H. Bethke: Das politische Denken Arnold Brechts

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Titel
Das politische Denken Arnold Brechts. Eine transatlantische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts


Autor(en)
Bethke, Hannah
Reihe
Beiträge zur Politischen Wissenschaft 178
Erschienen
Anzahl Seiten
405 S.
Preis
€ 98,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Ruck, Politikwissenschaft und Zeitgeschichte, Universität Flensburg

Das Wirken Arnold Brechts (1884–1977) ist eng mit den drei Hauptepochen deutscher Geschichte im kurzen 20. Jahrhundert verknüpft. Zunächst mit dem vergeblichen Unterfangen, das demokratische Regime 1932/33 in Preußen und im Reich mit juristischen Mitteln vor dem Zugriff Papens, Hugenbergs und Hitlers zu bewahren: In den Jahren zuvor hatte der republikanische Spitzenbeamte sich in der Reichskanzlei, im Reichsinnenministerium und im Preußischen Staatsministerium als Verwaltungserneuerer und Reichsreformer einen Namen gemacht. Seine zweite Karriere als Staats- und Politikwissenschaftler startete Brecht unfreiwillig Ende 1933 in Amerika. Aus seiner dortigen Wirkungsstätte in New York heraus, der New School of Social Research, warb der widerstrebende Emigrant unermüdlich für den Neuaufbau eines demokratischen Rechts- und Verfassungsstaates in Deutschland und dessen feste Integration in den Kreis der westlichen Staatengemeinschaft. Nach dem Krieg begleitete Arnold Brecht die Bundesrepublik von der Formierung des deutschen Weststaates bis in die 1970er-Jahre hinein mit persönlichen Initiativen. Ob er sich für die antitotalitäre Ausgestaltung des Grundgesetzes, die modernisierende Erneuerung des deutschen Berufsbeamtentums und die Etablierung der Politikwissenschaft einsetzte oder schon frühzeitig durch eine Deeskalation des Kalten Krieges in Mitteleuropa die deutsche Wiedervereinigung anzubahnen versuchte – im Mittelpunkt stand dabei durchgängig das Bestreben, der zweiten deutschen Republik durch normative und institutionelle Vorkehrungen die Katastrophe des Weimarer Versuchs zu ersparen.1

Im Übrigen trug Brecht selbst aktiv dazu bei, seinen Namen in die deutsche und transatlantische Zeitgeschichte einzuschreiben. Beginnend mit seiner 1906 erschienenen Dissertation hat der in Lübeck geborene und dort auf in einem großbürgerlich-nationalliberalen Elternhaus aufgewachsene Schöngeist als Jurist, Verwaltungsmann und Politikwissenschaftler, später auch als engagierter Zeitgenosse über sieben Jahrzehnte hinweg bis zu seinem Tod eine große Zahl von Büchern und Aufsätzen veröffentlicht. Darunter sind, neben dem seinerzeitigen Standardwerk zur Politischen Theorie2 auch mehrere autobiografische Schriften, aus denen nach wie vor gerne zitiert wird3. Seine weit gespannte, sehr umfangreiche Korrespondenz dokumentiert darüber hinaus den nachhaltigen Eindruck, den Brecht mit seinem persönlichen Auftreten und Wirken auf viele Weggefährten und Mitarbeiter, auf Studenten und Hörer seiner zahllosen Vorträge hinterlassen hat.

Ursprünglich ein nationalliberaler Vertreter des obrigkeitlichen Rechtsstaates, hatte sich Brecht unter dem Eindruck von Kriegsniederlage und Revolution 1918/19 in der Reichshauptstadt Berlin ein erstes Mal zum konsequenten Vernunftrepublikaner gewandelt. Persönliche Liberalität, professionelle Loyalität und beruflich-gesellschaftlicher Ehrgeiz ließen den selbstbewussten Elitebeamten rasch zu einem der wichtigsten administrativen Zuarbeiter des parlamentarisch-pluralistischen Parteien- und Verbändestaates von Weimar aufsteigen. Als individualistischer Bildungsbürger, als Angehöriger der administrativen Funktionselite und als Politikwissenschaftler von Rang wahrte er Zeit seines Lebens sorgsam Distanz zu allen parteipolitischen Vergemeinschaftungen. Gleichwohl war sein Wirken in Berlin, dann in den USA und später im transatlantischen Raum durchweg der demokratisch-pluralistischen Staatsordnung gewidmet. Der exzellente Verwaltungsjurist, der renommierte Staatswissenschaftler und der respektierte Politikberater Arnold Brecht stand zwar niemals in der vordersten Reihe, aber doch bisweilen nahe dahinter.

Dieses konturierte Porträt Arnold Brechts hat die biografische Forschung von den 1980er-Jahren bis in die 2000er-Jahre hinein quellengestützt gezeichnet. Die Leipziger Dissertation von 2011 vermag dem nur wenige neue Facetten hinzuzufügen. Grundsätzlich hat das schon damit zu tun, dass die Autorin den Forschungsstand sowohl im Bereich der Sozialwissenschaften als auch der Zeitgeschichte unzutreffend als hoch defizient darstellt. Die von ihr formulierten Leitfragen: 1. „welche wissenschaftliche Prägung in seinem Werk erkennbar wird“, 2. welche „politische und biographische Prägung“ Brecht erfahren hat, 3. welche „Bedeutung dabei der transatlantischen Dimension“ zukommt und 4. welche „Kontinuitäten und Zäsuren in Brechts Werken“ zum Ausdruck kommen, sind in vielerlei Hinsicht bereits zuvor eingehend erörtert und schlüssig beantwortet worden. Und der von Bethke als originärer Zugang reklamierte Forschungsansatz einer „personalisierte(n) Ideengeschichte“ reduziert sich auf die eher konventionelle Frage danach, „wie jemand, der aus der politischen Praxis kommt, seine Erfahrungen, Ideen und Lehren in politische Wissenschaft umsetzt“, um daraus dann generalisierbare Antworten auf „grundsätzliche Fragen der Politik- und Sozialwissenschaften im allgemeinen und der politischen Theorie und Ideengeschichte im besonderen“ abzuleiten. Dazu analysiert Bethke ausgewählte Schriften Brechts, ohne jedoch die als Desiderat markierte „systematische Erschließung seines Werks“ zu liefern. Im Übrigen stützt sie sich mit dem Nachlass auf eine Quellengrundlage, welche mittlerweile von anderen bereits intensiv ausgewertet worden ist (S. 15–18).

Gegliedert ist die umfängliche Untersuchung in zwei große Abschnitte. Im ersten Teil werden unter der Überschrift „Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik“ zunächst einige prägend erscheinende Elemente der wissenschaftlichen und professionellen Sozialisation Brechts („Politikferne und Nähe zur Kunst: ‚Lübeck als geistige Lebensform‘"; „Unmöglichkeit als wissenschaftliche Kategorie“; „Deutsche Hochschule für Politik“) knapp erörtert, sodann sein Wirken im Reichsinnenministerium beispielhaft gewürdigt (Gemeinsame Geschäftsordnung der Ministerien). Sodann wird in engagierter respektive polemischer Auseinandersetzung mit der vorausgegangenen Forschung die Kardinalfrage erörtert, ob und inwieweit der anerkannte Verwaltungsreformer Brecht auch dem selbst erhobenen Anspruch gerecht geworden sei, als „demokratischer Reformator“ des deutschen Staatsapparats gewirkt zu haben. Den größten Raum beansprucht schließlich eine ebenso ausführliche wie unübersichtliche, mitunter auch analytisch überambitionierte Darstellung des Prozesses vor dem Staatsgerichtshof zum „Preußenschlag“ vom 20. Juli 1932 und der anschließenden Auseinandersetzungen über die Konsequenzen des doppeldeutigen Urteils.

Gelegentlich tritt in diesen Abschnitten eine unangemessene Identifikation der Biografin mit ihrem Protagonisten irritierend zutage. So etwa, wenn sie ihn vehement gegen den (so gar nicht erhobenen) „Vorwurf“ anderer Autoren verteidigt, bei allen unbestrittenen Verdiensten den hohen Anspruch eines „demokratischen Reformators“ dann doch nicht in jeder Hinsicht praktisch eingelöst zu haben (S. 73 und S. 75–88). Oder auch, wenn sie mit Blick auf die umstrittenen Motive für seine Entlassung als Leiter der Verwaltungs- und Verfassungsabteilung durch Reichsinnenminister Keudell 1927 ebenso erleichtert wie apodiktisch feststellt, der dringende Wunsch Brechts, von späteren Historikern als Opfer eines politischen Handstreichs der Deutschnationalen rehabilitiert zu werden, „sollte spätestens hiermit erfüllt sein“ (S. 90).

Diese Haltung verleitet Bethke auch dazu, sich im knapp gehaltenen Eingangsabschnitt des zweiten Teils über Brechts New Yorker Exiljahre in merkwürdig mokanter Gegenfrage-Diktion mit jenen Autoren auseinanderzusetzen, welche Brecht differenziert und quellenmäßig belegt eine bis Ende der 1930er-Jahre verzögerte Annahme der Rolle eines Emigranten attestiert haben. Es folgen zwei Kapitel, in denen jeweils zwei Werke Brechts zur „Schuldfrage nach 1945“ sowie zur „Politischen Theorie, Demokratie und Gerechtigkeit“ breit analysiert werden. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um zitatenüberladene Textparaphrasen, in denen die für ihren Untersuchungsansatz eigentlich doch konstitutive „[b]iographische Kontextualisierung“ (S. 338–342) kaum einmal systematisch stattfindet.

Hätte die Autorin sich konsequenter darauf verlegt, tatsächlich eine „systematische Erschließung“ des Brecht’schen Oeuvres zu liefern, hätte daraus eine beachtliche ideengeschichtliche Abhandlung werden können. So ist lediglich ein unzureichend durchgearbeiteter, immer wieder durch normativen Überschuss geprägter Torso herausgekommen, dessen Lektüre trotz anregender Einzelbeobachtungen insgesamt wenig neue und weiterführende Anregungen für die ausstehende (Werk-)Biografie Arnold Brechts vermittelt.

Anmerkungen:
1 Claus-Dieter Krohn / Corinna R. Unger (Hrsg.), Arnold Brecht, 1884–1977. Demokratischer Beamter und politischer Wissenschaftler in Berlin und New York, Stuttgart 2006; Michael Ruck, Deutsch-amerikanische Perspektiven. Der politische Intellektuelle Arnold Brecht als transatlantischer Mittler im Kalten Krieg; in: Alexander Gallus / Axel Schildt (Hrsg.), Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930, Göttingen 2011, S. 359–384; ders., Patriotischer Institutionalismus und bürokratische Modernisierung. Arnold Brecht als Verwaltungsreformer in der Weimarer Republik, in: Eberhard Laux / Karl Teppe (Hrsg.), Der neuzeitliche Staat und seine Verwaltung. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte seit 1700, Stuttgart 1998, S. 177–202; ders., Arnold Brecht und die Verfassungsentwicklung in Westdeutschland, in: Claus-Dieter Krohn / Martin Schumacher (Hrsg.), Exil und Neuordnung. Der Einfluss von Emigranten auf die verfassungspolitische Entwicklung im Nachkriegsdeutschland, Düsseldorf 2000, S. 207–229; Corinna R. Unger, Vom Beamtenrecht zur politischen Kultur. Die Vorschläge Brechts zur Reform des öffentlichen Dienstes der Bundesrepublik, in: Kritische Justiz 36 (2003), S. 82–94.
2 Vgl. dazu Alfons Söllner, Zwischen Wissen und Glauben? Ein Versuch über Arnold Brechts „Politische Theorie“, in: Krohn/Unger, Arnold Brecht, S. 197–212.
3 Arnold Brecht, Aus nächster Nähe. Lebenserinnerungen 1884–1927, Stuttgart 1966; ders., Mit der Kraft des Geistes. Lebenserinnerungen. Zweite Hälfte. 1927–1967, Stuttgart 1967.

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