N. Vivier (Hrsg.): The Golden Age of State Enquiries

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Titel
The Golden Age of State Enquiries. Rural Enquiries in the Nineteenth Century


Herausgeber
Vivier, Nadine
Reihe
Rural History in Europe 14
Erschienen
Turnhout 2014: Brepols Publishers
Anzahl Seiten
291 S.
Preis
€ 86,11
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael C. Schneider, Institut für Geschichtswissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Das 19. Jahrhundert war in Europa und weiten Teilen der Welt auch ein Jahrhundert der staatlichen Wissenserzeugung. Die aus der beschreibenden Staatenkunde des 18. Jahrhunderts hervorgegangenen statistischen Büros stehen wie kaum eine andere Institution für das Bestreben der Staaten, möglichst viel über sich in Erfahrung zu bringen und diese Erkenntnisse auf Zahlen zu reduzieren. Während diese Entwicklung unterdessen recht gut erforscht ist, sind die Erkenntnisse zu einem zweiten Strang der staatlichen Wissensproduktion noch weniger ausgereift: Den staatlich veranlassten Enqueten, also umfassenden Befragungen zu einem speziellen Thema, häufig eher qualitativ denn quantitativ ausgerichtet und häufig aus einem bestimmten Anlass durchgeführt. Diesen Enqueten oder „Enquiries“ wendet sich der vorliegende Sammelband zu und konzentriert sich dabei auf jene Untersuchungen, die die landwirtschaftlichen Verhältnisse vorwiegend in Europa, aber in einzelnen Beiträgen auch in Mittelamerika oder Kanada zu erhellen versuchten. Die fundamentale Veränderung, auf die der Sammelband Bezug nimmt, ist der in unterschiedlichem Tempo vollzogene Übergang agrarwirtschaftlicher zu industriellen Gesellschaften, mit ihren ganz unterschiedlichen Auswirkungen auf den landwirtschaftlichen Sektor der einzelnen Länder und deren Bevölkerungen.

Wie die Herausgeberin Nadine Vivier in ihrer Einleitung skizziert, basieren die Beiträge auf einem gemeinsamen Forschungsprogramm, so dass im Kern ähnliche Fragestellungen – wie die nach dem jeweiligen Anlass der Enqueten, der Zusammensetzung der leitenden Kommissionen, den Ergebnissen und ihrer Verwertung – verfolgt wurden, ein Konzept, das glücklicherweise im Wesentlichen auch durchgehalten worden ist. Die Beiträge sind grob chronologisch gegliedert, was zur Folge hat, dass mehrere auf ein Land bezogene Beiträge mitunter recht weit auseinanderstehen. Die Kürze der Beiträge erlaubte es meist leider nicht, tiefer in die Details der Enqueten zu gehen – was vielleicht nicht unbedingt ein Nachteil ist: Denn wo dies doch geschieht, wird schnell klar, dass ohne detaillierte Kenntnisse der jeweiligen komplexen agrarhistorischen Rahmenbedingungen in den verschiedenen Staaten auch die Untersuchungsergebnisse kaum verständlich sind.

Ein erster, von Ute Schneider beigesteuerter Beitrag behandelt keine eigene Enquete, sondern zeichnet, ausgehend von einer Bestandsaufnahme des Präsidenten der Landwirtschaftskammer Braunschweig kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert, die Entwicklung der landwirtschaftlichen Enqueten in Deutschland in ihrer Beziehung zur Landwirtschaftsstatistik nach. Der Beitrag geht dafür bis in die 1840er-Jahre zurück, als im deutschsprachigen Kontext das Verhältnis von zahlenbasierter staatlicher Statistik und qualitativ ausgerichteten Enqueten, die zudem nicht von staatlicher Seite initiiert worden sein mussten, intensiv diskutiert wurde. Schließlich geht Schneider im zweiten Teil auf die Diskussionen des ersten Internationalen Statistischen Kongresses (1853) ein, der neben vielen anderen Themen auch die Frage der Landwirtschaftsstatistik behandelte. Zwar geht es in diesem Abschnitt in der Tat eher um statistische Fragen; gleichwohl werden Grundprobleme der Befragung der ländlichen Bevölkerung erkennbar, die auch für die Enqueten eine Rolle spielten.

Einen unübersehbaren Schwerpunkt des Bandes bieten verschiedene Enqueten, die im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland vorgenommen worden sind. Den Anfang macht Peter Gray mit einem Beitrag zu Enqueten in Irland zwischen 1833 und 1880 und betont hier den Ursprung dieser Unternehmen in den unübersehbaren Problemen der von Armut geplagten irischen Landbevölkerung, auch schon vor der Hungerkatastrophe der 1840er-Jahre. Besonderes Gewicht legt er auf die methodischen Lernprozesse, die sich im Verlauf mehrerer Enqueten entwickelten, gerade wenn es darum ging, die Bevölkerung selbst ausführlich zu Wort kommen zu lassen. Unverkennbar stärker beherrscht von der schwierigen Situation der Landwirtschaft in ganz Europa seit den 1870er-Jahren waren auch zwei Enqueten königlicher Kommissionen zwischen 1879 und 1897, denen sich Robert M. Schwartz zuwendet. Zwar ergaben die Befragungen auch hier (wie in den übrigen Fällen für Sozialhistoriker interessantes) umfangreiches Material und umfassende Bestandsaufnahmen; schon die Zusammensetzung der Kommissionen, in denen die landbesitzende Elite prominent vertreten war, stellte jedoch sicher, dass die Ergebnisse grundlegende Veränderungen in den Besitzverhältnissen der britischen Landwirtschaft nicht nahelegten. Immerhin machte das umfangreiche Material deutlich, dass die Situation der Landwirtschaft in Großbritannien nicht generell schwierig war: Vor allem die Getreidewirtschaft litt, während sich die Weidewirtschaft gut behaupten konnte. Zu kritisieren ist an diesen beiden Beiträgen allenfalls, dass sie manchmal Detailkenntnisse der irischen und englischen Landwirtschaftspolitik sowie der komplizierten Besitzrechte voraussetzen, ohne die die knapp referierten Ergebnisse der Enqueten kaum verständlich sind. Ein weiterer Aufsatz zur „Royal Commission on Labour“ der 1890er-Jahre (Nicola Verdon) rundet die Behandlung des Vereinigten Königreiches ab.

Sowohl das Potential als auch (indirekt) die kleineren Defizite dieses Bandes werden am deutlichsten, wenn man den ausgezeichneten Beitrag von Jonathan J. Liebowitz zur französischen parlamentarischen Enquete von 1884 liest. Zum einen untersucht er knapp, aber klar strukturiert die Zusammenhänge der Enquete mit der wechselhaften und im Untersuchungszeitraum krisenhaften Agrarkonjunktur. Sodann beleuchtet er – was sonst leider nur selten geschieht – transnationale Transfers, hier die Beeinflussung der französischen Befragungen durch britische Enqueten, die zuvor stattgefunden hatten. Allerdings geschieht dies, ohne auf die immerhin drei Beiträge zum Vereinigten Königreich Bezug zu nehmen, und auch auf die französische Agrarenquete von 1866, zu der von der Herausgeberin Vivier ein Aufsatz beigesteuert wurde, verweist er nur knapp auf der vorletzten Seite. (Allerdings lotet die Herausgeberin in ihrer Einleitung die wechselseitigen Bezüge der verschiedenen Enqueten aufeinander zumindest ansatzweise aus). Sehr positiv ist dagegen zu vermerken, dass er so deutlich wie kaum ein anderer Beitrag die Frage nach dem methodisch überhaupt erreichbaren Realitätsbezug solcher umfangreicher Befragungen stellt. In der Tat: Wie hätten normale Landarbeiter die Zeit erübrigen sollen, 196 detaillierte Fragen nach ihren Lebens- und Arbeitsumständen zu beantworten (S. 182)? Insofern verhilft gerade dieser Beitrag zu einem angemessenen Eindruck von den tatsächlichen Abläufen einer solchen Enquete – denn realistischerweise wurden diese Fragenkataloge doch eher von den Bürgermeistern beantwortet. Dass die meisten der vielen tausend ausgefüllten Fragebögen nie gelesen oder gar ausgewertet wurden, ist schon angesichts der schieren Masse an Papier ein überzeugender Befund. Schließlich verdeutlicht gerade dieser Beitrag das komplizierte Verhältnis der Enqueten zur amtlichen Statistik, die schon etwas früher eine unverkennbare Professionalisierung erfahren hatte: Insbesondere verweist Liebowitz darauf, dass die Kommissionsmitglieder der Enquete von 1884 auch auf die regelmäßig erhobenen Statistiken zurückgriffen, ja mehr noch: Die Enquete selbst erhob auch Zahlenmaterial und erwies sich somit als ein Hybrid zwischen einer reinen zahlenbasierten Statistik und einer umfassenden qualitativen Umfrage.

Einer dieser Enquete vorgelagerten Untersuchung aus der zweiten Hälfte der 1860er-Jahre widmet sich Nadine Vivier, die damit den interessanten Zeitraum des französischen Empire während einer beginnenden Agrardepression und dem Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreichs im Krieg von 1870/71 behandelt. Die Niederlage gegenüber den deutschen Truppen und der damit einhergehende Staatsumbau hatte allerdings auch zur Folge, dass die umfangreichen Ergebnisse dieser Enquete von der Politik nicht mehr rezipiert wurden.

In Italien diente die untersuchte Enquete der 1870er/80er-Jahre dazu, nicht so sehr auf eine unmittelbare Agrarkrise zu antworten, sondern die Ursachen für sozialen Aufruhr bis hin zu Streiks unter den Landarbeitern zu erkunden. Allerdings führte die Zusammensetzung der Untersuchungskommission (hauptsächlich reiche Landbesitzer) dazu, dass eher agrarökonomische Fragen im Mittelpunkt standen, nicht so sehr soziale Fragen. Diese umfassende Befragung, die bis zur Fertigstellung 1885 acht Jahre benötigte, war offenbar stärker als andere Erhebungen in Europa statistisch ausgerichtet und trug umfangreiches Tabellenmaterial zusammen – dass wichtige Werke zur italienischen amtlichen Statistik nicht rezipiert werden, verwundert daher.1 Hilfreich ist dieser Beitrag freilich andererseits, als er den Hintergrund der Autoren der veröffentlichten Zusammenstellungen, die nicht selten agrarwissenschaftlich oder ökonomisch vorgebildet waren, intensiv beleuchtet. Gegenüber den Ergebnissen der Enquete ist die Autorin kritisch, nachdem Landbesitzer häufig nicht daran interessiert waren, wichtige Informationen preiszugeben – aus Furcht vor Steuererhöhungen (ein Problem, das sich im Übrigen im 19. Jahrhundert durchgängig bei staatlichen Erhebungen findet). Die Ergebnisse dieser umfassenden Untersuchung lassen viele strukturelle Unterschiede zwischen einem auch in der Agrarwirtschaft fortschrittlicheren Norden und einem strukturschwächeren Süden erkennen, auch wenn dieses Urteil nicht durchgängig gilt. Offenbar hatte jedoch diese Enquete, wie andere auch, wenig politische Wirkung, da ihre Veröffentlichung bereits in die Zeit der Agrardepression fiel, die dann die Rahmenbedingungen nochmals gründlich änderte. Insofern sind die Ergebnisse dieser Enquete – dieser Befund schimmert auch in anderen Beiträgen immer wieder durch – eher für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte interessant.

Auf wenn im Rahmen dieser Rezension nicht alle Beiträge gewürdigt werden können – behandelt werden neben den vorgestellten Staaten auch noch das Osmanische Reich, Ungarn, Spanien, Dänemark, die Niederlande, Kanada und Mexico (leider nicht die USA) –, so lässt sich doch abschließend festhalten, dass es sich hier um einen interessanten Sammelband handelt, der ungeachtet einiger Defizite ein wichtiges und bislang zu wenig untersuchtes Forschungsfeld umreißt.

Anmerkung:
1 Silvana Patriarca, Numbers and nationhood. Writing statistics in nineteenth-century Italy, New York 1996.