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Titel
Ausser Betrieb. Metamorphosen der Arbeit in der Schweiz


Herausgeber
Bernet, Brigitta; Tanner, Jakob
Erschienen
Zürich 2015: Limmat Verlag
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karsten Uhl, Institut für Geschichte, Technische Universität Darmstadt

Der von Brigitta Bernet und Jakob Tanner herausgegebene Sammelband „Ausser Betrieb“ ist ein weiterer Beitrag zu einer Erneuerung der Labour History, die sich schon seit einiger Zeit abzeichnet. Die Herausgeberin und der Herausgeber plädieren in ihrem konzisen einleitenden Überblick für eine „erweiterte Geschichte der Arbeit“ (S. 28). Das außerordentlich vielschichtige Themenspektrum der einzelnen Beiträge beinhaltet auch (vermeintliche) Randaspekte wie den Strafvollzug und das Verhältnis der Kunst zur Arbeit. Vor allem werden jedoch Themen, die auch schon in der sozialgeschichtlichen Arbeitergeschichte eine zentrale Stellung eingenommen hatten, wie die Gewerkschaften, die Sozialpolitik und die Geschlechterdifferenz, jeweils in mehreren Beiträgen unter verschiedenen kulturhistorischen Fragestellungen untersucht; dabei stehen zumeist diskursgeschichtliche Fragen im Vordergrund, aber auch körper- und subjekthistorische Themen spielen eine Rolle. Alle Aufsätze konzentrieren sich auf die schweizerische Geschichte des 20. Jahrhunderts, wobei der Schwerpunkt auf die Zeit nach 1945 und nicht zuletzt auf den Strukturwandel seit den 1970er-Jahren gelegt wurde, der in der Schweiz als einer besonders früh und noch in der Nachkriegszeit stark industrialisierten Gesellschaft besonders deutliche Auswirkungen zeitigte.

Der Band enthält insgesamt 17 Beiträge auf zumeist hohem Niveau; im Folgenden kann nur auf eine Auswahl eingegangen werden. Martin Lengwiler nimmt den schweizerischen Sozialstaat anhand der Sozialversicherungen in den Fokus. Lengwiler geht es wie einigen anderen Beiträger/innen unter anderem darum, aufzuzeigen, dass – wie Bernet und Tanner bereits in der Einleitung betonen – „atypische Arbeitsverhältnisse“ (S. 26) eben nicht nur in der globalen Peripherie, sondern auch in einem Kernindustrieland wie der Schweiz während des gesamten 20. Jahrhunderts häufig anzutreffen gewesen seien. Folglich kann er herausarbeiten, dass längst nicht alle gesellschaftlichen Gruppen ein Arbeitsleben gemäß der „sozialstaatlichen Normbiografie“ führen konnten (S. 80). Während sich allenfalls geringe Umverteilungseffekte feststellen ließen, habe der Sozialstaat an anderer Stelle als gemeinhin angenommen gewirkt: Bis Mitte der 1980er-Jahre habe die Rentenversicherung die Beschäftigten an den Arbeitgeber gebunden, da Arbeitsplatzwechsel zu Einbußen beim Rentenanspruch geführt hätten. Die zentrale Auswirkung der Sozialversicherungen habe in einer deutlichen Steigerung des gesellschaftlichen Stellenwertes von Arbeit gelegen. Eine gute Ergänzung zu diesem Beitrag stellt Carola Tognis sozialhistorisch fundierte Untersuchung zur Arbeitslosenversicherung dar. Togni kommt zu dem Ergebnis, dass die Vorstellung von „Normalerwerbsarbeit“ auch in diesem Bereich bestehende Hierarchien zwischen Schweizer Männern einerseits und Frauen und Migranten anderseits, die deutlich seltener diesen Versicherungsschutz fanden, weiter festigte.

Urs Germann kann in seinem Beitrag aufzeigen, inwiefern der Strafvollzug und die moderne Arbeitsgesellschaft in ihrer Entwicklung aufeinander bezogen waren. Neben dem bekannten Befund, dass das Gefängnis als Teil der Disziplinarregime im 19. Jahrhundert auf das Ziel einer „Produktion arbeitsmarktfähiger Subjekte“ (S. 183) hinwirkte, stellt Germann einige interessante Thesen zur Entwicklung im 20. Jahrhundert auf. Mit der Bewährungsstrafe seit der Jahrhundertwende habe das Konzept der Selbstnormalisierung partiell jenes der Disziplinierung ersetzt. In der aufkommenden Massenkonsumgesellschaft der Nachkriegszeit sei dann eine „Neuthematisierung der Arbeit als Strafe“ erfolgt: Gemeinnützige Arbeit sollte im Jugendstrafrecht den „Wiedergutmachungswillen“ der Delinquenten belegen (S. 197).

In einem Beitrag, der letztlich im Deskriptiven verharrt, stellt Simona Isler die in den 1970er-Jahren virulenten Debatten der Frauenbewegung über einen Hausarbeitslohn differenziert dar. Hierbei standen sich zwei Gruppen gegenüber: Während die eine in der generellen Berufstätigkeit von Frauen den einzigen Weg zur Gleichberechtigung sah, betonte die Gegenseite, die Hoffnung auf eine „Befreiung durch Arbeit“ sei ein Mythos, weil dabei unterschlagen werde, dass es sich häufig um schlecht bezahlte, unqualifizierte Tätigkeiten handeln würde. Ebenfalls in den 1970er-Jahren erlebte die Diskussion um Betriebssport und Bewegungspausen einen Höhepunkt. Nikolaus Ingold und Flurin Condrau sehen in dieser Entwicklung eine „neuartige Politisierung der Gesundheit“ (S. 290) – an die Stelle einer vormals überindividuellen Unfallgefahr sei nun ein jeweils individuelles gesundheitliches Risiko getreten. Ingold und Condrau betrachten den Betriebssport in diesem Zusammenhang als Körpertechnik und stellen damit eine äußerst fruchtbare Verbindung zwischen der Körpergeschichte und der Geschichte der Arbeit her.

Christian Kollers Untersuchung zu Streikdiskursen gelingt es, über eine kulturgeschichtliche Verschiebung der Fragestellung neue Erkenntnisse für die Gewerkschaftsgeschichte hervorzubringen. Durch diesen Ansatz lässt sich in den Arbeitskämpfen um 1900 eine „semantische Vorbereitung des Wandels von konfliktiven Arbeitsbeziehungen zum sozialpartnerschaftlichen Modell“ erkennen (S. 253). Bei allen Auseinandersetzungen einte beide Seiten ein positiver Begriff von Arbeit, der sich so als gesellschaftlicher Wert im 20. Jahrhundert etablieren konnte. Einen anderen Zugriff zur Gewerkschaftsgeschichte wählen Nicole Peter und Anja Sutter mit der Oral History. Anhand von Interviews mit Gewerkschaftsfunktionären und -funktionärinnen konstatieren sie verschiedene Formen der Verlusterfahrung, die die Interviewten während des Wandels in der Arbeitswelt zwischen 1970 und 2000 erfuhren. Aus Funktionärssicht besonders einschneidend waren Veränderungen in der Organisation (Zusammenlegung kleinerer Gewerkschaften), für die Geschichte der Arbeit generell ist hingegen ein anderer Befund von besonderem Interesse: Die Umgestaltungen im Firmenmanagement, insbesondere die Ablösung der alten Patriarchen, wurden von den Interviewten als der Verlust eines Miteinanders auf Augenhöhe bewertet. Eine solche rückwirkende Charakterisierung des Unternehmerpaternalismus als „partnerschaftlich“ (S. 326) überrascht durchaus; weitere Untersuchungen zu dieser Frage auf breiterer Quellenbasis erscheinen reizvoll.

Mit Marcel van der Linden konnte eine der wichtigsten Stimmen der Labour History für das kurze Schlusswort des Bandes gewonnen werden. Sein Plädoyer für eine Geschichte der Arbeit in der Erweiterung wurde von den Beiträgen des Sammelbandes überzeugend umgesetzt. Als Protagonist der transnationalen Arbeitergeschichte betont van der Linden zu Recht, dass „irreguläre Beschäftigungsverhältnisse im Weltkapitalismus ‚normal’“ sind (S. 336). Hierin liegt ein wesentliches Verdienst des anregenden und ausgesprochen schön gestalteten Sammelbandes: Die Beiträger/innen überwinden eine Beschränkung auf das vermeintliche Normalarbeitsverhältnis und nehmen die Bedeutung der Arbeit jenseits der Betriebsperspektive in den Blick. In diesem Sinne zeigt sich, dass die transnationale und globalgeschichtliche Forschung wichtige Anregungen auch für Untersuchungen bereithält, die sich im nationalen Rahmen bewegen. Wie Bernet und Tanner in der Einleitung betonen, darf bei der Ausweitung der Geschichte der Arbeit auf Bereiche außerhalb des Betriebes jedoch nicht übersehen werden, dass der industrielle Betrieb als Konzept und soziale Realität und, damit verknüpft, eine „massenhafte Proletarisierung“ in globaler Perspektive am Ende des 20. Jahrhunderts keineswegs verschwunden sind, sondern eine „ausgeprägte Konjunktur“ durchlaufen (S. 33).