thiases, éranes, orgéons, Paris 1873; Erich Ziebarth, Das griechische Vereinswesen, Leipzig 1896 (falsch der Hinweis auf S. 20 Anm. 21, wonach „Poland was the first one to try to investigate the Greek religious associations“); Franz Poland, Geschichte des griechischen Vereinswesens, Leipzig 1909 (zwar in der genannten Anm. erwähnt, aber im Verlauf der Arbeit dann nicht benutzt); Philip Harland, Associations, Synagogues, and Congregations. Claiming a Place in Ancient Mediterranean Society, Minneapolis 2003. Verzerrungen: Auf S. 20 Anm. 23 wird für den vermeintlich weiterhin bestehenden Primat der rechtlichen Aspekte in der Vereinsforschung auf die dritte Tagung des Copenhagen Associations Project (2014) zum Thema „Rules and Regulations“ verwiesen. Dass die zweite im Jahr 2012 das Thema „Rethinking Associations and Religion in the Post-Classical Polis“ (!) behandelt hat, wäre eine Notiz wert gewesen. Forschungen zur athenischen Religionsgeschichte haben sich laut S. 28 bisher kaum mit Vereinen beschäftigt, was mit einem Verweis auf Robert Parker, Polytheism and Society in Athens, Oxford 2005 belegt wird, der sie nur in einem Satz erwähne; in seiner einschlägigen, von Steinhauer nicht genannten Religionsgeschichte Athens (Athenian Religion. A History, Oxford 1996) hingegen findet sich eine der konzisesten Behandlungen des Vereinswesens überhaupt. Aus dem Titel von Gabrielsen, Brotherhoods of Faith (Anm. 3) zu schließen, er habe die Existenz von Frauen in Vereinen bestritten (S. 155 Anm. 45), ist bestenfalls kurios (Gabrielsen S. 186: „freely admitting as members both citizens and all categories of non-citizens – that is, foreigners, women and in some cases slaves as well“; S. 193: „The ‘associational culture’ spread vertically, both up and down the social and gender ladders, to cater for the specific needs of men and women“), was auch die vermeintliche Widerlegung entwertet.
7 An Aristoteles ist hier ebenso zu denken wie an die Entwicklungen des römischen Vereinsrechts bereits in der späten Republik. Warum Steinhauer diese offensichtlichen Anlaufpunkte ignoriert, stattdessen aber en passant für die Metamorphosen des Apuleius ein „different understanding of the matter“ in Erwägung zieht (S. 164), bleibt unklar.
8 Poland, Geschichte des griechischen Vereinswesens (Anm. 6), S. 175 (mit Kritik an den diesbezüglich noch weiter gehenden Vorstellungen von Foucart, Des associations religieuses).

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