S. Dornheim: Der Pfarrer als Arbeiter am Gedächtnis

Cover
Titel
Der Pfarrer als Arbeiter am Gedächtnis. Lutherische Erinnerungskultur in der Frühen Neuzeit zwischen Religion und sozialer Kohäsion


Autor(en)
Dornheim, Stefan
Reihe
Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 40
Erschienen
Anzahl Seiten
323 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Petersen-Deuper, Braunschweig

Der etwas sperrige Obertitel lässt zunächst nur erahnen, welche Forschungsabsichten in dem vorliegenden Buch ihren Niederschlag gefunden haben, und wird auch im weiteren Verlauf nicht begründet. Die weitere Lektüre zeigt, worum es geht: Der Verfasser möchte, ausgehend von der in evangelischen Pfarrhäusern gepflegten Erinnerungskultur (deren Spezifika allerdings nur knapp entfaltet werden), andere als gedruckte und handschriftliche Quellen heranziehen, um zu zeigen, wie bestimmte biographische Ereignisse (Sterbefälle, Amts-, akademische und Ehejubiläen) in der Frühen Neuzeit im Kontext lutherischer Kirchlichkeit begangen wurden und Pfarrer spezifische Verantwortung für das kulturelle Gedächtnis ihrer Gemeinde übernahmen (Pfarrarchiv, Jahreswechsel, Zeitkapseln). Dabei zieht er neben Predigten Epitaphien, Kirchenbücher, Neujahrsblätter sowie Grundstein- und Turmknopfdokumente heran. Eine bunte Sammlung, die reichlich Anhaltspunkte für weitere Forschungen bietet.

Die Arbeit entstand im Sonderforschungsbereich „Transzendenz und Gemeinsinn“, Teilprojekt „Gemeinsinnsdiskurse und religiöse Prägung zwischen Spätaufklärung und Vormärz“ und wurde im Winter 2010/11 von der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden als Dissertation angenommen. Ihre Herkunft aus dem Bereich der Allgemeinen (bzw. hier: Sächsischen Landes-) Geschichte kann sie nicht verbergen, sodass der kirchengeschichtlich interessierte Leser mitunter theologische Feinheiten, exegetische Sensibilität wie auch im engeren Sinne kirchenhistorische Literatur vermisst und in normativen Abschnitten das katholische Lehramt und dessen Sprachgebrauch Übergewicht bekommen, wo lutherische Argumentation notwendig gewesen wäre.1 Wünschenswert wäre zudem eine Einordnung der theologischen Amtsträger in die theologischen Strömungen der Zeit um 1700 gewesen, so schwierig die Abgrenzung auch sein mag.

Die Ausführungen setzen im Anschluss an die beschriebene Darstellung des Forschungsvorhabens mit knappen Erwägungen „Zur besonderen Rolle von Tradition und Erinnerung im Luthertum“ (S. 20) ein. Sie hätten differenzierter ausfallen können, indem etwa stärker auf die historische Bedeutung des lutherischen Pfarrhauses als Ort kollektiver Erinnerung eines sozial eng umgrenzten Gefüges eingegangen worden wäre. Darauf folgen umfangreiche Abhandlungen zur Totenmemoria (S. 35). Sie zeigen, dass neben den in der Forschung häufig thematisierten Leichenpredigten auch andere Formen des Gedächtnisses die lutherische Sterbekultur im 16. und 17. Jahrhundert prägen. Dies ist wichtig zu betonen ist; als Fallbeispiel wählt Dornheim allerdings doch eine Predigt. Die Darstellung im ersten wie in den folgenden Hauptteilen liest sich instruktiv und ist gut recherchiert; dies gilt etwa für das Kapitel „Wandel der Erinnerungskultur im 16. Jahrhundert“, wo der Verfasser auf die Marginalisierung des Todes im Luthertum und die – dazu leicht konträre – Flut an gedruckten Leichenpredigten, die auf Luthers Predigt auf den Tod Friedrichs des Weisen zurückzuführen sind, eingeht. Auch die These einer Regionalisierung der Reformation (S. 42) erscheint in diesem Zusammenhang wichtig.

Sehr selten wurden in der Forschung bisher Texte zur personalen Jubiläumskultur (hier: Ehe- und Amtsjubiläen, S. 55) berücksichtigt, und zu Recht weist der Verfasser darauf hin, dass in der Regel Leichenpredigten im Mittelpunkt des Interesses der Historiker standen und die Konzentration auf Jubiläumsschriften seine eigene Idee darstellt (S. 64). So sind die Ausführungen über die Amtsjubiläen und die Etablierung einer Ehejubiläumskultur im deutschen Protestantismus als innovative Abschnitte zu kennzeichnen. Diese können sich nicht auf eine vor-evangelische Tradition berufen, sondern sind Neuschöpfungen einer intellektuellen (bürgerlichen) Elite im konfessionellen Zeitalter. Es folgt ein Abschnitt zur Pfarramtschronistik (S. 25), die nach Dornheim auch eine Erfindung des Protestantismus ist. So instruktiv wie interessant lesen sich die folgenden Überlegungen zum Kirchenbuchwesen des 17. Jahrhunderts. Sie gipfeln in der plausiblen Schlussfolgerung, dass Kirchenbücher „durchaus den Charakter eines Selbstzeugnisses der Pfarrer“ (S. 150) hätten.

Die zur zentralen Quelle des vierten Abschnitts, der von der kirchlichen Begehung des Jahreswechsels handelt (S. 40), gewählten Neujahrsblätter stellen für den Rezensenten, was ihre Auswertung als historische Quelle angeht, ein Novum dar. Sie gingen aus dem Brauch hervor, zum Neuen Jahr Gedichte als Glückwünsche zu verschicken. Im 18. Jahrhundert entwickelten sie sich zu einer literarischen Form, die Beiträge zu ganz verschiedenen Themen beinhalten konnte – etwa zu Fragen der Umwelt (Stadtbrände, Überschwemmungen), zu Kriegsnot und Lebensmittelknappheit sowie zur Geschichte einzelner Kirchen und ihres Inventars, das teils heute nicht mehr vorhanden ist. Der Verfasser stellt Neujahrsblätter aus Görlitz aus der Zeit von 1721 bis 1832 in den Mittelpunkt seiner sehr lesenswerten Überlegungen, die auf eine systematische Auswertung der Quellengattung dringen.

Besonders gelungen erscheinen dem Rezensenten die letzten vorgestellten Quellenanalysen: Zeitkapseln (S. 55). Grundsteinlegungen und Turmknopffeste wurden bislang kaum berücksichtigt, bieten aber doch aufschlussreiche Einblicke in die städtische und ländliche Erinnerungskultur. Richtigerweise wird auf die Zurückhaltung der Reformation gegenüber der Konsekration von Gebäuden und gegenüber astrologischen Überlegungen zum Zeitpunkt der Grundsteinlegung hingewiesen (S. 228). Als Quellen bieten Turmknöpfe und Grundsteine wiederum interessante neue Ansatzpunkte: Sie reichen von religiösen, politischen oder ökonomischen Gegebenheiten vor Ort zum Zeitpunkt ihrer Herstellung (sie können sich auf die weltliche Obrigkeit, Geistlichkeit oder auch die Getreidepreise beziehen) bis hin zu der Frage, wie in evangelischer Zeit mit Überresten des vorreformatorischen Inventars umgegangen wird: Beispielsweise archiviert die lutherische Gemeinde Leubnitz bei Dresden im Jahre 1666 fein säuberlich im Turmknopf hinterlegte Reliquien von 1536 (vor Einführung der Reformation am Ort) und sogar eine gegen die „lutherische Ketzerei“ wetternde Inschrift.

Auf zwölf Seiten fasst der Autor seine Überlegungen mit Bezug auf die in der Einleitung skizzierten Fragen zusammen. Auch hier ist die Rede vom „frühneuzeitliche[n] evangelische[n] Pfarrhaus“ (S. 255) als Gegenstand seiner Analysen, eine Zuordnung, die der Rezensent nicht schwerpunktmäßig wiederfinden kann. Zur Methodik der Studie seien abschließend folgende Überlegungen angestellt: Die Auswahl der Orte und Zeiten erscheint inkonsistent; der Verfasser springt zwischen Thüringen und Sachsen bis nach Franken und einmal sogar ins Hanseatische (S. 240) und vom ausgehenden 16. bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Vergleichbarkeit der Einzelanalysen ist, so lesenswert sie für sich genommen sind, nur bedingt gegeben. Eine einzige Leichenpredigt auf einen Landadeligen – ein schon intensiv beackertes Feld – aus Kolba von 1613 ist wohl kaum per se als „exemplarisch“ einzuschätzen (S. 69; der Bezug zu Polykarp Leyser [S. 211] erscheint dagegen aufgrund von dessen Wirkmächtigkeit sinnvoller). Die Apostrophierung eines Amtsjubiläums als „typisch“ (S. 85) bedürfte der näheren Begründung auf der Basis einer breiteren Quellenauswahl, ebenso des akademischen Jubiläums (S. 101) und der zwei sehr unterschiedlichen Ehejubiläen (S. 119), bei denen auch nicht deutlich wird, aus welcher Grundmenge an entsprechenden gedruckten Predigten die Auswahl erfolgt ist. Insgesamt würde der Vergleich mit anderen Predigten der Frühen Neuzeit ergeben, dass manches (etwa der Beweis der Gelehrsamkeit des Predigenden [S. 123] oder die übereinstimmende rhetorische Strukturierung der Texte [S. 131]) weniger außergewöhnlich ist als angenommen. Auch die Identität von gesprochener Predigt und gedrucktem Text wird nicht infrage gestellt (S. 72).

Dennoch kann dem Verfasser dazu gratuliert werden, in der Tat „wissenschaftliche[s] Neuland“ vermessen und kartiert (S. 256; S. 266) zu haben. Dornheim gelingt es, erstmals eine besondere Quellenauswahl fruchtbar zu machen für die Darstellung einer Kirchengeschichte „vor Ort“. Lohnenswert wären im Anschluss daran eine breitere Berücksichtigung einzelner Quellenarten über Einzelfälle hinaus sowie der konfessionelle Vergleich. Dem Verfasser ist dafür zu danken, der Forschung einen Anhaltspunkt für neue Quellen geliefert zu haben, die abseits von teils ausgetretenen Wegen liegen.

Anmerkung:
1 So ist etwa der evangelische Gottesdienst gerade keine Gedächtnisfeier und keine „symbolische Wiederholung“ (S. 25), da erstens das Abendmahl neben der Predigt nur einen von zwei Höhepunkten der Liturgie darstellt und zweitens das evangelische Sakramentsverständnis jeden Opfergedanken ablehnt, also auch nichts wiederholt werden kann, wie es der römische Messkanon darstellt. Auch der Bezug auf Platon erscheint weit hergeholt (S. 28) und die Bezeichnung „Priester“ für den evangelischen (titelgebenden) Pfarrer (S. 86 u.a.) erklärungsbedürftig. Es ließ sich trotz intensiver Suche nicht ermitteln, welche Bibelausgabe der Verfasser zitiert (etwa S. 81), sofern er die Stellen nicht direkt seinen Quellen entnimmt. Darüber hinaus sind die biblischen Bezüge oft nicht richtig - z.B. „1. Thessalonikerbrief“ (S. 65), „1. Timothäer“ (S. 81), „Timotheus“ (S. 209) oder historisch unscharf („Mose“ [S. 81 u.a.], „Sirach“ [S. 82]). Auch verkennt der Verfasser etwa, dass Psalm 126 („Die mit Tränen säen ...“) kaum individuell auf einen einzelnen Verstorbenen hin ausgelegt wird, sondern eine häufig verwendete und immer wieder ähnlich ausgelegte Perikope darstellt (S. 71). Es wäre in diesem Zusammenhang ebenfalls zu fragen, ob das „selige Sterben“ nicht eher ein Indiz für den Glauben des Verstorbenen darstellt und weniger eine Aufgabe für ihn – folglich wäre doch ein Bruch zu mittelalterlichen Vorstellungen zu konstatieren (S. 77).

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension