Cover
Titel
Das Ende des Holocaust.


Autor(en)
Rosenfeld, Alvin H.
Erschienen
Göttingen 2015: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
273 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Jureit, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur

Die Künstlerin Judy Chicago schuf um 1990 eine Kunstinstallation mit dem Titel „Holocaust Project“.1 Die bekennende Feministin setzte sich intensiv mit der – wie sie es nannte – „Holocaust-Erfahrung“ auseinander, die sie sich auch emotional aneignen wollte. Während eines Besuchs der KZ-Gedenkstätte Natzweiler / Struthof ließ sich Chicago liegend auf einer Eisenschaufel fotografieren, mit der während der NS-Herrschaft die Leichen der Häftlinge in die Krematoriumsöfen befördert worden waren. Sie erklärte anschließend, ihr sei während der Aufnahmen klar geworden, dass dies mit ihr, hätte sie damals in Europa gelebt, wahrscheinlich ebenfalls geschehen wäre. Durch ihre kritische Auseinandersetzung mit den Schriften Elie Wiesels sei ihr darüber hinaus bewusst geworden, dass der Holocaust eine „Opfererfahrung“ unter vielen sei, deren Ursache in der Ungerechtigkeit des globalen Patriachats liege. Solche Inanspruchnahmen des nationalsozialistischen Massenmordes an den europäischen Juden für andere Unrechtserfahrungen lassen sich noch an zahlreichen weiteren Beispielen aufzeigen und illustrieren. In dem Roman „The Feminine Mystique“ fragte die Autorin Betty Friedan in ihren Betrachtungen des Alltags amerikanischer Hausfrauen schon 1963 herausfordernd, ob es sich bei ihrem auf Identitätszerstörung zielenden Dasein nicht im Grunde um eine komfortable KZ-Haft handele. Evangelikale Prediger inszenieren sich als Opfer des liberalen Amerikas und setzen ihre Situation ungeniert gleich mit der Verfolgung der Juden während des „Dritten Reiches“. Nach Auffassung militanter Tierschützer findet in den weltweiten Versuchsstationen und in der Massentierhaltung tagtäglich ein „Animal Holocaust“ statt, den es durch – notfalls auch gewaltsame – Befreiungsaktionen zu stoppen gelte. Und radikale Abtreibungsgegner erklären mit Wortschöpfungen wie „Abortion Holocaust“ oder „Embryocaust“ jegliche Form des Schwangerschaftsabbruches zum ungesühnten Massenverbrechen.

Es sind diese und viele andere Kontexte, die Alvin H. Rosenfeld – Direktor des Zentrums für jüdische Studien an der University of Indiana – in seinem 2011 auf Englisch publizierten und nun auf Deutsch erschienenen Buch „The End of the Holocaust“ beschreibt, um seine zentrale These empirisch zu veranschaulichen: Das Erzählen vom Holocaust verändere sich grundlegend, insbesondere in Nordamerika, und tendiere immer stärker nicht nur in der populären Massenkultur, sondern auch innerhalb der akademischen Forschung zur Trivialisierung, Kommerzialisierung und Banalisierung des historischen Geschehens. Wenn diese Entwicklung anhalte (wie zu erwarten sei), dann „kann man sich eine Zeit vorstellen, in der die Erinnerung an die jüdische Katastrophe unter Hitler auf den Status einer grausigen Horrorshow oder eines modernen Passionsspiels reduziert wird“ (S. 17). Diese von Rosenfeld anhand unzähliger Beispiele dargelegten Veränderungen in der Darstellung und Vermittlung des nationalsozialistischen Massenmordes führten – so der Autor – zum „Ende des Holocaust“. Gemeint ist damit, dass die Geschichte des Holocaust jenseits der „lautlos erodierenden und verändernden Wirkungen der Zeit“ (Jean Améry), die Rosenfeld als „natürlich“ und „unvermeidlich“ ansieht, zunehmend verzerrt, manipuliert und verfälscht werde. Der „Missbrauch dieser Vergangenheit für unzweifelhaft böse Ziele“ sei der besonders beunruhigende Kern des angeprangerten Wandlungsprozesses (S. 244).

Das Buch umfasst neun Kapitel und wird gerahmt von einer in die Argumentation des Textes einführenden Einleitung wie auch von einem ebenso prägnanten Epilog über einen zu erwartenden „Zweiten Holocaust“, der nach Rosenfeld auf die Vernichtung Israels zielen wird. Ausgehend von dem in Forschung und Medien ja mittlerweile ausführlich kritisierten und analysierten Besuch Ronald Reagans in Bitburg 1985 verdeutlicht Rosenfeld die politische Instrumentalisierung des Holocaust, seine Inanspruchnahme für vor allem antiisraelische und antijüdische Kampagnen wie auch den „Diebstahl des Holocaust“ (S. 43) zur Anerkennung und Gleichsetzung anderer Opfererfahrungen. Hier knüpft der Autor – wenn auch eher oberflächlich – an die Thesen von Daniel Levy und Natan Sznaider an, die angesichts fortschreitender Globalisierung den Holocaust als einen universellen „Behälter für die Erinnerung an Myriaden von Opfern“ bezeichnen und damit einen Universalisierungsprozess in den Blick nehmen, den sie als zumindest ambivalent bewerten.2 Die von zahlreichen anderen Autoren bereits analysierte „Amerikanisierung des Holocaust“ spielt in Rosenfelds Buch eine ebenso zentrale Rolle wie auch die weltweit rasante Zunahme opferzentrierter Rhetoriken.

Exemplarisch und durchaus interessant konkretisiert der Autor diese Entwicklung unter anderem anhand der wohl bekanntesten Tagebücher aus der NS-Zeit, nämlich denen von Anne Frank. Während die Rezeptionsgeschichte einerseits deutlich zeigt, wie Anne Frank durch die Übersetzungen ihrer Aufzeichnungen, durch die Verarbeitungen ihrer Geschichte in Form von Theaterstücken, Filmen und Ausstellungsprojekten nicht nur verkitscht, sondern auch zu einer Figur der Hoffnung auf eine irgendwie bessere Welt stilisiert wurde und wird, verweist Rosenfeld eindrucksvoll auf die konkrete Inanspruchnahme Anne Franks für jeweils aktuelle politische Anliegen. So setzte das 1992/93 während der Belagerung Sarajewos verfasste und alsbald weltweit beachtete Tagebuch der 1980 geborenen Zlata Filipović bewusst auf die enorme Öffentlichkeitswirksamkeit, die sich mit den arrangierten Parallelen zu Anne Franks Geschichte während ihrer Zeit im Amsterdamer Versteck herstellen ließ („Anne Frank von Sarajevo“). Der grauenhafte Tod Anne Franks in Bergen-Belsen geriet in dieser Inszenierung unterschiedlicher Opfernarrative ebenso aus dem Blick wie bei der geschmacklosen Vermarktungsstrategie eines niederländischen Unternehmens, das seine Designer-T-Shirts mit einer Kufiyah-Kopftuch tragenden Anne Frank meinte schmücken zu müssen.

Rosenfeld gelingt es, an zahllosen Beispielen einen globalen Popularisierungs- und Trivialisierungsprozess aufzuzeigen, der es durchaus fragwürdig erscheinen lässt, ob die vor allem seit den 1980er-Jahren ausgreifende Thematisierung des Holocaust tatsächlich zu einem tieferen Verständnis des historischen Geschehens beigetragen hat. Rosenfeld bezieht sich hier vor allem auf die Veröffentlichungen von Holocaust-Überlebenden wie Jean Améry, Primo Levi, Elie Wiesel und Imre Kertész, denen er sich – im Falle von Primo Levi auch persönlich – stark verbunden fühlt. Der zweite Teil des Buches widmet sich daher ausführlich den von den genannten Autoren verfassten literarischen Schriften, die in der Argumentation Rosenfelds alsbald zum entscheidenden Bezugspunkt werden, wenn es Maß und Intensität der angeprangerten Verfälschungs- und Manipulationsvorgänge zu benennen gilt. Dabei gerinnen ihm die Erzählungen der Überlebenden im Laufe des Buches zu unumstößlichen „tiefsten Wahrheiten“ (S. 153), neben denen nahezu alle anderen, populären wie wissenschaftlichen Narrative über den Holocaust als mehr oder weniger gravierende „Verfälschungen“ erscheinen. Der Text kennt kaum analytische Kriterien einer differenzierten Betrachtung: Manipulative und propagandistische Verwendungen des Holocaust werden ebenso scharf verurteilt wie die zunehmende öffentliche Beschäftigung mit so genannten „Lebensrettern“ oder die mittlerweile hochproduktive vergleichende Genozidforschung.

Rosenfelds Zorn steigert sich noch in den Passagen, in denen es um den israelisch-palästinensischen Konflikt geht. Seine pauschale Behauptung, „in großen Teilen der muslimischen Welt“ (S. 16) werde der Holocaust entweder völlig geleugnet oder aber durch radikale Entstellungen und mit klarer Vernichtungsabsicht gegen den Staat Israel gewendet, offenbart eine argumentative Schwäche des Buches, die vor allem in ihrer unreflektierten Normativität liegt. Hier empört sich jemand, der sich als Stellvertreter der mittlerweile größtenteils verstorbenen Holocaust-Überlebenden berechtigt fühlt, populäre wie wissenschaftliche Wahrnehmungen, Darstellungen und Deutungen des Holocaust als „wahr“ oder „falsch“ zu klassifizieren. Analytisch ist das ziemlich unergiebig, ginge es doch viel eher darum, Kriterien auszuloten, wie sich unvermeidliche Historisierungsprozesse, notwendige Popularisierungstendenzen, latente Verfälschungsabsichten und vorsätzliche Manipulationsinteressen sinnvoll voneinander unterscheiden lassen. Rosenfelds Argumentation mündet aber in einen Rundumschlag gegen nahezu jede Deutungs- und Historisierungsanstrengung, womit er dem eigentlichen Ziel seines Buches, nämlich das Ausmaß der schier unerträglichen Banalisierung und Trivialisierung des Holocaust aufzuzeigen, mehr schadet als nützt.

Anmerkungen:
1 <http://www.judychicago.com/gallery.php?name=Holocaust+Project+Gallery> (26.08.2015).
2 Siehe v.a. Daniel Levy / Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001.