Review-Symposium A. Tooze: Sintflut

Cover
Titel
Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931


Autor(en)
Tooze, Adam
Erschienen
München 2015: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
719 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Adelheid von Saldern, Historisches Seminar, Leibniz Universität Hannover

Vorneweg sei gesagt: Hier ist nicht nur ein dickes, sondern auch ein großes Buch zu besprechen – ein Buch, das nur ein Autor schreiben kann, der mit geschärftem Blick, eindrucksvoller Belesenheit und imponierender Beharrlichkeit zahlreiche Prozesse, Ereignisse, Entscheidungen und Folgewirkungen zu einem globalen Mosaik des Ersten Weltkrieges zusammenfügt und zudem die neue Nachkriegsordnung genau vermisst. Sicherlich, Adam Tooze schreibt primär eine Geschichte der Großen Männer im methodisch-konventionellen Sinn, gleichwohl bietet sein Werk einen beachtlichen Wissens- und Erkenntnisgewinn. Zum einen leistet er einen wesentlichen Beitrag zu einer integrierten Globalgeschichtsschreibung, wie sie das 21. Jahrhundert mehr denn je erfordert. Zum anderen kombiniert Tooze seinen globalen Zugriff und seine großspurigen Linienziehungen mit zahlreichen Passagen, in denen er seine Erzählung sehr verdichtet, etwa wenn er sich mit den komplexen Vorgängen beschäftigt, die zum Brest-Litowsker Friedensdiktat führten oder wenn er die Vorgeschichte des Völkerbundes auffächert oder wenn er die einschneidende wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise der USA nach dem Krieg beschreibt. Zum dritten liegt das Besondere des Toozeschen Werkes im Aufzeigen der engmaschigen Verbindungen von Politik- und Finanzgeschichte.

Im Zentrum des Buches steht der Aufstieg der USA zum weltpolitischen Hegemon. Doing hegemony könnte man in Anlehnung an das Vokabular der Gender-Forschung den diesbezüglichen Prozess kennzeichnen. Der Autor widmet sich mit besonderer Verve der Politik von Woodrow Wilson samt dessen globalen Neuordnungsvorstellungen, wobei er an Kritik nicht spart.

Dazu gehört bei Tooze zuvörderst die Interalliierte Schuldenfrage. Im April 1919 musste sich der französische Ministerpräsident George Clemenceau öffentlich gegenüber den USA verpflichten, in Zukunft nicht mehr einen Erlass der Kriegsschulden zu fordern. Außerdem wurde Paris „auf demütigende Weise angewiesen, seinen Finanzhaushalt in Ordnung zu bringen.“ (S. 369). Deutlich arbeitet Tooze heraus, wie es darüber zu erbitterten Diskussionen und Unterwerfungsgesten kam. Das Weiße Haus verharrte bekanntlich als Gläubiger auf seinem Rückzahlungsanspruch – unabhängig von den Reparationsforderungen der Entente-Mächte gegenüber Deutschland. Die radikale Anhebung der zentralen Zinssätze der Federal Reserve um 50 Prozent steigerte zudem den deflationären Trend der Weltwirtschaft und das Ausmaß der Weltwirtschaftskrise von 1920/21. Denn bereits während des Krieges war das Weltfinanzzentrum von Großbritannien nach den USA verlagert, Kredite an die Entente-Mächte nur in Dollar vergeben sowie der Wareneinkauf der Entente-Mächte in Richtung USA gelenkt worden. So geriet, wie Tooze herausarbeitet, Großbritannien schon zu Kriegszeiten in eine immer größere wirtschaftliche und finanzielle Abhängigkeit von den USA.

Ob die Kriegsschuldenfrage in der Literatur bisher unterschätzt worden ist, mag dahingestellt bleiben – vermutlich ja, denn auch in den Rezensionen über Toozes Buch spielt sie meist keine entscheidende Rolle. Dass sie indessen ein zentrales Drehkreuz innerhalb der Nachkriegsordnung war und dass der Kongress in dieser Frage eine in der Literatur meist wenig erklärte harte Linie verfocht, steht allerdings außer Frage. Tooze weist deshalb mit Recht darauf hin, dass die Interalliierte Kriegsschuldenfrage keineswegs in der innenpolitischen Diskussion nur eine geringe Rolle spielte (S. 434f.) und – so lässt sich ergänzen – zahlreiche Publizisten damals für eine nachgiebigere Haltung der USA gegenüber ihren Schuldnern eintraten.

Tooze arbeitet auch die destabilisierenden Wirkungen der Kriegsschuldenfrage auf die Neuordnung heraus, die sich durch die gleichzeitig erfolgte amerikanische Außenhandelspolitik in gravierender Weise vergrößerten. In Abkehr zur Wilsonschen Niedrigzollpolitik wurde nämlich 1922 der Fordney-McCumber Zolltarif erlassen. Die darin festgeschriebene Erhöhung der Sätze um rund 60 Prozent galt zu Recht als prohibitiv, zumal außerdem noch die Verhängung von Strafzöllen angedroht wurde. Damit verringerte sich für die Schuldner-Nationen die Möglichkeit, in die USA zu exportieren und durch einen etwaigen Handelsüberschuss die Schuldenrückzahlung zu erleichtern. Tooze ist deshalb zuzustimmen, wenn er davon spricht, dass die USA damals keine Motoren des Welthandels waren und Wilsons Außenhandelspolitik gescheitert sei. Sicherlich, die Fakten sind an sich seit langem bekannt.1 Doch Tooze legt auf diesen Aspekt sehr viel mehr Gewicht als andere Autoren. Die Kombination der Kriegsschuldenfrage mit der Außenhandelspolitik wirkte sich auf die Entente-Mächte wie Daumenschrauben aus, mit denen vor allem der potenzielle Weltmacht-Rivale England erfolgreich traktiert werden konnte (S. 434f.). In einem Punkt sollte Tooze allerdings ergänzt werden: Die öffentlichen Debatten über die starre Haltung der USA in der Kriegsschuldenfrage und der Außenwirtschaftspolitik führten immerhin dazu, dass der damalige Handelsminister und spätere Präsident Herbert Hoover diese öffentlich verteidigen musste. Er tat dies mit erstaunlicher Offenheit: Die Hochschutzzollpolitik solle, wie er meinte, dazu beitragen, die amerikanische Wirtschaft zu stärken. Denn von ihr hänge die globale ökonomische Weiterentwicklung ab, indem die Investitionen im Lande gefördert, der Wert des Dollars erhöht und damit die Aufgabe der USA als Weltbänker erleichtert werde.2 Im Smooth Hawley-Zollgesetz von 1930 stiegen schließlich die einheimischen Zölle noch weiter an, womit der Höhepunkt des amerikanischen Protektionismus erreicht wurde, und das inmitten der Weltwirtschaftskrise. Dazu passt eine zweite Handlungslinie der US-Außenpolitik. Gemeint sind die Politik der „Offenen Türen“ aller Länder und die „Freiheit der Meere“. Nicht mit den Kolonien der Entente-Mächte und auch nicht mit europäischen Einflusssphären in China, sondern nur mit offenen Ländern ließ sich nämlich die offensive US-„Dollardiplomatie“, die in den 1920er-Jahren weltweit operierte, optimieren. Kurzum, die Politik der Hochschutzzölle einerseits und die Politik der Offenen Tür waren zwei Seiten einer Medaille – so lässt sich aus der Toozeschen Darstellung schlussfolgern.

Tooze bewertet die Wilsonsche Politik letztendlich als Fiasko (S. 413-435). In diesem Zusammenhang blickt er auch auf die tiefgreifende Erschütterung der amerikanischen Gesellschaft 1919/20, die zu Rassenunruhen, Streiks und sehr repressiven Gegenmaßnahmen führte. Auch die Restriktionsgesetze von 1921 und 1924 nennt Tooze in diesem Zusammenhang und bezeichnet die Gesetze als Bruch zur „liberalen Modernität des 19. Jahrhunderts“ (S.434). Ergänzend sollte nach den Gründen gefragt werden. Nahe liegt es, diesbezüglich auf das Ende der Frontier-Phase seit den 1890er-Jahren zu verweisen. Ferner ist das Aufblühen eines aggressiven Nativismus und eines angeblich wissenschaftlich untermauerten Rassismus zu nennen. Deren Akteure, die eine eugenisch-rassistische und sozialfordistisch grundierte, modern erscheinende Bevölkerungspolitik vertraten, verstanden es im und nach dem Krieg mit ihrer rigorosen Restriktionsforderung gegenüber potentiellen Immigrant/innen bis in die Mitte der Gesellschaft vorzudringen, auch einen Teil der Progressivisten zu gewinnen und den allerdings damals in der Öffentlichkeit nicht sehr starken radikal-liberalen Gegenwind zu konterkarieren.

Auf außenpolitischem Gebiet misst Tooze das reale Geschehen an Wilsons Visionen, die in einer „imaginären Sprachwelt“ eingebettet und moralistisch grundiert gewesen seien, was nicht zuletzt dem Einfluss seines presbyterianischen Vaters zuzuschreiben sei (S. 415). Er sei in der „Logik seiner eigenen Ideologie“ verstrickt geblieben, sei zudem zu zögerlich aufgetreten und habe nicht selten Situationen und Personen falsch eingeschätzt. Außerdem habe er sich nie von seinen Vorbehalten gegenüber der gesamten Alten Welt, vor allem gegenüber Großbritannien, befreien können, was nicht zuletzt dazu führte, dass Wilson gegenüber Europa nie die „Strategie der Distanz“ abgelegt habe. Auch sei sein Widerwille, überhaupt in den Krieg zu ziehen, groß gewesen (S. 88), wohingegen die US-Wirtschaft, wie schon erwähnt, bereits vor 1917 in beträchtlichem Ausmaß auf die Entente ausgerichtet gewesen sei (S.77). Wilson habe seine Weltordnungsvorstellungen gegenüber den Ansprüchen der Alten Mächte nicht durchsetzen können (S. 27). Einen „Frieden ohne Sieg“ zu erreichen, wie er dies noch im Januar 1917 für wünschenswert gehalten hatte (S. 91), blieb ohne Resonanz. Zu Toozes Negativbilanz über Wilson gehören auch seine wegen Kompromisslosigkeit gescheiterte Völkerbundkonzeption und der Versailler Friedensvertrag. Sich in diesem Punkt auf den Keyneschen Bestseller „Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages“ stützend, wäre seiner Ansicht nach nur ein gemeinsamer anglo-amerikanischer Wirtschaftsplan eine für alle Beteiligten tragbare Alternative gewesen, doch davon war weder in den USA noch in Großbritannien ernsthaft die Rede. Nach Toozes Ansicht war Wilson auch kein Universalist, wie fälschlicherweise in der Literatur häufig behauptet werde (S. 279). Doch diese Einschätzung überzeugt nicht. Denn Wilsons Eintreten für eine von den USA geführte Weltordnung und sein Engagement für einen dauerhaften Weltfrieden (S. 255) sind durchaus ernst zu nehmen.

Tooze erklärt die als Fiasko bezeichnete Politik Wilsons mit seinem „starken Nationalismus“ (S. 432). Die diesbezügliche Kontinuität mit seinem Nachfolger Harding verblüfft den Autor. Präsident Harding erklärte nämlich, es gehe nunmehr nicht um ein „Untertauchen in der Internationalität, sondern das Behaupten eines triumphierenden Nationalbewusstseins“ (433). Offensichtlich hat Tooze keine Literatur gefunden, die den amerikanischen Nationalismus mit seinen Auswirkungen auf politischem, ökonomischem und kulturellem Gebiet so klar herausarbeitet, wie Tooze dies für nötig hält.3 Folgerichtig schreibt er seinen diesbezüglichen Beobachtungen einen beträchtlichen Neuigkeitswert zu. Allerdings verfolgt Tooze diese Spur bedauerlicherweise nicht weiter. Gewinnbringend wäre erstens ein kurzer Rückblick auf Theodore Roosevelts Leitmotiv eines New Nationalism gewesen, die dieser im Kontext des Spanisch-Amerikanischen Krieges verkündet hatte und die die amerikanische Gesellschaft und Politik vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg stark prägen sollte. Zu denken ist zweitens an den weitgefächerten kulturellen Nationalismus (cultural nationalism), wie er primär von liberalen Publizisten in jener Zeit vertreten wurde und der seinerseits als Folgewirkung postkolonialer Schleifspuren interpretiert werden kann, was auch Wilsons Vorbehalte gegenüber der Alten Welt verständlich macht.4 Dieser kulturelle Nationalismus sollte zusammen mit dem ökonomischen, dem außenhandelspolitischen und dem politischen Nationalismus gesehen werden. Hierin liegt wohl der Schlüssel für eine Erklärung der von Tooze wahrgenommenen Kontinuitäten des Weißen Hauses unter Wilson und seinen republikanischen Nachfolgern. Ein solcher politischer, ökonomischer und kultureller Nationalismus stand allerdings in keinem Widerspruch zu einer globalen US-Politik, wie man oder frau auf den ersten Blick meinen könnte. Vielmehr sollte gerade deren Kombination die amerikanische Hegemonialstellung in der Welt festigen – zum Wohle aller Völker, wie es hieß. Auf der Washingtoner Flottenkonferenz von 1921, deren große Bedeutung für die neue Weltordnung Tooze zu Recht herausarbeitet (S. 21, 494ff.), wurde schließlich nicht nur einer Abrüstung das Wort geredet, sondern auch der Führungsanspruch der USA auf den Meeren festgeschrieben. Die Kontinuitäten hinsichtlich des nationalistisch grundierten globalen Internationalismus sollten freilich die Spezifika der republikanischen Präsidenten nicht vergessen lassen: Gemeint ist zum einen die republikanische Politik eines bindungsfreien Internationalismus und zum anderen die Verstärkung der auf globale Hegemonie ausgerichteten Ökonomisierung der (Außen-)Politik.

In seinem Ausblick verweist Tooze erstens auf die „strategischen Freiräume“, die anfangs der 1930er-Jahre durch das „Versagen der demokratischen Mächte“ und durch die permanente „abwesende Gegenwart“ der amerikanischen Macht entstanden seien (S. 633, 639). Zweitens bezeichnete er die Politik von Wilson und Hoover letztlich als durch und durch konservativ, das heißt als rückwärtsgewandt – getragen von dem Gedanken, die Absicherung des inneramerikanischen relativ stabilen Gleichgewichts nach den traumatischen Erfahrungen des Bürgerkriegs nicht zu gefährden (S. 640). Doch eine solche Gesamteinschätzung der amerikanischen Außenpolitik der 1920er-Jahre klingt wenig überzeugend, zumal Tooze auf den zwei folgenden Seiten selbst diese Dekade als von einer „höheren Form des Realismus“ geprägt sieht. Es sei damals um die „Suche nach einem neuen Weg, wie Ordnung und Sicherheit zu bewahren seien“, gegangen, um einen auf internationale Kooperation und Koalition ausgerichteten „Liberalismus neuer Art und um eine „Realpolitik des Fortschritts“ (641f.), wozu, so lässt sich schlussfolgern, insbesondere Wilson Wesentliches beitragen wollte. Allerdings – so ist Tooze gerade zum Schluss seines Buches zu ergänzen – sollten die vielfach pazifistisch und missionarisch begründeten Weltordnungsvisionen zum Wohle der Menschheit keinesfalls die globale Hegemonialstellung der USA schmälern, sondern, im Gegenteil, diese absichern und stärken.

Anmerkung der Redaktion: Eine Übersicht über das Review-Symposium zu Adam Tooze: Sintflut finden Sie hier: <http://www.hsozkult.de/text/id/texte-2859>.

Anmerkungen:
1 Siehe Akira Iriye, The Cambridge History of American Foreign Relations, Bd. 3: The Globalizing of America, 1913-1945, Cambridge 1993, S. 99.
2 Nach: Iriye, The Cambridge History, S. 100.
3 Erich Angermann bezeichnete bereits in den 1960er Jahren die amerikanische Außenpolitik jener Zeit als eine vom „nationalen Egoismus“ geprägte Politik. Erich Angermann, Die Vereinigten Staaten seit 1917, München 6. Auflage 1978, S. 57.
4 Ausführlich: Adelheid von Saldern, Amerikanismus. Kulturelle Abgrenzung von Europa und US-Nationalismus im frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 2013. Der US-amerikanische cultural nationalism verfolgte das Ziel, sich auch auf dem Gebiet der Künste von europäischen Einflüssen zu befreien und eine „genuin amerikanische“ Kunst zu generieren.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension