Titel
Government Through Culture and the Contemporary French Right.


Autor(en)
Ahearne, Jeremy
Reihe
French Politics, Society and Culture
Erschienen
Basingstoke 2014: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
Preis
€ 81,40
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kolja Lindner, Centre Marc Bloch, Berlin

Mit über drei Jahren Abstand zur Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy und angesichts der ideologischen Langeweile eines François Hollande hat man schon fast wieder vergessen, welch heftige Auseinandersetzungen um ‚nationale Identität‘, Islam und Republik etc. die französische Politik in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts bestimmt haben. Jeremy Ahearne, Professor für French Studies an der Universität Warwick und Direktor des dortigen Center for Cultural Policy Studies, vertritt in der vorliegenden Studie, dass die sich von 2002 bis 2012 erstreckende Sequenz politischer Kämpfe in Frankreich wesentlich als Auseinandersetzung um ideologische Hegemonie verstanden werden muss. Genauer, als kontroverse „strategies for cultural government“ (S. 6), die – wie der Autor in Rückgriff auf Stuart Halls, Ernesto Laclaus und Chantals Mouffes Reformulierung von Antonio Gramsci Hegemoniebegriff schreibt1 – Diskurse, Bedeutungen und Ideologien etablierter Politikfelder zu Herrschaftszwecken ‚des‘- und ‚reartikulieren‘. Ahearne geht diesen Strategien in fünf Bereichen nach: Laizismus, Bildungspolitik, Umgang mit dem Fernsehen sowie Geschichts- und auswärtige Kulturpolitik. Dabei arbeitet der Verfasser mit bisweilen weitreichenden historischen Kontextualisierungen um etablierte Bedeutungsrepertoires und politischen Artikulationen bzw. ihre Verschiebungen erfassen zu können. Insgesamt liegt damit nicht nur eine gut lesbare sondern zugleich eine insgesamt überzeugende Deutung der sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts jenseits des Rheins verschiebenden Hegemonieverhältnisse vor.

Die Hauptakteure dieses Kampfes betrachtet der Autor als die beiden Präsidenten Jacques Chirac (1995–2007) und Nicolas Sarkozy (2007–2012). Diesen sei es zugefallen, „to coordinate and provide a unified public front for strategic culture-defining programmes“ (S. 7), wobei diese ‚impliziten Kulturpolitiken‘ weit gefasst werden – „designed to work in discursive and symbolic mode on the values, norms and reflex references of a target population“ (S. 2). Die Einwände von Personalisierung und Diskursreduktionismus scheinen angesichts dieses Zugriffs nahezuliegen. Ahearne geht es allerdings weniger um die Persönlichkeiten der zwei sukzessiven französischen Präsidenten, wenngleich Sarkozy durchaus „the capacity for theatricalized political performance of a particular kind“ (S. 84) zugesprochen wird. Er betrachtet die beiden Politiker eher als Zentren einer symbolischen Integration verschiedener politisch-strategischer Unternehmungen, denen die Aufgabe einer Koordination ideologischer Arbeit und einer präsidialen Performance zugefallen sei, die auch in der postgaullistischen Fünften Republik von entscheidender Bedeutung sei. Anschließend an Gramsci visiert der Verfasser darüber hinaus Hegemonieakteure unterhalb der herausgehobenen politischen Stellung des Präsidenten an, sogenannte organische Intellektuelle, das heißt Personen, die in und durch die Bearbeitung sozialer Widersprüche Konzepte politischer Führung entwickeln.

Was den Einwand des Diskursreduktionismus angeht, liegen die Dinge zweifelsohne ein bisschen komplizierter und werfen grundsätzliche Fragen nach der Bedeutung sozialer Repräsentationen für Prozesse politischer Herrschaft auf. Ahearnes Quellenmaterial besteht nahezu ausschließlich aus Reden und politischer Expertise. Ganz explizit bezieht er sich auf einen Forschungszweig, der in Frankreich gemeinhin als ‚analyse cognitive des politiques publiques‘ gefasst wird und maßgeblich von dem Politikwissenschaftler Pierre Muller begründet wurde.2 Grundannahme ist dabei, dass sich in staatlichen Politiken nicht zuletzt Weltbezüge konstituieren, dass also soziale Repräsentationen entscheidend für die Definition politisch relevanter Handlungsbereiche und der entsprechenden Maßnahmen sind. Angesichts eines solchen Zugriffs ist es natürlich vollkommen legitim, vor allem diskursanalytisch vorzugehen. Dennoch stellt sich die Frage, welche bleibenden institutionellen, rechtlichen etc. Materialisierungen die analysierten Auseinandersetzungen haben, denn Hegemonie konstituiert sich nicht nur ideologisch, sondern zugleich als Kräftebündnis, als Organisation von Reproduktion und gesellschaftlichem Zusammenleben.3

Das erste Kapitel zur Transformation des französischen Laizismus4 ist zweifellos die gelungenste Analyse ‚politischer Führung durch Kultur‘, die der vorliegenden Band enthält. Die komplexe politische Regulation des Religiösen, die zum integralen Bestandteil des französisch-republikanischen Selbstverständnisses geworden ist, wird in Folge der als republikgefährdende Ausnahmesituation wahrgenommenen Präsidentschaftswahl von 2002, bei der Jean-Marie Le Pen als Kandidat des Front National in den zweiten Wahlgang einzog, zu einem Rahmen, in dem entsprechende Anstrengungen unternommen werden. Die Konsequenzen, die sich im das Kopftuch anvisierenden Verbot religiöser Zeichen in den öffentlichen Schulen 2004, in der Apologie eines „positiven Laizismus“ (Sarkozy) von 2007, der die Bedeutung der Religion für das soziale Zusammenleben unterstreicht, sowie in einer restriktiven Instrumentalisierung (Verbot der Vollverschleierung und des muslimischen Gebets auf offener Straße 2010 bzw. 2011) ausdrücken, sind gewichtig: „the hegemonically dominant understanding of laicity had shifted“ (S. 35). So ist die ambivalent liberale und pragmatische Regelung zu einer immer stärker antimuslimischen Politik geworden, die sich zugleich nachgiebig gegenüber dem Katholizismus gibt, der zunehmend als Teil einer nationalen Identität präsentiert wird.5

Einer ähnlichen Umwertung vormals progressiver Politiken durch einen „ideological capture on the part of the governing right“ (S. 48) untersucht Ahearne im zweiten Kapitel anhand der Bildungspolitik. So würden unter Sarkozy die linken Anstrengungen zur schulischen Vermittlung eines Satzes geteilter kultureller Fähigkeiten und einer differenzierten, an Bedürfnissen der Lernenden orientierten Pädagogik angesichts neoliberaler, stärker auf den Arbeitsmark orientierter, bildungspolitischer Vorgaben entsprechend reartikuliert. Auch „on this educational front of a more general hegemonic struggle“ sei insbesondere um den „ownership over the understandig“ (S. 61) von Begriffen wie Autonomie, Lernen, Chancengleichheit etc. gestritten worden.

In seinem Kapitel übers Fernsehen geht Ahearne mit Rückgriff auf Halls ‚encoding/decoding‘-Modell6 und einer historischen Kontextualisierung über die Bedeutung dieses Mediums für die politische Kultur der Fünften Republik einer das Privatfernsehen gegenüber öffentlichen Sendeanstalten privilegierenden Politik und der politischen Bedeutung individueller Performance in den Medien nach. Zwar kommt der Verfasser dabei weit über die bisweilen recht begriffslose Essayistik, die rund um Sarkozys Wahlsieg 2007 in Frankreich erblühte7, hinaus. Dennoch stützt er sich nicht zuletzt auf diese Literatur8, ohne ihre diskursreduktionistischen Annahmen grundsätzlich zu hinterfragen.

Die Auseinandersetzung mit neuerer französischer Geschichtspolitik gehört neben der Analyse der Transformationen des Laizismus zum stärksten Teil von Ahearnes Untersuchung. Der Autor zeigt dabei, wie durch ideologische Anrufungen politische Subjektivitäten geschaffen werden sollen – im Falle Chiracs durch die Konstruktion einer ‚geteilten Vergangenheit‘, die einige „core elements in the ‚social memoires‘ of substantial groups in a more self-consciously multicultural present-day France“ (S. 96) aufnimmt: Anerkennung der französischen Mitwirkung an der Shoah (1995), der Bedeutung der Sklaverei (2001) und des Genozids an den Armeniern (2001). Diese Initiativen haben innerhalb der bürgerlichen Rechten zu Widerspruch geführt, der seinen Ausdruck in einem Gesetz von 2005 gefunden hat, das die angeblich „positive Rolle“ des französischen Kolonialismus festschreibt, vom Verfassungsrat aber aus Gründen der Kompetenzüberschreitung des Gesetzgebers kassiert wurde. Sarkozys geschichtspolitischer Eklektizismus nimmt diesen Widerstand auf und konzipiert „an emphatically and explicitly ‚cultural‘ campaign purporting to consolidate the bases of a ‚national identity‘ in crisis“ (S. 105). Unter Absehung jeglichen positiven Bezugs auf den Islam wird dabei ein ganzes Spektrum widersprüchlicher historische Erfahrungen und Figuren von ganz links bis ganz rechts mobilisiert und zu einer großen Nationalsaga verkettet.9 Ziel ist dabei nicht zuletzt, politische Zughörigkeiten und Identifikationen durcheinander zu bringen. Das unter Sarkozy geschaffene Ministerium für Einwanderung, Integration, nationale Identität und solidarische Entwicklung sowie der letztlich gescheiterte Versuch der Errichtung einer Maison de l’Histoire de France können als (partiell erfolglose) Bestrebungen zur Institutionalisierung einer bestimmten Version ‚nationaler Identität‘ gelten.

Das letzte Kapitel zur auswärtigen Kulturpolitik verliert sich leider etwas bzw. illustriert, wie das politische Personal in Frankreich jenseits verschiedener Programmatiken einer kulturnationalistischen, ‚postkolonial-melancholischen‘ (Paul Gilroy) Konzeption von globaler Einflusspolitik anhängt: „the area of outward-facing media policy was shaped in a far less ideologically partisan manner both by Chirac and Sarkozy than any of the other domains studied in this book“ (S. 150).

Anschließend an die bereits eingangs formulierte Kritik am Diskursreduktionismus kann festgehalten werden, dass das, was unter anderem als Grenze von Ahearns Studie erscheint, zugleich ihre Stärke ist.10 So hält der Autor fest, dass die von ihm beobachteten Prozesse der ‚politischen Führung durch Kultur‘ „not the whole of politics“ seien: „apart from anything else, their capacity to impose themselves on people’s attention depends on the manifold coercive, legal, logistical, technological and economic means that underpin the diffusion and reception, as well as their ‚fit‘ with the socio-economic experience of the populations they are addressing. However, they were strikingly prominent during the period of national right-wing governments under consideration.“ (S. 152) Es ist nur schwer bestreitbar, dass sich in der politischen Sequenz 2002–2012 in Frankreich weitreichende ideologische Verschiebungen ereignet haben, die zunächst durch eine historisch informierte Diskursanalyse herausgearbeitet werden müssen. Diese Verschiebungen machen es ferner schwer Sarkozys Wahlniederlage von 2012 als „hegemonic defeat“ (S. 159) zu begreifen. Gerade in den zwei zentralen Bereichen von Laizismus und nationaler Identität sind die Spuren des ‚Sarkozysmus‘ allgegenwärtig und es macht nicht nur die ideologische Langeweile Hollandes, sondern auch das strategische Versäumnis der französischen Linken aus, diese Konstellation nicht als Ansporn für eine grundlegende programmatische Arbeit zu begreifen.

Anmerkungen:
1 Vgl. insbesondere Stuart Halls Analysen des Thatcherismus in Stuart Hall u.a., Policing the Crisis. Mugging, the State, and Law and Order, London 1978; ders. / Martin Jacques (Hrsg.), The Politics of Thatcherism, London 1983, und ders., The Hard Road to Renewal. Thatcherism and the Crisis of the Left, London 1988; Ernesto Laclau, Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus – Faschismus – Populismus, Berlin 1981; ders. / Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 2000.
2 Vgl. zusammenfassend Pierre Muller, L’analyse cognitive des politiques publiques: vers une sociologie politique de l’action publique, in: Revue française de science politique 50 (2000) 2, S. 189–207.
3 Derart könnte Gramscis klassenreduktionistische Fassung der Materialität des Hegemoniebegriffs – „Die Hegemonie entspringt in der Fabrik und braucht zu ihrer Ausübung nur eine minimale Menge professioneller Vermittler der Politik und der Ideologie.“ (Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Hamburg 1991ff., Heft 22, S. 2069) – reformuliert werden.
4 Eine Kurzversion dieser Analyse hat Ahearne unter dem Titel „Laïcité: A parallel French cultural policy (2002–2007)“ in: French Cultural Studies 25 (2014) 3–4, S. 320–329, veröffentlicht.
5 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die bemerkenswerten Studien von Jean Baubérot, La laïcité falsifiée, Paris 2012; und von Stéphanie H. Vauchez / Vincent Valentin, L’affaire Baby Loup ou la Nouvelle Laïcité, Issy-les-Moulineaux 2014.
6 Vgl. Stuart Hall, Encoding/Decoding, in: Stuart Hall u.a., Culture, Media, Language. Working Papers in Cultural Studies, 1972–79, London 1980, S. 128–138.
7 Kritisch dazu: Kolja Lindner, Politische Kommunikation, Hegemonie und Ideologie: die Debatte um den ‚Sarkozysmus‘, in: Felix Heidenreich / Daniel Schönpflug (Hrsg.), Politische Kommunikation: Von der klassischen Rhetorik zur Mediendemokratie / La communication politique : De la rhétorique classique à la démocratie des médias, Berlin 2012, S. 115–133.
8 Vgl. insbesondere François Jost / Denis Muzet, Le Téléprésident. Essai sur un pouvoir médiatique, La Tour d’Aigues 2008, und verschiedene Publikationen des Kommunikationswissenschaftlers Pierre Musso. Die einzige halbwegs ernsthafte Untersuchung in diesem Feld – Claire Artufel / Marlène Duroux, Nicolas Sarkozy et la communication, Paris 2006 – fehlt in Ahearnes Bibliographie bedauerlicher Weise.
9 Einschlägig dazu die nicht angeführte Monographie von Nicolas Offenstadt, L’histoire bling-bling. Le retour du roman national, Paris 2009.
10 Der Ehrlichkeit halber sei erwähnt, dass diese Kritik zugleich eine Selbstkritik ist, da meine eigene Erforschung der Prozesse, die die vorliegende Publikation z.T. beleuchtet, durchaus mit der Ahearnes vergleichbar ist, vgl. Kolja Lindner, Die Hegemoniekämpfe in Frankreich. Laizismus, politische Repräsentation und Sarkozysmus, Diss. Freie Universität Berlin/Université Paris 8, 2015. Dieser Einwand sollte daher insbesondere als Aufforderung zu weiterer Forschung zur Bedeutung und Relevanz von Diskursanalyse in der Untersuchung von Hegemonieverhältnissen verstanden werden.

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