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Titel
Nach Krieg und Judenmord. Ungarns Geschichtspolitik seit 1944


Autor(en)
Fritz, Regina
Reihe
Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert 7
Erschienen
Göttingen 2012: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ina Markova, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

Als der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann im September 2015 die ungarische Flüchtlingspolitik mit „der dunkelsten Zeit unseres Kontinents“ verglich, gingen die diplomatischen Wogen erwartungsgemäß hoch.1 Dass Gesellschaften heute ihre moralisch-ethischen Bezugspunkte zu einem großen Teil aus der Vergangenheit, speziell aus einer Orientierung am „Zivilisationsbruch Auschwitz“, beziehen, wird auch in aktuellen Krisen ersichtlich: Geschichtspolitische Argumentationsweisen wurden vereinzelt deutlich. Gerade diesem Feld der Geschichtspolitik widmet sich Regina Fritz’ Monografie „Nach Krieg und Judenmord“, bei welcher es sich um die erste umfassende Längsschnittanalyse ungarischer Geschichtspolitiken in Bezug auf den Holocaust handelt.2

Fritz zeichnet die Phasen der Aufarbeitung der Shoah seit Einrichtung der Provisorischen Regierung im Dezember 1944 bis zum Ende der Regierung Gyurcsány 2009 nach, ihr Fokus liegt auf der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1948. Vergleichsfolie für ihre Analyse ist eine schematische Periodisierung von Geschichtspolitiken, wie sie auch für andere osteuropäische Gesellschaften beschrieben wurde: Einer kurzen Phase der Beschäftigung mit dem Holocaust Ende der 1940er-Jahre sei eine Periode der Tabuisierung gefolgt, die ab den 1990er-Jahren durch Prozesse der Europäisierung bzw. Globalisierung der Erinnerung herausgefordert worden sei (S. 12f.). Fritz betont aber, dass sich Ungarn nicht nur mit dem Holocaust, sondern gleich mit drei „rechtsdiktatorischen Vergangenheiten“ auseinandersetzen musste: mit der autoritär-konservativen Regierung unter Miklós Horthy, den faschistischen Pfeilkreuzlern unter Ferenc Szálasi und mit der nationalsozialistischen Besatzungsmacht (S. 13).

Fritz gibt zu Beginn einen Abriss über diese „Vergangenheiten“ und das Schicksal der ungarischen Holocaust-Opfer. Am 19. März 1944 besetzten deutsche Truppen Ungarn, eine pro-deutsche Regierung wurde gebildet; Miklós Horthy blieb Reichsverweser. Am 14. Mai 1944 begannen die Massendeportationen ungarischer Juden und Jüdinnen. Innerhalb weniger Wochen wurden 437.400 Menschen deportiert. Der Großteil (über 320.000) wurde bereits kurz nach der Ankunft in Auschwitz-Birkenau in den Gaskammern ermordet (S. 62). Obwohl erst die deutsche Besatzung die Deportationen möglich machte, betont Fritz jedoch, dass diese ohne die Kollaboration ungarischer Behörden nicht möglich gewesen wäre. „Da die Konzentration und Deportation von mehr als 400.000 Juden binnen acht Wochen von den schwachen deutschen Kräften nicht in einem solchen Ausmaß und mit dieser Schnelligkeit durchgeführt werden konnte, musste dies in enger Zusammenarbeit mit ungarischen Stellen erfolgen.“ (S. 70) Aufgrund in- und ausländischen Drucks und der Erkenntnis, dass der Krieg verloren sei, verfügte Horthy am 9. Juli 1944 allerdings einen Deportationsstopp. Nach Erklärung eines Waffenstillstands mit der Sowjetunion wurde Horthy jedoch am 15. Oktober 1944 zur Abdankung gezwungen. Die Regierung übernahm Ferenc Szálasi, die Deportationen wurden fortgeführt (S. 64f.). Bereits im Oktober 1944 besetzte aber die Rote Armee den Osten Ungarns, die Kämpfe im Westen des Landes dauerten bis April 1945 an.

Schon kurz nach der Ernennung der Provisorischen Regierung am 22. Dezember 1944 begannen geschichtspolitische Auseinandersetzungen um Fragen des Umgangs mit der Vergangenheit. Während nach dem Zweiten Weltkrieg über die persönliche Verantwortung Horthys gestritten wurde, herrschte Einigkeit über die Schuld von Szálasi und den Pfeilkreuzlern (S. 71). Davon zeugt der im Programm der kommunistischen Moskauer Exilgruppe manifeste und, später mit kleineren Änderungen, seitens der anderen Parteien als „Programm der Nationalen Unabhängigkeitsfront“ angenommene Wille zu vergangenheitspolitischen Maßnahmen (S. 74f.). Gleichzeitig war jedoch die politische Aufmerksamkeit für den Holocaust von Anfang an durch zwei Charakteristika gekennzeichnet: „von der symbolischen Anerkennung des Verbrechens und vom weitgehenden Scheitern in der Umsetzung konkreter Maßnahmen“ (S. 107). Auf politischer Ebene kam es bald zu markanten Verschiebungen: Fritz konstatiert die Ausweitung des Opferbegriffs auf die ungarische Gesellschaft per se (was außenpolitisch auch mit der Vorbereitung der Pariser Friedenskonferenz zusammenhing, S. 114ff.). Zudem beobachtet sie eine Verquickung von Entnazifizierung mit wirtschaftlichen Umwälzungen (S. 82) sowie einen Wandel von Volksgerichten zu „einem Mittel der kommunistischen Machtausweitung und -sicherung“ (S. 205).

Dieser Umschwung ging letztlich auch mit einer Neuverhandlung der Horthy-Ära einher: Wurde bis 1946/47 die Kriegsverantwortung des Horthy-Regimes heruntergespielt, so bemühte sich die kommunistische Partei seit Ende der 1940er-Jahren immer weniger darum, die alten Eliten zu integrieren. Unter Mátyás Rákosi (1949–1956) wurde nunmehr die „Mittäterschaft des autoritär-konservativen Regimes bei Kriegsverbrechen“ akzentuiert (S. 232). Während der langen Kádár-Ära (1956–1988) setzte sich das bereits vor 1956 deutlich gewordene staatspolitische Narrativ fort, das bezüglich der Jahre 1920 bis 1945 zwischen den „in Fesseln geschlagenen Arbeitern“ und der „Staatsmacht der faschistischen Herren und Henkersknechte“ unterschied (S. 261). Keinesfalls könne aber von einer vollkommenen Tabuisierung des Holocaust gesprochen werden, so Fritz. Allerdings waren die Hauptakteur/innen des Gedenkens zu Beginn der Kádár-Ära deutlich die Überlebendenverbände, erst durch eine beginnende Liberalisierung ab den 1960er-Jahren begannen Künstler/innen und Intellektuelle tabuisierte Themen in ihren Werken aufzugreifen und so einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen (S. 272ff.).3

Nach 1989/90 kam es wiederum zu einer Neubewertung der Geschichte: Nicht nur, aber auch in Ungarn haben sich die nationalen Geschichtsbilder verschoben und den Weg für neue Mythenbildungen freigemacht. Dabei wurden, so Fritz, „Opfer“-Mythen aktualisiert und eigene Involvierungen ausgeklammert (S. 279). Da seitens der konservativen Parteien nach einem Zeitabschnitt gesucht wurde, der die nationale Einheit und Unabhängigkeit Ungarns hervorheben sollte, „wurde die Horthy-Ära romantisiert und mystifiziert, indem diesen Jahren eine sinnstiftende Bedeutung zugesprochen wurde“ (S. 282), ein Prozess, der schon in der zweiten Hälfte der Kádár-Ära begonnen hatte (S. 274). Durch die rapide Abfolge opponierender Parteien werden ab 1989/90 divergente geschichtspolitische Darstellungen sichtbar. Während Gyula Horn ab 1994 vorsichtige Schritte hin zu einer Anerkennung der Mitverantwortung des Landes für den Holocaust unternahm (S. 285), erkannte 1998 die Regierung unter Viktor Orbán die Möglichkeiten einer identitätsbildenden Geschichtspolitik (S. 286). Nach der Etablierung einer linksliberalen Regierung 2002 rückte der Holocaust im regierungspolitischen Diskurs wieder stärker in den Vordergrund (S. 294). In diese Periode fällt die Eröffnung des „Holocaust Gedenkzentrum“ 2004, das, so Fritz, „mit Blick auf das Ausland eröffnet“ wurde und deutlich im Kontext des EU-Beitritt Ungarns gesehen werden muss (S. 303).

So verschob sich die nationale Geschichtspolitik in Ungarn in Reaktion auf transnationale Erwartungshaltungen und Einflüsse auch nach 1989/90, fasst Fritz zusammen. Zahlreiche Beispiele wie das „Haus des Terrors“, die Einführung eines „Gedenktags für die Opfer des Kommunismus“ oder der schwierige Umgang mit der Mitverantwortung an der Ermordung der ungarischen Juden und Jüdinnen zeigen jedoch, dass nationale Erinnerungen und Narrative nach wie vor weiter bestehen (S. 308).

Regina Fritz’ Studie ist ein konziser Überblick über Kontinuitäten und Zäsuren im ungarischen Gedächtnis in Bezug auf den Holocaust. Basierend auf umfangreichen Archivstudien speziell zur unmittelbaren Nachkriegszeit bietet Fritz Einblicke in zentrale Weichenstellungen hinsichtlich des Wechselspiels von genuinen Bedürfnissen nach einer politischen und justiziellen Auseinandersetzung mit Verbrechen der Vergangenheit, außenpolitischen Anforderungen sowie der Rahmenbedingungen eines jähen Systembruchs. Gerade ihr Versuch, speziell trans- bzw. internationale Einflüsse auf das nationale ungarische Gedächtnis zu untersuchen, ist erhellend: Sie belegt, dass diese, meist nur ab den 1980ern angedachten Prozesse, im Falle Ungarns schon früher, etwa im Zusammenhang mit den Pariser Friedensverhandlungen, in Gang gesetzt wurden und nationale Geschichtspolitiken prägten.

Anmerkungen:
1 <http://www.spiegel.de/politik/ausland/werner-faymann-ueber-ungarn-fluechtlingspolitik-erinnert-an-holocaust-a-1052448.html> (20.10.2015).
2 Vgl. auch: Éva Kovács, Mythen und Rituale des ungarischen Systemwechsels, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 10 (1992), S. 210–237; Béla Rásky, Beredtes Schweigen. Einschreibungen ungarischer Gedächtnisse, in: Europäische Rundschau 29 (2001) 4, S. 105–114.
3 Vgl. auch: Béla Rásky, Ungarns Kriege, Ungarns Erinnerung. Vom Märtyrer zum Opfer bzw. vom Erinnerungsgebot über das Erinnerungsverbot zur Erinnerungsverweigerung, in: Siegfried Mattl u.a. (Hrsg.), Krieg. Erinnerung. Geschichtswissenschaft, Wien 2009, S. 153–170; Éva Kovács / Gerhard Seewann, Der Kampf um das Gedächtnis, in: Monika Flacke (Hrsg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Band 2, Mainz 2004, S. 817–837.

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