G. Krüger u.a. (Hrsg.): Tiere und Geschichte

Cover
Titel
Tiere und Geschichte. Konturen einer "Animate History"


Herausgeber
Krüger, Gesine; Aline Steinbrecher; Clemens Wischermann
Erschienen
Stuttgart 2014: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
307 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Veronika Settele, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Es tut sich etwas in der deutschsprachigen Tiergeschichte: Wurden 2010 fehlende methodische Standards beklagt1 und 2012 die empirische Arbeit zu den „realen“ Tieren in der Geschichte als Herausforderung identifiziert, ist die „allmähliche Erschließung eines verhältnismäßig unbestellten Forschungsfeldes“2 inzwischen weiter gediehen, wie der von Gesine Krüger, Aline Steinbrecher und Clemens Wischermann herausgegebene Sammelband „Tiere und Geschichte“ zeigt. Entlang der Frage, was es für die Geschichtswissenschaft bedeutet, wenn Tiere als historische Akteure ernst genommen werden, werden die Konturen einer von Tieren belebten und bewegten Geschichte – Animate History – abgesteckt. Das Buchprojekt will das spezifische Potential der Geschichtswissenschaft für die Human-Animal-Studies erschließen. Denn was ein Tier eigentlich ist, ist ontologisch und biologisch kaum zu beantworten, weshalb die historische Perspektive, die Auskunft darüber gibt, was ein konkretes Tier an einem konkreten Ort zu einer bestimmten Zeit gewesen ist, dazu beitragen kann, das Abstraktum Tier mit (vergangenem) Inhalt zu füllen.

Die Kapitelstruktur verdeutlicht den konsequenten Anspruch: Nach einer programmatischen Einleitung (24 S.) klopfen elf Beiträge die Kategorien der Geschichtswissenschaft auf ihre empirischen und methodischen Chancen für eine Operationalisierung der bisher vor allem theoretisch fortgeschrittenen Tiergeschichte ab. Das Inhaltsverzeichnis liest sich wie eine Checkliste der pluralisierten Geschichtswissenschaft: Von der Geschlechter-, Sozial-, Politik-, Wirtschafts-, Emotions-, Medien-, und Wissenschaftsgeschichte hin zur Visual, Spatial und Postcolonial History sind die Teilgebiete präsent. Um die tierlichen Leerstellen in der Geschichte zu füllen, werden Tiere in stark unterschiedlichem Maße als Handelnde konzipiert. Agency ist dabei die zentrale Kategorie der durch die Handlungsmacht der Tiere bewegten Geschichte und gleichzeitig der Kern des „Neuen“ an einer Tiergeschichte, die über frühere Arbeiten zu menschlichen Einstellungen zu den Tieren hinausgeht. Der Begriff verweist auf theoretische Anleihen, bei denen in begriffsgeschichtlicher und diskursanalytischer Hinsicht Michel Foucault und Giorgio Agamben Pate stehen und auf der Ebene der interaktionistischen Analyse Donna Haraway und Bruno Latour. Eine breite und bemerkenswert einheitliche theoretische Fundierung vermag jedoch nur bedingt dem spezifischen Quellenproblem der Tiergeschichte gerecht zu werden. Denn obwohl sich Spuren von Tieren in „nahezu allen Archiven“ finden (S. 26), hinterlassen sie keine selbstverfassten Aufzeichnungen und sind damit auf noch grundsätzlichere Weise als in der Geschichte unterrepräsentierte menschliche Gruppen aus dem schriftlichen Diskurs ausgeschlossen. Diesem Problem begegnen die Beiträge, indem sie der
klassischen Quellenkritik soziologische, ethologische und praxeologische Methoden an die Seite stellen. Über Raum, Körper und Beziehung konstituieren sich die Anschlussfähigkeiten im Fach, wie die durchweg von Expertinnen und Experten „ihrer“ historischen Subdisziplin verfassten Beiträge zeigen.

Aline Steinbrecher verortet im Kapitel „Tiere und Raum“ Hunde in der vormodernen Stadt. Der Zugriff über den Raum ist attraktiv, weil damit Tiere allein durch ihre Anwesenheit zu sozialen Akteuren werden. Körperliches Spacing von menschlichen wie tierlichen Individuen und Gruppen konstituiert den umkämpften materiellen Raum, wie beispielsweise ein nächtliches Ausgehverbot für alle Hunderassen, erlassen vom Frankfurter Rat 1618, zeigt.

Die Emotionsgeschichte festigt den Platz der Tiere in der Arena menschlicher Kultur weiter, da sowohl Tiere als auch Gefühle historisch kontingent sind. Die genealogische Dekonstruktion von Tieren entgegengebrachten und ihnen zugeschrieben Gefühlen trägt deshalb zur De-Essentialisierung der Tiere selbst bei, so Pascal Eitler im Kapitel „Tiere und Gefühle“. Auch mit Blick auf tierliche Agency ist dieser Zugang wertvoll, weil die historischen Wirkungsmöglichkeiten von Tieren wesentlich von deren Emotionalisierung abhängen. Die methodische Chance der Gefühlsgeschichte liegt in der Verknüpfung von Repräsentation und Performativität, da Tiere zwar keine Selbstzeugnisse hinterlassen haben, doch dies ebenfalls zahlreiche Menschen betrifft.

Mieke Roscher hält es in „Tiere und Politik“ ebenfalls für aussichtsreich, die Ebenen der körperlich-räumlichen Präsenz und der diskursiven Produktion des Tiers im Sinne eines um symbolische Praktiken, Semantiken und Rituale erweiterten Politikbegriffs zu verknüpfen. Tiere werden als der Herrschaft unterworfene Lebewesen vorgestellt, an denen politische Ordnung sowohl vollzogen als auch von ihnen getragen wird. Die fachliche Anschlussfähigkeit sieht Roscher hingegen bei der Umweltgeschichte, die Tiere als politische Verhandlungsmasse fasst und naturwissenschaftliche und historische Methoden kombiniert. Auf diese Weise zeigen Kühe als fourth player im kolonialen Indien wie auch der Walfang und Antiwalfangdiskurs, dass sich Tiere vor allem im Konflikt, um zum Beispiel Fischbestände und Futterversorgung, als politische Akteure manifestieren.

Die konkrete Beziehung zwischen Mensch und Tier als Stellschraube, um die Bedeutung der Tiere in der Geschichte zu erschließen, machen Clemens Wischermann und Mitchell G. Ash stark. Ist es in „Tiere und Gesellschaft“ (Wischermann) der Umgang mit dem Tod eines geliebten Haustieres, der die enge Verknüpfung der Geschichte von Menschen und Tieren zeigt, so historisiert Ash in „Tiere und Wissenschaft“ akademisches Wissen unter Einbeziehung der Tiere, und zwar mit dem Ergebnis, dass selbst Versuchs- und Labortiere nicht nur als Forschungsobjekte, sondern auch als historische Subjekte agierten, deren Verhalten darauf Einfluss nahm, wie „Wissen“ hergestellt wird.

Auch Carola Sachse plädiert dafür, die Beziehungen, die allerdings auf menschlicher wie tierlicher Seite durch die Hierarchisierung von Männern und Frauen und Männchen und Weibchen doppelt geschlechtercodiert sind, in den Blick zu nehmen. Im Kapitel „Tiere und Geschlecht“ wundert sich Sachse zu Recht, dass die Geschlechtlichkeit der Tiere bisher ausgeblendet wurde, obwohl sich die meisten Tiere geschlechtlich fortpflanzen, einen mehr oder weniger ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus aufweisen, die Geschlechtlichkeit von Nutztieren deren wirtschaftliche Relevanz bestimmt und die Ausblendung der Geschlechtlichkeit von Tieren jenen Mensch-Tier-Dualismus verstärkt, „der durch seine Analogisierung mit der als Herrschaftsstruktur entlarvten Geschlechterbinarität gerade kritisierbar gemacht werden sollte“ (S. 82).

Gesine Krügers Beitrag „Tiere und Imperium. Animate History postkolonial: Rinder, Pferde und ein kannibalischer Hund“ begeistert in zweifacher Weise. Zum einen rekonstruiert er im Rahmen kolonialer Prozesse plausibel tierliche Agency, ein in der Einleitung gestecktes Ziel, hinter dem andere Beiträge zurückbleiben. Zum anderen rückt gerade die imperiale Eroberung den globalen Süden in den Blick, der nach wie vor als blinder Fleck der Human-Animal-Studies zu gelten hat. Obwohl es ohne Tiere keine kolonialen Eroberungen gegeben hätte – die siebzehn Schiffe von Columbus’ erster Reise 1493 hatten zwanzig Hengste, fünf Stuten, Rinder, Schafe, Ziegen, Schweine, Hühner und daneben Ratten und Mäuse an Bord – spielen sie bislang kaum eine Rolle in Imperialismus-Theorien (S. 127). Speziell Rinder jedoch gingen dem kolonialen Eroberungsprozess vielfach wörtlich voran, indem sie die indigene Bevölkerung vor die Entscheidung Flucht oder Abwehr stellten – ein Paradebeispiel tierlicher embodied agency.

Stefan Zahlmanns Beitrag „Tiere und Medien“ ist ein argumentativer Ausreißer. Entgegen der Stoßrichtung des Bandes macht er deutlich, dass Medien den Tieren gerade keinen eigenen Akteursstatus verleihen, sondern die Menschen als Handelnde stärken und menschliche Hegemonie bestätigen.

Theoretisch überzeugend, empirisch aber dahinter zurückbleibend weist Heinrich Lang auf das Desiderat einer Wirtschaftsgeschichte hin, die Tiere nicht länger ausschließlich als Ware, sondern auch als Akteure fasst. Da Märkte sich über die auf ihnen gehandelten Güter definieren, werden die Tiere so trotz mangelnder Freiwilligkeit und empfindlich eingeschränkter Handlungsmacht als Marktakteure rehabilitiert (S. 257). Praxeologische Analysen des dynamischen Interagierens zwischen lebendigen Gütern und Händlern und tierlichen Konsumgütern und der Konsumgesellschaft stehen allerdings noch aus.

Ebenfalls fehlt – so Boris Barth in „Tiere und Rasse“ – eine systematische Untersuchung, in welcher Weise der wissenschaftliche Zuchtgedanke der Tierzucht im 19. Jahrhundert den Sozialdarwinismus beeinflusst hat. Trotz naheliegender Querverbindungen zwischen Tierzucht und Eugenik wurde bisher noch keine Geschichte tierlicher und menschlicher Verflechtung experimentellen wie ideellen eugenischen Wissens geschrieben. Dass es auch hier nicht an mangelnden Quellen liegen kann, zeigen beispielsweise Kampagnen in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts (S. 215), die eine von der Tierzucht inspirierte eugenische Bevölkerungspolitik institutionalisieren wollten.

Drei Widersprüche innerhalb des Bandes weisen durchaus produktiv auf zentrale Fragen der sich formierenden Tiergeschichte hin: Erstens wird der Ambivalenz, die dem modernen westlichen Mensch-Tier-Verhältnis zwischen industrieller Tierproduktion und selektiver Emotionalisierung von Haustieren häufig zugeschrieben wird, unterschiedlich begegnet. Während etwa Clemens Wischermann Erklärungsansätze für das dialektische Verhältnis vorstellt, lehnt Pascal Eitler die „vermeintlich allumfassende Dialektik“ ab und plädiert stattdessen für eine Historisierung subtilerer speziesüberschreitender Machtverhältnisse. Zweitens ist der Umgang mit Bildern als Quellen frühneuzeitlicher Tiergeschichte komplex: Mark Hengerer betont im Kapitel „Tiere und Bilder“, dass es selten um die „Richtigkeit“ der Darstellung ging, weshalb zunächst der Grad von Symbolizität der gemalten Tiere der Frühen Neuzeit kunsthistorisch zu klären ist, bevor eine Argumentation mit Bildquellen überzeugen kann. Aline Steinbrecher hingegen plädiert dafür, „Hunde in Kircheninnenräumen weniger ikonographisch zu lesen, sondern die Omnipräsenz der Vierbeiner lebensweltlich zu deuten“ (S. 232), da die Hunde auch in zahlreichen schriftlichen Quellen beschrieben sind. Die historische Variabilität der Mensch-Tier-Verhältnisse wird drittens anhand des Essverbots, nach Donna Haraway der Demarkationslinie zwischen „companion animals“ und anderen Tieren, greifbar. Während dieser Ansatz für moderne Haustiere funktioniert (S. 112), war die Rolle von Hunden als Speise, Forschungsobjekt und „companion animal“ auf den Schiffen frühneuzeitlicher Forschungsreisen widersprüchlich (S. 152).

Insgesamt ist der Band eine Bestandsaufnahme des sich im deutschsprachigen Raum formierenden Forschungsfelds Tiergeschichte. Jene Aufsätze, die zusätzlich zu theoretischen Überlegungen und tierlichen Desideraten eine empirische Umsetzung skizzieren und inhaltliche Beispiele dieser neuen – weil belebten – Tiergeschichte liefern, sind am wertvollsten. Tatsächlich leistet der Band dank kohärenter Konzeption weit mehr als viele Sammelbände; seine spezifisch historische Perspektive macht ihn zu einem klaren Gewinn für das Fach. Den Untertitel trägt er zu Recht, die Konturen einer Tiergeschichte der Neuzeit sind nun abgesteckt. Noch allerdings steht weitgehend aus, diese mit empirischem Material zu füllen und die konkrete Benennung vielversprechender Projekte in sämtlichen Verzweigungen der aktuellen Geschichtswissenschaft ist die eigentliche Leistung des Bandes. So wünscht man dem Buch viele Historikerinnen und Historiker, die sich aus dem reichhaltigen Fundus der skizzierten Forschungsagenden bedienen mögen.

Anmerkungen:
1 Rainer Pöppinghege: Rezension zu: Brantz, Dorothee; Christof Mauch (Hrsg.): Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne. Paderborn 2009, in: H-Soz-Kult, 01.7.2010, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-14711> (05.08.2015).
2 Pascal Eitler: Rezension zu: Bourke, Joanna: What It Means to Be Human. Historical Reflections from 1791 to the Pre-sent. Berkeley 2011 / Chimaira - Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hrsg.): Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen. Bielefeld 2011 / Verein für kritische Geschichtsschreibung e.V. (Hrsg.): tiere. Essen 2011, in: H-Soz-Kult, 11.9.2012, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-17724> (05.08.2015).

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