S. Taskenov u.a. (Hrsg.): Visionen der Zukunft um 1900

Cover
Titel
Visionen der Zukunft um 1900. Deutschland, Österreich, Russland


Herausgeber
Taskenov, Sergej; Kemper, Dirk
Reihe
Schriftenreihe des Instituts für russisch-deutsche Literatur- & Kulturbeziehungen an der RGGU Moskau
Erschienen
Paderborn 2014: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Rohkrämer, University of Lancaster

Mit der ganzen Aufregung über den 100. Jahrestag des Ersten Weltkrieges, bei dem schon fast gebetsmühlenartig betont wurde, dass dieser die Katastrophe gewesen sei, mit der das 20. Jahrhundert so richtig begonnen habe, ist es erfrischend, ein Buch in die Hand zu bekommen, das sich mit dem Epochenjahr 1900 beschäftigt. Denn tatsächlich kann argumentiert werden, dass zumindest auf sozial- und kulturgeschichtlicher Ebene der Jahrhundertwende eine größere Bedeutung zuzumessen ist. Dabei gibt es noch immer keine hinreichende Erklärung dafür, warum sich diese Zeit in so vielen Ländern zu einem Laboratorium der Moderne entwickelte, wenn nicht sogar die komplexen Mischungsverhältnisse der Jahrhundertwende darauf verweisen, dass sich Modernes und Nicht-Modernes kaum trennen lassen.1 Somit ist auch die transnationale Perspektive des Sammelbandes begrüßenswert, insbesondere der wenig praktizierte gemeinsame Blick auf Deutschland, Österreich und Russland.

Leider merkt man dem Band an, dass er aus einer Tagung hervorging (einer Tagung von 2010 am „Institut für russisch-deutsche Literatur- und Kulturbeziehungen“), und die Herausgeber scheinen sich wenig Mühe gemacht zu haben, die Beitragenden auf eine thematische Perspektive festzulegen oder die Beiträge in Beziehung zu setzen. Die Einleitung beschränkt sich darauf, die Zeit als dynamisch, vielfältig und extrem zu schildern, wobei die Visionen, das heißt im Prinzip jede Vorstellung von Zukunft, optimistisch oder apokalyptisch, modern oder traditionell ausgeprägt sein konnten. Transnationale Gemeinsamkeiten oder nationale Unterschiede werden nicht zum Thema, und es wird kein Versuch unternommen, theoretische Breschen in die phänomenologische Vielfalt zu schlagen. Auch die Kriterien für die Wahl der Themen der verschiedenen Beiträge wird nicht erklärt und blieb zumindest diesem Rezensenten verschlossen. Schließlich hatte man beim Einstieg in die Beiträge oft den Eindruck, in ein laufendes Gespräch zu platzen: Insgesamt wird wenig Mühe darauf verwandt, das Spezialwissen mit dem vorgegebenen Thema zu vermitteln. Bei der wenig verbundenen Vielfalt der Beiträge gibt es bei der Besprechung nur die Möglichkeit, den Leser über den Inhalt der verschiedenen Beiträge zu informieren.

Vergleichsweise weit gespannt sind die sprachphilosophischen Überlegungen von Tat'jana Scedrina zu Visionen in „existentialistischen Tagebüchern”. Während Tagebücher während des regelmäßigen Schreibens über das sich vollziehende Leben Ereignischarakter hätten, würde dieser mit der Publikation des Tagebuchs vernichtet.

Michael Hagemeister versucht, das Gemeinsame in drei sehr unterschiedlichen russischen Zukunftsvisionen herauszukristallisieren (wobei keine Begründung für die Auswahl gegeben wird): eine ingenieurwissenschaftliche Studie zur Erforschung des Weltraums, um einem angeblichen Untergang der Erde zu entgehen, die sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion”, die in dem angeblichen Streben der Juden nach Weltherrschaft den Antichristen am Werk sehen, und Nikolai Fedorovs Vision der Wiederherstellung einer „All-Einheit” wie vor dem Sündenfall. Sie alle, so das Argument, würden totalitäre Eingriffe in der Gegenwart rechtfertigen, um eine bessere Zukunft zu erreichen oder furchtbare Gefahren abzuwenden.

Vladimir Kantor zeigt das Fortbestehen magischer, angeblich vor-aufklärerischer Visionen um 1900 in Russland, vor allem in Jakowletwitsch Brjussows Roman „Der feurige Engel” (1908). Der Roman mag eine Faszination mit Magie und Mystik belegen, aber er ist eher ein historischer Roman über das Zeitalter der Reformation und kann auch der Phantastik zugeordnet werden. Danach zeigt Henrieke Stahl den Einfluss Rudolf Steiners auf das Geschichtsdenken von Andrej Belyjs, der auf esoterischer Grundlage „Die Geschichte des Werdens der Selbstbewusstseinsseele” aufzeigen will.

Der Wechsel zum österreichischen Kulturraum vollzieht sich mit Dietmar Goltschniggs Untersuchung des jüdischen Milieus, wo die ganze Bandbreite von Einstellungen von Zionismus und Antizionismus bis hin zu „jüdischem Selbsthass”, etwa bei Theodor Lessing, zu finden ist. Evelyne Polt-Heinzl reflektiert darüber, was an der Wiener Moderne denn überhaupt modern gewesen sei, und Clemens Peck versucht zu zeigen, dass die Wiener Moderne nicht so morbid gewesen sei, wie oft angenommen, sondern auch Utopien hervorgebracht hätte wie etwa Theodor Herzkas „Freiland” (1890), Theodor Herzls „Altneuland (1902) und Bertha von Suttners „Der Menschheit Hochgedanken” (1911).

In Deutschland verband sich mit der Sorge um die industrielle Moderne die kulturkritische Erneuerungs- und Reinigungsvision des Weltenbrandes. Damit verbindet sich Dirk Kemper zufolge eine Slawophilie nicht nur bei dem konservativen Revolutionär und Dostojewski-Übersetzer Arthur Moeller van den Bruck, sondern auch bei Thomas Mann, der noch nach 1918 an der Vorstellung von einer Verbindung zwischen Deutschland und Russland gegen den Westen festhielt. Weiterhin zeigt Aleksandr Michajlovskij auf, dass ein anderer konservativer Denker, nämlich Stefan George, die Vision einer charismatischen Erneuerungsideologie entwarf, die um Begriffe wie Bund, Orden, Dienst, Opfer und Reich kreiste.

Fern von der Politik untersucht Nina Pavlova den Begriff des Dings bei Rilke als Weg zur Schau des eigentlichen Seins, und Maria Kiseleva verfolgt das Motiv der Metamorphose in ein Insekt von Dostojewski über Kafka zu Musil. Dieses Bild verweise nicht nur auf die Position des Menschen in den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, sondern auch auf die religiöse Bildlichkeit des sündigen Insekts. Schließlich untersucht Maja Soboleva die „Erweiterung der Logik” in Teilen der Philosophie hin zu einer Wissenschaft der Kultur und ihrer Semiotik.

Es findet sich manch Interessantes und Innovatives in den Beiträgen, doch die Frage drängt sich auf, ob die Beiträge nicht eher in den passenden wissenschaftlichen Zeitschriften die geeigneten Leser erreichen würden. Erfüllt ein Sammelband nicht nur mit einer klaren Ausrichtung eine nützliche Funktion?

Anmerkung:
1 So etwa Helmut Zander, Anthroposophie in Deutschland, Bd. 1, Göttingen 2007, S. 82 f.

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