G. Eckert u.a. (Hrsg.): Die Presse in der Julikrise 1914

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Titel
Die Presse in der Julikrise 1914. Die internationale Berichterstattung und der Weg in den Ersten Weltkrieg


Herausgeber
Eckert, Georg; Geiss, Peter; Karsten, Arne
Erschienen
Münster 2014: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
271 S.
Preis
€ 14,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrick Merziger, Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft, Universität Leipzig

Die Frage, ob und in welchem Maß die Presse zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges beigetragen hat, trieb schon die Zeitgenossen um. Der Vorwurf lautete, die Journalisten hätten, statt sachliche und ausgewogene Information zu liefern, vor allem die spektakulären Überschriften gesucht und damit Konflikte verschärft und Panik geschürt. Im Deutschen Reich sah man im Hinweis auf die Rolle der Presse eine Möglichkeit, sich von den schwerwiegenden Vorwürfen, den Krieg durch eine aggressive Außenpolitik verursacht zu haben, freizusprechen. Plausibilität gewann das Argument, da es auf ein verbreitetes konservatives Unbehagen setzen konnte, das in der Massenpresse eine Bedrohung der Kulturnation entdecken wollte. Christopher Clark hat nun mit seinem Band „Die Schlafwandler“ die traditionsreiche These wieder in die Diskussion eingebracht, dass die Journalisten zu den gegenseitigen fatalen Fehlwahrnehmungen im Vorfeld des Ersten Weltkrieges beigetragen hätten. Studien zur Pressegeschichte und Öffentlichkeit hatten hingegen mehrfach betont, dass für den Leser der „seriösen“ Tageszeitungen in Frankreich, Russland, Großbritannien und Deutschland der Erste Weltkrieg doch sehr überraschend gekommen sein muss. Er falle in eine Ruhephase an der „Pressefront“, und Kriegshetzerei sei in den Quellen nicht zu finden.1

Georg Eckert, Peter Geiss und Arne Karsten haben einige Autorinnen und Autoren zusammengerufen, um sich der Frage nach dem Anteil, den die internationale Presse bei der Auslösung des Ersten Weltkrieges spielte, noch einmal anzunehmen. Neben Österreich, dem Deutschen Reich, Frankreich, Großbritannien und den USA verspricht der Band auch die Presse der Schweiz, Russlands und des Osmanischen Reichs in den Blick zu nehmen und sich damit dem Charakter des Krieges als Weltkrieg anzunähern. Die Autorinnen und Autoren beschränken sich bei ihren Analysen auf die Zeit zwischen dem Attentat von Sarajevo und den ersten Kriegswochen im August.

Diese Beschränkung macht den Band lesenswert, da hier der Vorwurf an viele Sammelbände, eine Buchbindersynthese zu einem möglichst unverbindlichen Thema zu sein, nicht trifft. Im Gegenteil stehen die Artikel durch die Beschränkung in enger Beziehung zu einander. Es zeigt sich, dass die Journalisten die ausländischen Publikationen intensiv beobachteten. So vermerkte etwa die „New York Times“ das große Presseecho, das ihr Aufruf „For the German People, Peace with Freedom“ (15.12.1914) auf dem Kontinent fand. Sie zitierte stolz die Einschätzung britischer Zeitungen, dass auch die deutsche Presse, zumindest aber der sozialdemokratische „Vorwärts“ sich den Argumenten nicht entziehen könne. Vor dem Ersten Weltkrieg war in der Wahrnehmung der Zeitgenossen offenbar tatsächlich ein europäischer und transatlantischer Kommunikationsraum entstanden, der seitdem in dieser Selbstverständlichkeit und Intensität wohl nicht wieder erreicht wurde.

Durch die engen thematischen und zeitlichen Vorgaben treten auch die methodischen Unterschiede deutlich hervor. Einzelne Autorinnen und Autoren liefern weitgreifende Analysen der Presselandschaft, die Positionen von links bis rechts erfassen. Alma Hannig schließt auch noch populäre Presseprodukte mit ein und zeigt, dass in Wien scheinbar unpolitische Blätter entscheidend für die Prägung von Stimmungen waren. Eine ganze Reihe der Artikel beschränkt sich aber auf die Analyse einer oder weniger Tageszeitungen. Georg Eckert führt am Beispiel der Londoner „Times“ vor, dass man durchaus zu validen Ergebnissen gelangt, wenn man die Zeitung sorgfältig in die Presselandschaft einordnet und sich intensiv mit Themenkarrieren und der Platzierung von Artikeln auseinandersetzt. Sabine Mangold-Will will hingegen „die Öffentlichkeit“ des Osmanischen Reiches durch die Analyse des deutschsprachigen Osmanischen Lloyds erschließen, den das Auswärtige Amt initiierte und den deutsche Unternehmen finanzierten.

In der europäischen Öffentlichkeit der Qualitätszeitungen ist tatsächlich kaum Kriegshetze im engeren Sinn zu finden. Die Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand und seiner Frau schlug zunächst keine größeren Wellen. Andere Themen, die Liebesabenteuer in der französischen Caillaux-Affäre und die Auseinandersetzung um die „home rule“, also um die Selbstverwaltung Irlands, bestimmten die publizistische Öffentlichkeit. Die Nachricht vom Tod des Kronprinzen musste deshalb erst einmal zeitungstypisch aufbereitet werden: Die Journalisten konzentrierten sich auf die Person des österreichischen Kaisers, den man bemitleidete, da er nun einen erneuten Schicksalsschlag erlitten hatte. Nur in Österreich forderten die Zeitungen unisono, dass dem unverschämten Serbien Einhalt geboten werden müsse, und setzten so die Regierung erheblich unter Druck.

Den zentralen Reizpunkt für die europäische Öffentlichkeit setzte dann auch Österreich-Ungarn mit den weitgehenden Forderungen an Serbien, die vorgeblich die umfassende Untersuchung der Ermordung sicherstellen sollten. Man sollte dieses Ultimatum – so kann man aus den hier versammelten Beiträgen schließen – durchaus als ein Zeichen an die Journale des In- und Auslandes lesen, dass man nicht bereit sei zurückstecken und sich weiter als Großmacht sehe. Hier tritt die Bedeutung der Presse als Resonanzraum in Erscheinung, die sie durch die enorme Steigerung der Reichweite seit den 1880er-Jahren gewonnen hatte. Die Politik meinte nun, Stimmungen an der Presse ablesen zu können, und sie richtete ihre Aktionen zunehmend an der erwarteten Resonanz aus. Für die Journalisten rückte erst vom Zeitpunkt des Ultimatums an ein Krieg als Möglichkeit in den Blick, wobei die Kommentatoren annehmen, dass er lokal begrenzt ablaufen werde. Einen europäischen Krieg diskutieren sie als Möglichkeit, insgesamt aber überwiegen die Appelle an die Politik, sich um eine friedliche Beilegung zu bemühen.

Durch die Konzentration auf den kurzen, ereignisreichen Zeitraum können die Beiträgerinnen und Beiträger langfristige Stimmungsveränderungen nicht in den Blick nehmen, in denen auch die Herausgeber den bedeutenderen Beitrag der Presse zum Ersten Weltkrieg vermuten. Charlotte Lerg erweitert hier die Perspektive zumindest für die USA, deren Presse sie bis zum Kriegseintritt 1917 verfolgt. Dem Mitleid mit dem Kaiser machten langsam Berichte Platz, die die Monarchien als rückständige Kuriositäten des Kontinents beschrieben. Besorgte Kommentatoren führten den Gegensatz zwischen der deutschen Kultur und der amerikanischen Zivilisation ein. Der Kriegseintritt konnte schließlich als konsequente Anwendung der Monroe-Doktrin dargestellt werden, da die Nichteinmischung nun global verteidigt werden müsse.

Es wäre ein spannendes Vorhaben, eine ähnliche Studie in einem breiteren Rahmen, der dann tatsächlich über Kerneuropa und die USA hinausgehen sollte, noch einmal zu wiederholen. Gerade angesichts der offenbar intensiven gegenseitigen Wahrnehmung innerhalb Europas bleibt es eine Frage, ob der Rest der Welt in ähnlicher Weise in diesen Kommunikationszusammenhang eingebunden war oder ob der Erste Weltkrieg in der zeitgenössischen Wahrnehmung nicht eher ein europäischer Krieg in aller Welt war.

Wie stark nationale Perspektiven immer noch die Einschätzung des Ersten Weltkrieges beeinflussen zeigt auch dieser Sammelband. Zwar betont Christopher Clark immer wieder, er habe sich am „blame game“ nicht beteiligen wollen, es scheint aber nun wieder eröffnet. Jörg Baberowski zieht aus der Analyse einer Tageszeitung Belege für eine höchst aggressive russische Politik, da hier festgehalten sei, „was in Regierungskreisen mancher dachte, aber nicht zu sagen wagte“ (S. 67). Aber auch in den anderen Artikeln finden sich mehr oder weniger subtile Verschiebungen in den Interpretationen. Generell tendiert man dazu, nicht-deutsche Stimmen, die an den Willen zum Frieden appellieren, zu hinterfragen. So stuft Peter Geiss die Diskussion unter den französischen Sozialisten, ob sie zur Verhinderung des Krieges einen Generalstreik ausrufen sollten, indirekt als „akademisch“ ein. Für offene Aggressionen an anderer Stelle hat man mehr Verständnis. Arne Karsten ist es ein Anliegen zu belegen, dass die Vorwürfe in der „Vossischen Zeitung“ gegenüber Serbien berechtigt sind, da – so erklärt er ausführlich – Serbien zuvor mehrfach provoziert habe.

Es stellt sich generell die Frage, ob die Geschichtswissenschaft gut beraten ist, mit der Kategorie der Schuld zu arbeiten. Sicherlich aber hätte man sich heutzutage doch eine etwas entspanntere Haltung gegenüber der ja nun wirklich nicht gerade bahnbrechenden Feststellung erwartet, dass Österreich-Ungarn und das Deutsche Kaiserreich den Ersten Weltkrieg auslösten. Dass auch an der „publizistische Front“ die Zeichen am ehesten in diesen beiden Ländern auf Krieg standen, daran gibt es nach diesem gelungenen Gemeinschaftsprojekt kaum noch begründete Zweifel.

Anmerkung:
1 Jean-Jacques Becker, 1914. Comment les français sont entrés dans la guerre. Contribution à l’étude de l’opinion publique printemps été 1914, Paris 1977; Christoph Schmidt, Russische Presse und Deutsches Reich 1905–1914, Köln 1988; Bernhard Rosenberger, Zeitungen als Kriegstreiber? Die Rolle der Presse im Vorfeld des Ersten Weltkrieges, Köln 1998; Martin Schramm, Das Deutschlandbild in der britischen Presse 1912–1919, Berlin 2007; Dominik Geppert, Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen (1896–1912), München 2007.

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