I. Crăciun: Die Dekonstruktion des Bürgerlichen im Stummfilm

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Titel
Die Dekonstruktion des Bürgerlichen im Stummfilm der Weimarer Republik.


Autor(en)
Crăciun, Ioana
Reihe
Beiträge zur neueren Literaturgeschichte [Dritte Folge] 337
Erschienen
Anzahl Seiten
337 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Rogowski, Department of German, Amherst College

Ausgehend von der Annahme, dass „der Stummfilm sich in der Zeit der Weimarer Republik als Alternative zur logozentrischen bürgerlichen Hochkultur entwickelte”, unternimmt die vorliegende Arbeit den ehrgeizigen Versuch aufzuzeigen, wie „in vielen Filmwerken der Zwanziger Jahre das Bürgerliche einer systematischen Dekonstruktion unterzogen wurde,” welche bezweckte, „die bürgerliche Gesellschaft mit ihrem traditionellen Kulturbegriff zu hinterfragen” (S. 20). Diese kühne These wird in einer Nachbemerkung allerdings zum Teil wieder zurückgenommen bzw. eingeschränkt: „Aufklärerische Ziele verfolgte der Stummfilm der Weimarer Ära eher sekundär”. (S. 321)

Fünf Hauptkapitel, minutiös in Unterkapitel aufgeteilt, behandeln unterschiedlichste Themen- und Motivkomplexe. Zum Teil sind dies bekannte und gängige Aspekte wie die „Großstadt und ihre Psychopathologie” (S. 23), die anhand von Filmen von Joe May („Asphalt“, 1929) und Georg Wilhelm Pabst („Die freudlose Gasse“, 1925; „Geheimnisse einer Seele“, 1926) diskutiert werden. Auch die „Darstellung der männlichen Homosexualität” (S. 71) im Film der Weimarer Republik spricht eine inzwischen weitgehend durchreflektierte Thematik an, aufgezeigt an Richard Oswalds „Anders als die Andern“ (1919) und Filmen von Friedrich Wilhelm Murnau („Nosferatu“, 1922; „Der letzte Mann“, 1924), denen Ernst Lubitschs Geschlechtersatire „Ich möchte kein Mann sein“ (1918) auf erfrischende Weise als Kontrastfolie gegenübergestellt wird (bereits im Sommer 1918 produziert, also streng genommen kein Film der Weimarer Republik). Auch der Themenkomplex „Verbrechen und Verbrecher” (S. 171), zentriert um Filme wie Paul Lenis und Leo Birinskis „Das Wachsfigurenkabinett“ (1924), Karlheinz Martins „Von morgens bis mitternachts“ (1920), sowie Werke von Fritz Lang und F. W. Murnau, behandelt eine vertraute Thematik, angereichert immerhin durch eine Analyse von Rolf Randolfs weniger bekanntem Krimi-Drama „Der Bettler vom Kölner Dom“ (1927).

Von besonderem Interesse sind zwei Teile, die weniger gängige Themen ansprechen bzw. teils neue Sichtweisen einbringen. „Kindergestalten und Kinderschicksale” (S. 117), die in den unterschiedlichsten Filmen vorkommen, werden im dritten Kapitel als eine Art Barometer deutscher Befindlichkeiten der Nachkriegszeit gelesen. Hier reicht das Spektrum von Walther Ruttmanns „Berlin, die Sinfonie der Großstadt“ (1927) über Fritz Langs „Die Nibelungen“ (1924) und F. W. Murnaus „Faust“ (1926) zu Gerhard Lamprechts „Die Unehelichen. Eine Kindertragödie“ (1926) und G. W. Pabsts „Tagebuch einer Verlorenen“ (1929). Das letzte Kapitel bringt die „Gestalt des Doppelgängers” (S. 263) auf äußerst anregende Weise in Verbindung mit der oftmals jüdischen Identität vieler Filmemacher der Weimarer Republik, illustriert an den beiden Versionen von „Der Student von Prag“ (Stellan Rye, 1913; Henrik Galeen, 1926) und Langs „Metropolis“ (1927). Das Ganze kulminiert in einer provokativ-faszinierenden, feministisch-psychoanalytischen Deutung von Robert Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920) als „Dekonstruktion der bürgerlich ‚anständigen’ Fassade der Phallokratie” (S. 318).

Wie die hier aufgeführten Titel anzeigen, liegt der Schwerpunkt zumeist auf kanonischen Stummfilmen der Weimarer Republik, doch ist lobend hervorzuheben, dass die Verfasserin immer wieder Bezüge zu weniger bekannten Filmen der Epoche herstellt – das Filmregister im Anhang der Arbeit (S. 331–332) verzeichnet rund 80 Titel. Der gewählte Ansatz ist deutlich literaturwissenschaftlicher (sprich: germanistischer) Provenienz. So liegt denn die Stärke des Buches vor allem in den detaillierten inhaltlichen Vergleichen zwischen den gewählten Filmen und deren literarischen Textvorlagen: Pabsts „Freudlose Gasse“ (Hugo Bettauer); „Tagebuch einer Verlorenen“ (Margarethe Böhme); „Phantom“ (Gerhart Hauptmann); Martins „Von morgens bis mitternachts“ (Georg Kaiser); Langs „Dr. Mabuse“ (Norbert Jacques) und „Metropolis“ (Thea von Harbou); Murnaus „Schloß Vogelöd“ (Rudolf Stratz); Wienes „Caligari“ (das wiederentdeckte Originaldrehbuch von Carl Mayer und Hans Janowitz). Weniger hingegen ist zu lesen über genuin filmische Aspekte, das heißt über die visuellen Mittel, mit denen die Filme ihre Zuschauer ansprechen und ihre hier konstatierte kritische Komponente erzielen (wie Einstellungskomposition, Lichtsetzung, Kameraführung, Schnitt, Montage, sowie – selbst bei Stummfilmen! – die Rolle der oftmals eigens in Auftrag gegebenen Musikuntermalung). Bedauerlicherweise geht die Arbeit so gut wie nie auf Sekundärliteratur neueren Datums ein, welche die Lesarten hätten anreichern können; es überwiegen zeitgenössische Quellen, sowie die „Klassiker” Siegfried Kracauer und Lotte Eisner. Auch überrascht, dass dezidiert feministische Vorarbeiten zum deutschen Stummfilm (Heide Schlüpmann, Gertrud Koch, Ursula von Keitz) nicht einbezogen werden.

Gelegentlich macht sich eine Tendenz zur übertreibenden, potentiell missverständlichen Thesenbildung bemerkbar: „Der Film war in der Weimarer Republik eine Domäne der künstlerischen Avantgarde und der im marxistischen Sinne des Wortes „anti-bürgerlich“ gesinnten Künstler und Schriftsteller”, ist zu lesen (S. 20), und Bertolt Brecht wird als (einziger!) Kronzeuge angeführt. Aber die meisten der oben genannten Filmschaffenden lassen sich nur schwerlich als linke Avantgardisten klassifizieren, ganz zu schweigen von der Vielzahl von Filmemachern, die einen schier unersättlichen Markt mit Genrefilmen belieferten. Ein paar Seiten davor wurde indes behauptet, „Mit dem Geld, das die Filmindustrie der Weimarer Republik erwirtschaftet, wird ohne Skrupel die Propaganda gegen die junge Demokratie mitfinanziert, da sowohl die Universum Film AG (Ufa) als auch die Hälfte der deutschen Presse ein und demselben Medienkonzern gehören, der vom Medienzar Alfred Hugenberg kontrolliert wird” (S. 15).

Der deutsch-national gesinnte Hugenberg übernahm die Kontrolle der Ufa – zwar die größte, aber eben nur eine von dutzenden, wenn nicht gar hunderten von deutschen Filmfirmen – erst 1927, so dass von einer direkten rechts-gerichteten Einflussnahme auf den deutschen Film erst in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik die Rede sein kann, und auch dann nur in sehr begrenztem Rahmen. Von größerer Bedeutung für die politischen Grenzen des Weimarer Kinos ist wohl eine indirekte (Selbst-)Zensur innerhalb einer Industrie, die es sich angesichts der hohen Produktionskosten nicht leisten konnte, einen Großteil ihres anvisierten Publikums und die offiziellen Zensurbehörden durch allzu deutliche Tendenznahme zu brüskieren.

Die Arbeit ist in souveränem Ton gut lesbar geschrieben, wohltuend frei von Druck- und sonstigen Fehlern sowie störendem Fachjargon. Auch beeindruckt die Fähigkeit der Verfasserin, vielfältige Bezüge zwischen den untersuchten Filmen herzustellen. Gleichwohl wirft der methodische Ausgangspunkt eine Reihe von Fragen auf. Unklar bleibt, ob sich die hier behandelten durchaus disparaten Themen letztlich überhaupt unter eine so diffuse Kategorie wie die des „Bürgerlichen” subsumieren lassen – in gewisser Weise stellen die fünf Kapitel der Arbeit potentiell unabhängige Untersuchungen dar, die separat hätten veröffentlicht werden können. Auch überrascht, dass die Verfasserin keinen Versuch unternimmt, den Begriff des „Bürgerlichen” im Hinblick auf konkrete Aspekte der Kultur der Weimarer Republik inhaltlich näher aufzufüllen anhand von einschlägig bekannten Theoriemodellen, wie zum Beispiel die Überlegungen zum Zusammenbruch von Geschlechternormen (Klaus Theweleit), zur Krise der klassischen Moderne (Detlev Peukert), zur Erkaltung zwischenmenschlicher Umgangsformen (Helmut Lethen), zum Zusammenbruch imperialer Ambitionen (Wolfgang Schivelbusch), oder zu den Nachwirkungen des Kriegstraumas (Anton Kaes). Was genau war an der Krise des „Bürgerlichen” in der Kultur der Weimarer Republik spezifisch deutsch? Was hatte mit deutschen Nachkriegs-Befindlichkeiten zu tun?

Zudem stellt sich beim Begriff der „Dekonstruktion” stillschweigend die Frage der Intentionalität: Haben die hier aufgeführten Filmemacher sich bewusst das Ziel gesetzt, ihre Zuschauer auf die Fragwürdigkeit des „Bürgerlichen” aufmerksam zu machen? Oder ist die in den gewählten Filmen aufscheinende Kritik an gesellschaftlichen Strukturen nicht eher ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt bzw. ein unbewusst auftauchender Subtext? So schwankt die Studie denn auch wiederholt zwischen der Konstatierung von kritischen Tendenzen in den untersuchten Filmen und der Beobachtung von letztlich die bürgerliche Ordnung bestätigenden Momenten. Das Hauptverdienst der Arbeit liegt in den klugen Einzelanalysen vieler Filme. Ob die hier konstatierten kritischen Inhalte von Filmen der Weimarer Epoche tatsächlich auf eine „stumme Botschaft” hinauslaufen, die „uns heute wie eine Flaschenpost” erreicht (S. 322), muss jede/r Leser/in für sich selbst entscheiden.

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