J. Sköld u.a. (Hrsg.): Abuse of Children in 'Care'

Titel
Apologies and the Legacy of Abuse of Children in 'Care'. International Perspectives


Herausgeber
Sköld, Johanna; Shurlee Swain
Reihe
Palgrave Studies in the History of Childhood
Erschienen
Basingstoke 2015: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 86,11
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Sonja Matter, Historisches Institut, Universität Bern

Seit den 1990er-Jahren avancierte die Geschichte von fremdplatzierten Kindern in zahlreichen westlichen Ländern zu einem Politikum: Die traumatischen Erfahrungen und Misshandlungen, die Menschen vielfach im Rahmen ihrer Fremdplatzierung in Kinderheimen oder Pflegefamilien erlebt hatten, sollten nicht mehr länger verschwiegen werden. Verschiedene Staaten, aber auch kirchliche und private Institutionen setzten Kommissionen ein, die die Fremdplatzierung in historischer Perspektive aufarbeiteten. Zahlreiche Forschungsprojekte laufen noch oder werden neu initiiert. Gleichwohl ist der Zeitpunkt reif, in einer international vergleichenden Perspektive die politischen und wissenschaftlichen Implikationen zu reflektieren, die mit Forderungen einer „transitional justice“ im Bereich der Verletzung von Kinderrechten verbunden sind. Der von den Historikerinnen Johanna Sköld und Shurlee Swain herausgegebene Sammelband kommt denn auch einem großen Forschungsdesirat nach. Zwar erschienen in den letzten Jahren mehrere Publikationen, die das Thema der „transitional justice“ aus einer inter- und transnationalen Perspektive untersuchten.1 International vergleichende Studien, die sich auf die Aufarbeitung von Kinderrechtsverletzungen im Kontext von Fremdplatzierungen beziehen, fehlen hingegen noch weitgehend.

Ausgangspunkt des Sammelbands war ein 2011 in New York durchgeführtes internationales und interdisziplinäres Kolloquium. Aus diesem ging das „International Network on Studies of Inquiries into Child Abuse, Politics of Apology and Historical Representation of Children in Out-of-Home Care“ hervor.2 Der Sammelband, der weitgehend auf Arbeiten der Mitglieder dieses Netzwerkes basiert, ist in drei Teile gegliedert. Der erste zielt darauf hin, die Forschungsarbeiten zu Verletzungen von Kinderrechten im größeren Forschungskontext der „transitional justice“ zu situieren. Wie Johanna Sköld mit Blick auf die letzten 25 Jahre aufzeigt, sind die nationalen Aufarbeitungsprojekte nur im Kontext einer internationalen – aber primär westlichen – Bewegung zu verstehen: Die Debatten um Kinderrechtsverletzungen wurden in zahlreichen Ländern durch vergleichbare Diskussionen in anderen Staaten angestoßen. Dabei setzte sich ein bestimmtes Muster durch: Die Aufarbeitung wird durch eine offizielle Untersuchung vorgenommen, beinhaltet oft eine offizielle Entschuldigung und mündet teilweise in finanzielle Entschädigungsleistungen. Verschiedene historische Konstellationen waren Voraussetzung für diese internationale Bewegung: Shurlee Swain betont die Bedeutung der Frauenbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre, die auf die Problematik von Kindesmisshandlungen überhaupt erst aufmerksam gemacht hat; Kjersti Ericsson weist auf die Bedeutung der 1989 verabschiedeten UN „Convention on the Rights of Children“ (UNCRC) hin, die ein neues Verständnis von Kinderrechten förderte, und Malin Arvidsson hebt hervor, dass Forderungen, Kinderrechtsverletzungen im Rahmen von Fürsorgemaßnahmen aufzuarbeiten, just in dem Moment aufkamen, als der Wohlfahrtsstaat neu diskutiert und vielfach als „krisenhaft“ wahrgenommen wurde. Im Prozess der „transitional justice“ orten die Autoren und Autorinnen verschiedene Probleme. Dezidiert weist etwa Carol Brennan darauf hin, dass die Untersuchungen vielfach den Bedürfnisse der Opfer/Überlebenden von Misshandlungen nicht gerecht würden. Insbesondere wenn die Untersuchungen auch therapeutische Zielsetzungen verfolgten, wie das etwa in Irland der Fall war, müssten fundamentale ethische Prinzipien der Therapie sorgfältiger berücksichtigt werden. So gelte es in jedem Fall, eine „Einwilligung nach erfolgter Aufklärung“ (informed consent) von Betroffenen einzuholen.

Der zweite Teil des Sammelbandes fokussiert die nationalen Besonderheiten und diskutiert die Aufarbeitungsprozesse in Regionen, die bislang international wenig Beachtung fanden, so unter anderem Norwegen, die Niederlande, Schottland und Dänemark. Wie letzteres Beispiel zeigt, gingen auch von kleineren Ländern wichtige Impulse für die Erforschung von Kinderrechtsverletzungen aus: Dänemark war einer der ersten Staaten, die die Anwendung psychopharmazeutischer Medikamente an Kindern und Jugendlichen in Heimen untersuchten. Zudem gingen die Forschenden des „Welfare Museum of Svenborg“ in ihrer Forschung zu dänischen Kinderheimen neue Wege. Wie Maria Rytter und Jacob Knage Rasmussen aufzeigen, bezogen sie sich nicht nur auf Archivquellen, Fotografien und Interviews mit ehemals fremdplatzierten Kindern, sondern auch auf Objekte. Solche Objekte – große Bekanntheit erhielt etwa ein Gymnastikpferd – wurden einerseits zu wichtigen Beweismitteln, da dank forensischer Analysen eindeutig auf Blutspuren und damit auf massive körperliche Misshandlungen geschlossen werden konnte. Andererseits kommt Objekten eine große Symbolkraft zu, um auf das Leiden der Opfer von Misshandlungen aufmerksam zu machen.

Der letzte Teil setzt sich mit den verschiedenen professionellen Gruppierungen auseinander, die in Aufarbeitungsprozessen zur Misshandlung von fremdplatzierten Kindern involviert sind: Historiker, Archivarinnen und Sozialarbeitende. Nell Musgrove fokussiert auf die Historiker und Historikerinnen und problematisiert, dass diese in historischen Auftragsforschungen zu Verletzungen von Kinderrechten mindestens zwischen drei Ansprüchen zu navigieren haben: Zwischen ihrem eigenen Professions- und Wissenschaftsverständnis, den Ansprüchen der Auftraggebenden und denen der ehemals Fremdplatzierten. Zudem würden die vielfach eng gesteckten Zeiträume es erschweren, nach der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung gegenüber praktizierten Kindesmisshandlungen zu fragen und Kontinuitäten bis zur Gegenwart aufzuzeigen. Auf eine für Archivare und Historikerinnen weitere zentrale Problematik machen auch Johanna Sköld und Åsa Jensen aufmerksam: Die Erzählungen der ehemals fremdplatzierten Personen und die Narrationen der archivierten Fallakten sind häufig widersprüchlich und ergänzend zugleich. Historiker und Historikerinnen, die eigentlich längst nicht mehr im Sinne Rankes herauszufinden versuchen, „wie es wirklich gewesen ist“, geraten indes unter Umständen bei der Prüfung von finanziellen Entschädigungsberechtigungen in die Position, an der Klärung genau dieser Frage mitwirken zu müssen. Sollen Archivarinnen und Historiker in Entschädigungsprozessen einen fundierten Beitrag leisten, gilt es von der Prüfung einzelner Fallakten abzuweichen und einen mehr historisch-kontextualisierenden Ansatz zu verfolgen. Auch im Beitrag von Shurlee Swain werden für die Geschichtswissenschaft zentrale Aspekte angeschnitten: Kritisch diskutiert sie, dass Forschende, die Interviews mit Opfern von Misshandlungen führen, sich intensiver mit dem Problem der indirekten Traumatisierung beschäftigen müssen.

Der vorliegende Sammelband ist für alle – seien es Historikerinnen, Sozialarbeiter, Juristinnen, Aktivisten oder Politikerinnen – die in die Aufarbeitung von Misshandlungen fremdplatzierter Kinder involviert sind oder sich mit Fragen rund um Entschuldigungen und Entschädigungen im Bereich der Zwangsfürsorge beschäftigen, ein unabdingbares Referenzwerk. Der Fokus des vorliegenden Sammelbandes umfasst indes nicht sämtliche Regionen, in denen vergleichbare Prozesse der „transitional justice“ stattgefunden haben, sondern beschränkt sich auf Australien, Kanada, Dänemark, Irland, die Niederlande, Norwegen, Schottland und Schweden. Zweifelsohne hätte es den Rahmen des Sammelbandes gesprengt, einen umfassenden Überblick zu liefern. Gleichwohl hätte man sich zumindest in der Einleitung einige Hinweise auf Regionen und Staaten gewünscht, die durch keine Beiträge abgedeckt werden. Welche Rolle nimmt die USA, die sich im 20. Jahrhundert vielfach als internationales Vorbild der Kinderfürsorge zu positionieren suchte, bei der internationalen Aufarbeitung von Kinderrechtsverletzungen im Rahmen der Fremdplatzierung ein? Wie sahen Transferprozesse zwischen dem englischen und deutschen Sprachraum aus? Wie wirkten sich die Forschungsergebnisse zu den massiven Kinderrechtsverletzungen, welche die katholische Kirche in Irland praktizierte, auf die gesellschaftspolitischen Debatten in anderen katholische Ländern etwa des europäischen Südens oder auch ehemaliger Kolonialstaaten aus, in denen die katholische Kirche Kinderheime unterhielt? Der Sammelband liefert auf diese und ähnliche Fragen keine Antworten. Er zeigt hingegen anhand der ausgewählten Regionen auf, wie fruchtbar eine international vergleichende Perspektive auf Prozesse der „transitional justice“ für die weitere Aufarbeitung von historischem Unrecht an fremdplatzierten Kindern ist. Eine solche Perspektive schärft das Bewusstsein für die komplexen Anforderungen, die mit der Aufarbeitung von Kindesmisshandlungen im fürsorgerischen Kontext einhergehen und zeigt Wege auf, wie die Normen der Kinderrechtskonvention – die sich an den drei Prinzipien des Schutzes, der Fürsorge und Teilhabe orientieren – zukünftig besser umgesetzt werden können.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Elazar Barkan, The Guilt of Nations. Restitution and Negotiating Historical Injustices, Baltimore 2001; Mark Gibney u.a. (Hrsg.), The Age of Apology. Facing up the Past, Philadelphia 2008.
2 Das Netzwerk wurde finanziell vom „Swedish Council for Working Life and Social Research“ unterstützt (S. 2).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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