C. Steedman: Everyday Life of the English Working Class

Titel
An Everyday Life of the English Working Class. Work, Self and Sociability in the Early Nineteenth Century


Autor(en)
Steedman, Carolyn
Erschienen
Anzahl Seiten
309 S.
Preis
€ 29,09
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arne Hordt, SFB 923 "Bedrohte Ordnungen", Universität Tübingen

Carolyn Steedman, emeritierte Professorin an der Universität von Warwick (Coventry), ist eine Expertin für das Persönliche in der Geschichte. Sie hat bereits vor einigen Jahren eine Autobiographie unter dem Titel „Landscape for a Good Daughter“ vorgelegt1, in der sie ihren Werdegang als feministische Historikerin angesichts ihrer Herkunft aus der Arbeiterklasse reflektiert. In der vorliegenden Monographie arbeitet Steedman nun anhand der Tagebücher, die der Strumpfwirker Joseph Woolley (ca. 1773–1840) in den Jahren 1801 bis 1815 geführt hat2 , erneut zum Thema der Subjektbildung in der Geschichte. Wooleys persönliche Notizen sind schon für sich genommen ein historisches „Ego-Dokument“3 ersten Ranges, auch wenn sie nur in Teilen erhalten sind. Steedman kontrastiert das Tagebuch des Arbeiters zudem passagenweise mit den wesentlich kürzeren Notizen des örtlichen Gutsbesitzers und Friedensrichters Sir Gervase Clifton (1744–1815), der zwar über einen längeren Zeitraum aber dafür mit weniger Worten persönliche Gedanken zu den von ihm geleiteten Gerichtsverfahren niederschrieb.4

Beide Texte entstammen einer Zeit, die in Bezug auf die britische Geschichte nicht nur als formative Phase der Industrialisierung, sondern nach wie vor als Epoche entscheidender politischer Weichenstellungen gilt. Die Parlamentsreform von 1832 war die Geburtsstunde des neuzeitlichen politischen Systems in Großbritannien in seiner spezifischen Spielart der parlamentarischen Monarchie. Ihr ging ein unruhiges Jahrhundert voller Kriege und Reformbemühungen voraus. Damals zeichneten sich schon diejenigen Klassen- und Parteigegensätze ab, die das politische Leben auf der Insel bis heute prägen. Insbesondere die frühe Entstehung der englischen Arbeiterklasse, in Form der maschinenstürmenden Ludditen (1811–1817), und die spätere Massenbewegung des Chartismus (ab 1838) wurden und werden in der Forschung kontrovers diskutiert.5 So erlaubt Joseph Woolleys Tagebuch spannende Einsichten in diese Entwicklungen im Sinne einer politisch engagierten, aber dennoch wissenschaftlich fundierten People’s History, wie sie in Großbritannien vor allem von Raphael Samuel durch das History Workshop Movement popularisiert worden ist.6

Steedman wählt für ihren Gegenstand eine persönliche Sprechweise, die im Proseminar deutscher Universitäten zu einer schlechten Note führen würde. Sie geht von ihren eigenen Zweifeln und Fragen nach dem ethischen Verhältnis der Historikerin zu ihren historischen Protagonisten aus: „I evidently do believe myself to be on Joseph Woolley’s side. I ought to have liked him, right from the beginning. Why did I not? Was I disappointed at his not being (or not appearing to have been) a Luddite?” (S. 4) Man muss sich auf diesen Sprachduktus einlassen, will man das Buch mit Vergnügen und Gewinn lesen. Hat man einmal die schulmeisterliche Disziplin deutscher Wissenschaftssprache über Bord geworfen, so eröffnet sich damit ein erfrischender Zugang zu fundamentalen Problemen der Alltagsgeschichte, der trotz des hohen Reflexionsniveaus nie das historische Individuum aus dem Blick verliert.

Der theoretische Ansatz der Studie ist dennoch äußerst komplex und angesichts des sehr dicht geschriebenen Englisch nicht immer ganz leicht nachzuvollziehen. Im Wesentlichen benutzt Steedman zwei Zugriffe auf die ineinander verwobenen Lebenswelten Woolleys und Cliftons, einen systematischen und einen thematischen. Die sozialen Praktiken des Schreibens und der Rechtsprechung dienen ihr als Zugriff auf die Selbstentwürfe ihrer Protagonisten, die, wie der Untertitel „self and sociability“ zeigt, stets auf einen spezifischen sozialen Kontext bezogen blieben. In Woolleys Fall war dies seine Stellung als respektabler Kleinhandwerker, der zwar Bücher las, aber trotzdem mit den weniger gebildeten Kollegen und Dorfbewohnern gut zurechtkam und zurechtkommen musste. Sir Gervase Bezug zur Lebenswelt ‚seines‘ Dorfes Clifton war durch jahrelange Abwesenheiten gekennzeichnet, die es ihm erschwerten, das Dorf pflichtgemäß nicht nur als ökonomischen Besitz, sondern auch als Grundherrschaft zu pflegen. Unterhalb dieser systematischen Ebene identifiziert Steedman dann einzelne Themen, wie z.B. Familie, Sexualität und Haushaltsökonomie, in den Tagebüchern Woolleys, um daraus ein „everyday life of the English working class“ zu rekonstruieren. Die Analyse dieser lebensweltlichen Themen wird von der Autorin aber stets an die systematischen Eckpfeiler Schreiben und Recht zurückgebunden, so dass hier oft keine scharfe analytische Trennung auszumachen ist.

Das autobiographische Schreiben des Strumpfwirkers Woolley orientierte sich zwar an frühen Romanen wie Henry Fieldings „Tom Jones“ oder Samuel Richardsons „Pamela“, die er nachweislich seines Tagebuchs gelesen hatte. Trotzdem handelt es sich bei Wooleys Text nicht um die nachträglich verfasste Autobiographie eines ‚modernen‘ Subjekts, sondern um eine chronologische Sammlung von miterlebten Anekdoten mit exemplarisch-moralischem Charakter. Eine spezifische Konstellation aus Rechtsnormen, den unter Druck geratenen Handwerksbräuchen der mittelenglischen Textilbranche und der Rechtsprechung des Grundbesitzers, der zugleich Friedensrichter (Justice of the Peace, Magistrate) war, bildete den zweiten Fixpunkt in Woolleys Schreiben. Fast alle Begebenheiten, die er notierte, wurden von ihm in Kategorien der Rechtmäßigkeit beurteilt, die wiederum auf erfahrungsgesättigten Vorstellungen von formalem Recht basierten. Oft handelte es sich um sexuelles Fehlverhalten, Raufereien oder Streit um Verdienst und Eigentum, die sowieso von offizieller Seite verfolgt wurden oder durch die Beteiligten selbst vor Gericht gebracht wurden.

Die einzelnen Themen in Woolleys Schreiben bieten Steedman eine Gelegenheit, Vorannahmen über das „Everyday Life“ der Arbeiter-Handwerker im ländlichen Nottinghamshire zu dekonstruieren. So schrieb Woolley – als alleinstehender aber keineswegs zölibatärer Mann – viel über die sexuellen Aktivitäten in seinem Heimatdorf Clifton, vor allem wenn diese mit vor- und außerehelicher Sexualität einhergingen. Im England des frühen 19. Jahrhunderts war das Geschlechtsleben der unteren Schichten einerseits durch verschiedene Gesetzeswerke und andererseits durch die ökonomischen Bedingungen reglementiert. Die Kinder unverheirateter Mütter mussten nach dem Bastardy Act (1733) von der Gemeinde versorgt werden, weshalb jene ein großes Interesse daran hatte, die Väter von Kindern ausfindig zu machen. So kamen viele Eheschließungen in Clifton nur als sogenannte „knobstick weddings“ (etwa: „Knüppelhochzeit“) zustande, nachdem die werdende Mutter vor dem Gericht von Sir Gervase unter Eid den Namen des Vaters sagen musste. Der Friedensrichter konnte dem Mann dann die Eheschließung befehlen. Wie nicht anders zu erwarten, versuchten viele Männer sich diesem Prozedere durch Flucht zu entziehen oder wurden schließlich in der erzwungenen Ehe gewalttätig gegen ihre Frauen. Allerdings berichtete Woolley häufiger über solche unglückliche Ehen als über glückliche Allianzen, weil sie größeres Potential für seine moralischen Anekdoten bargen, die in diesen Fällen zudem mit anzüglichem Witz aufwarten konnten. Sexualität war für Woolley allerdings – neben Gewalt, Trunkenheit und Glücksspiel – nur ein Mittel, um den moralischen Charakter von Menschen bloßzulegen. Er hielt sie als Teil des menschlichen Lebens nicht für prinzipiell verwerflich und verachtete, da er ein treuer Anhänger der anglikanischen Staatskirche war, die Prüderie und Doppelmoral der freikirchlichen Dissenter. Tatsächlich diente Sexualität ihm und seinen Freunden sogar zu naturwissenschaftlich-metaphysischen Spekulationen. Als ein Freund ihm von einer Fehlgeburt seiner Schwägerin erzählt, bei welcher der tote Embryo als „Affe“ zur Welt gekommen sein soll, beharrt Woolley darauf: „tho it might have the resemblance of one it Cold not have the real natur of a monkey“ (S. 116). Die Strumpfwirker Mittelenglands diskutierten also im Jahr 1804 beim Feierabendbier über den Unterschied zwischen der Substanz und der Erscheinung natürlicher Phänomene. Was für ein Fund!

Steedmans Buch läuft hier wie anderswo auf eine extreme Steigerung von Komplexität anhand der verwobenen Geschichte, die sie aus den zwei untersuchten Ego-Dokumenten rekonstruiert, hinaus. Obwohl dieses Erkenntnisinteresse klar kommuniziert wird, hätte eine Zuspitzung der Darstellung zu Thesen mit übergreifender Relevanz für die Geschichte frühindustrieller Unterschichten dem Buch an einigen Stellen gut getan. Allerdings leidet die Forschung zu Textilarbeitern schon seit langem an dem Mangel eines systematischen und innovativen Zugriffs. Selbst neuere Publikationen bewegen sich zumeist in den ausgetretenen Pfaden der älteren Sozialgeschichte und aktuelle Synthesen fehlen völlig.7 Zwischen den Zeilen von Steedmans Studie steckt also eine ernstzunehmende Intervention: Ein Neuaufbruch in der Erforschung frühindustrieller Unterschichten wird nur aus der Brechung theoretischer Impulse an der historischen Individualität einzelner Menschen und ihrer subjektiven Geschichten entstehen. Die fleißige Wiederholung sicher geglaubten Wissens, dessen quantitative Vermehrung durch beliebig viele Fallstudien oder eine unbedachte Identifikation mit den historischen Protagonisten aus falsch verstandener Moral birgt dagegen keine Innovationskraft. Steedman hat somit das richtige Buch zur richtigen Zeit geschrieben. Denn sie vollzieht nicht nur nach, wie Joseph Woolley und Sir Gervase Clifton lebten, handelten und schrieben, sondern reflektiert, wie diese zwei historischen Individuen als Subjekte überhaupt erst durch ein Schreiben über ihr eigenes Leben in die Welt kamen. Dank des spannenden Gegenstands und des großen erzählerischen Talents der Autorin bietet die Studie ohnehin ein großes Leservergnügen, aber dieser Kniff in ihrer Herangehensweise macht das Werk zu einem echten Ereignis.

Anmerkungen:
1 Carolyn Steedman, Landscape for a Good Woman. A Story of Two Lives, New Brunswick N. J., 3. Auflage 1992 (1987).
2 Nottinghamshire Archives (NA), DD 311/1-6, Diaries of Joseph Wooley, framework knitter, for 1801, 1803, 1804, 1809, 1813, 1815.
3 Winfried Schulze, Ego-Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung „Ego-Dokumente“, in: Ders. (Hrsg.), Ego-Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 11–32.
4 NA M8050 (1772–1812), M8051 (1805–1810), Notebooks of Sir Gervase Clifton, JP.
5 E. P. Thompson, The Making of the English Working Class, London 1963; Gareth Stedman Jones, Rethinking Chartism, in: Ders. (Hrsg.), Languages of Class. Studies in English Working Class History 1832–1982, Cambridge 1982, S. 90–178; Jörg Neuheiser, Krone, Kirche und Verfassung. Konservatismus in den englischen Unterschichten 1815–1867, Göttingen 2010.
6 Raphael Samuel, People’s History, in: Ders. (Hrsg.), People’s History and Socialist Theory, London 1981, S. XV–XXXIX.
7 Vgl. Mary H. Blewett, Investigating Identities in within the Global Textile Workforce, in: Lex Heerma van Voss / Els Hiemstra-Kuperus / Elise van Nederveen Meerkerk (Hrsg.), The Ashgate Companion to the History of Textile Workers, 1650–2000, Farnham 2010, S. 725–747.

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